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KUNST
Aus Nr. 12 - 2005

De Chirico und der heilige Franz


Der große Maler hatte eine besondere Vorliebe für den Heiligen aus Assisi. Seit 1992 ruht seine sterbliche Hülle in der Kirche San Francesco a Ripa, dem römischen Franziskaner-Heiligtum, in dem nun die sakralen Themen gewidmeten Werke dieses Künstlers ausgestellt wurden.


von Lorenzo Cappelletti


Oben, Geburt Jesu, Detail, Giorgio de Chirico, 1945-1946, Vatikanische Museen.

Oben, Geburt Jesu, Detail, Giorgio de Chirico, 1945-1946, Vatikanische Museen.

Uns bleibt nur diese letzte Nummer des Jahres 2005 unserer Zeitschrift 30Tage, um über die Ausstellung „La passione secondo de Chirico“ zu berichten. Eine Ausstellung, die im vergangenen Jahr zuerst in Rom, in der Kirche San Francesco a Ripa, dann in Neapel, in der Kirche Santa Chiara, abgehalten wurde – im 19. Jahrhundert enteignete Kirchen, die heute dem Kultgebäudefonds des Innenministeriums anvertraut sind, unter dessen Schirmherrschaft die Ausstellung stand. Die Ausstellung, die im Juni ausklang, können wir nun nur noch anhand des Katalogs nachvollziehen. Der jedoch mehr als einen Blick wert ist. Und das schon allein aus dem Grund, weil uns hier die sakralen Themen gewidmeten Werke des großen Malers nahegebracht werden, die normalerweise von seinen bekannteren, sogenannten metaphysischen oder surrealen Werken überschattet sind. Wie beispielsweise das auf dem Titelbild des Katalogs abgebildete, bis dato so gut wie unbekannte Gemälde, auf dem der Aufstieg Jesu nach Golgota dargestellt ist. Und schließlich bietet sich uns hier auch die willkommene Gelegenheit, über die Kirche San Francesco a Ripa zu sprechen, die vor hundert Jahren von Pius X. zur Pfarrei erhoben wurde.
Um es gleich zu sagen: San Francesco a Ripa ist nicht irgendeine Kirche. Sie ist das Heiligtum der Franziskaner in Rom. Sie ist in der Tat – und das wissen nicht viele – nach der Basilika von Assisi die erste Kirche, die nach dem hl. Franz benannt wurde. Hier hatte der Heilige, der 1210 aus Assisi nach Rom gekommen war, gewohnt und hier hatte sich eine kleine Gemeinschaft von Mönchen niedergelassen. Das Gebäude war damals ein einfaches Hospiz mit einer kleinen, angrenzenden Kirche (der Benediktiner von San Cosimato: die Beziehung zwischen Benedikt und Franz von Assisi ist nach wie vor eine Konstante), wo man Kranke und Pilger unterbrachte, die am nahegelegenen Hafen Ripa Grande angekommen waren. Die 1229 den Franziskanern überlassene Kirche konnte dank der Familie Anguillara umgebaut und dem Pater Seraficus geweiht werden. Noch heute kann man von der Sakristei aus die ärmliche Unterkunft des hl. Franz besichtigen, in der im 17. Jahrhundert noch ein anderer großer Franziskaner und Heiliger, Carlo von Sezze, logieren sollte. Hier finden wir auch eine der ältesten Darstellungen des hl. Franz – nur eines der wunderschönen Kunstwerke, die diese Kirche zu bieten hat. Wie die imposante, von Bernini geschaffene Statue der sel. Ludovica Albertoni, Mitpatronin von Rom – was ebenfalls nicht viele wissen –, die sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts für die Ärmsten der Armen einsetzte. Und deren sterbliche Hülle nur die einer der vielen Heiligen ist, die in dieser Kirche ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Hier liegt auch der Franziskaner Giuseppe Spoletini begraben, der, als er 1951 starb, im Ruf der Heiligkeit stand und – ebenso wie Don Orione, Pater Cappello, Don Umberto Terenzi und andere weniger Bekannte – einer jener heiligen Priester war, in deren Beichtstühlen man in den Jahrzehnten vor und nach dem letzten Krieg (wenn man ihn so nennen will) ein „besserer Mensch“ wurde.
Warum wurde die De-Chirico-Ausstellung gerade in dieser römischen Kirche abgehalten?
Weil hier seit 1992 auch die sterbliche Hülle von Giorgio de Chirico ruht. Genau gesagt in dem gleich neben der Kapelle der Immakulata und mit dieser verbundenen Raum. Dank dem Zugeständnis des Ministeriums (dessen Büros in der ehemaligen Krankenstation der Franziskaner untergebracht sind) und der 1987 gegebenen Genehmigung des damaligen Kardinalvikars Ugo Poletti hatte er nämlich das Privileg erhalten, hier beigesetzt zu werden.
Giorgio de Chirico, der sich 1948 in Rom niedergelassen hatte, an der Piazza di Spagna (heute ein Museum), wo er im schicksalträchtigen Jahr 1978 starb, hatte eine besondere Vorliebe für den Heiligen aus Assisi. 1952 hatte er in Assisi Isabella Pakswer (mit Künstlernamen Isabella Far) geheiratet, und in Assisi hatte er Anfang der Fünfzigerjahre auch Don Giovanni Rossi und die Pro civitate kennengelernt, die damals einen entscheidenden Einfluß auf den Dialog mit der Welt der Kultur hatte. Zuerst wurde er auf dem Verano-Friedhof begraben, wo 1952 auch sein Bruder, der Schriftsteller Alberto Savinio seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Seine Frau bat den Franziskaner Germano Cerafogli dann aber, ob Giorgio de Chirico und auch sie selbst in San Francesco a Ripa beigesetzt werden könnten: „Ich habe viele Jahre mit ihm in Rom gelebt und wäre froh zu wissen, daß er an einer heiligen, römischen Stätte begraben ist, bis zu dem Tag, an dem auch ich ihm wieder nah sein kann“ (Brief vom 28. November 1984). Die Witwe schenkte den Franziskanern für die Kirche San Francesco a Ripa drei seiner Werke. Darunter zwei Porträts von sich selbst und ihrem Gatten. Zu denen wir uns die Anmerkung erlauben, daß sich der Maler hier im Gegensatz zu den verschiedenen Selbstporträts De Chiricos in historischen Posen und Gewändern, nur auf die Gesichter zu konzentrieren scheint, genau genommen auf den Blick, weshalb der Rest der beiden Porträts auch nicht sehr viel mehr ist als eine Skizze.
Das dritte der gestifteten Werke ist eine Kreuzwegstation, die Jesus zeigt, der auf seinem Weg nach Golgota niederfällt. Das Werk aus dem Jahr 1947 ist so gut wie unbekannt, da es De Chirico wie seinen Augapfel hütete, es sein Atelier praktisch nie verlassen hat. Im Vordergrund, am rechten Bildrand, kann man Franz von Assisi erkennen; von einem künstlerisch-historischen Gesichtspunkt typisch für Werke der Renaissance und Nach-Renaissance, auf denen nicht selten eine oder zwei Figuren dem Betrachter zugewandt sind, was in diesem Fall nicht nur eine bloße Zitierung war. Der Heilige – mit gesenktem Blick – ist fast einfarbig dargestellt, mit originalgetreuem Gewand angetan und kehrt dem Betrachter der Szene den Rücken, wie um nicht nur zu zeigen, daß wir es hier nicht mit einem Zeitgenossen zu tun haben, sondern auch eine Art leidendes Widerstreben zum Ausdruck zu bringen, an das in der Ferne gerade die Geste gerichtet zu sein scheint, die Jesus mit der Hand macht. Ein weiterer bewundernswerter Einfall ist die Darstellung der beiden Schächer in der Diagonale zwischen Jesus und Franziskus, erdfarben und geneigt wie Franziskus, den Blick wehmütig gen Boden gerichtet. Auch ihnen und den Soldaten, von denen sie geführt werden, scheint die Geste Jesu zugedacht zu sein, der, im Hintergrund, zu Boden, klein und strahlend in seiner glorreichen Passion thront. Gewiß, die Geste Jesu löst auch Mitleid aus, wie in vielen „imago pietatis“. Aber das ist kein Widerspruch. Jesus, der so sehr geliebt hat, scheint darum zu bitten, wiedergeliebt zu werden, bedauert in jener Passion, die doch nur er allein und kein anderer für die ahnungslosen Menschen erleiden konnte. Und wer mehr als Franziskus, der inLa Verna seinem Herrn gleichgemacht wurde, so sehr, daß er die Stigmata empfing, alter Christus, kann diesen Appell annehmen und weitergeben?
Die Fassade der  Kirche San Francesco a Ripa, Rom.

