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RATZINGER: STUDENT IN...
Aus Nr. 01/02 - 2006

Dieser in den Trümmern erblühende Neuanfang


„Ich bin der Joseph. Ich habe ein paar Fragen.“ Diese Fragen bildeten den Auftakt zu einer Lebensfreundschaft. Wir haben uns nie aus den Augen verloren. Und wann immer wir uns etwas zu sagen hatten, telefonierten wir miteinander.“ Begegnung mit Prof. Alfred Läpple, der im Freisinger Priesterseminar Präfekt des zukünftigen Nachfolgers Petri war.


Interview mit prof. Alfred Läpple von Gianni Valente und Pierluca Azzaro


Der junge Joseph Ratzinger am 8. Juli 1951, Tag seiner Primiz.

Der junge Joseph Ratzinger am 8. Juli 1951, Tag seiner Primiz.

In Gilching bietet sich unserem Blick im Januar 2006 eine malerische Winterlandschaft – wie fast überall in Bayern. Hier befand sich die Batterie der Flugabwehr (Flak), wo der junge Joseph Ratzinger 1943 Kriegsdienst leistete. Der