Die Fassade der Kirche San Francesco a Ripa, Rom.

Aber warum trägt das Antlitz des Franziskus so deutlich semitische Züge? Um, wie Erina Russo De Caro in einem heuer in Analecta TOR erschienenen Artikel schreibt, einerseits eben diese Gleichgestaltung Christi des hl. Franziskus („seine Gesichtsfarbe macht aus ihm einen Franziskus des Heiligen Landes“) zu verdeutlichen, andererseits aber, weil De Chirico – angesichts des Zeitpunkts der Entstehung des Gemäldes – damit „das Martyrium Palästinas“ darstellen wollte; weshalb dieses Werk auch immer „in ein merkwürdiges, diskretes Schweigen gehüllt war.“
Leider können wir nicht mehr auf die anderen hier befindlichen Kunstwerke eingehen. Verwiesen sei nur auf die Geburt Jesu (Galerie für Moderne Kunst, Vatikan), ein Gemälde, das De Chirico in der Nachkriegszeit malte. Auch hier steht Jesus nicht im Zentrum der Szene, aber auch hier zieht der Glanz seiner Reinheit und die an die Hirten gerichtete einladende Geste seiner Hände den Blick auf sich. Und auch hier sind es wieder die Episoden der Offenbarung nach Johannes, die zwar wortgetreu dargestellt sind, aber doch so originell und – wie wir es bezeichnen möchten – so katholisch sind in ihrer Leichtigkeit auch in den Zügen, daß jede Furcht wie weggefegt ist, mit der die Moderne sich immer an die Apokalypse angenähert hat und den Anspruch stellte, das Geheimnis direkt anzugehen. De Chirico schrieb hierzu, daß man „gewisse Geheimnisse nur verstehen kann, wenn man die Position ändert; Frontalangriffe haben wenig Sinn […]. Ich liebe die langen Winternächte und den tiefen Schlaf, in den ich in diesen Nächten versinke. Die beiden schönsten Monate im Jahr sind für mich November und Dezember […]. Und so, indem ich die Position geändert habe, bin ich in die Apokalypse eingetreten, wie in einen langen Winterschlaf.“
Man stirbt nie an irgendeinem Tag. De Chirico war es vergönnt, im November zu sterben, mit den Sakramenten gerüstet und sanft von zwei Krankenschwestern begleitet, so daß er dem Tod ohne Angst entgegentreten, in einen tiefen Schlaf fallen konnte wie in einen Winterschlaf, nur dieses Mal eben einen etwas längeren.


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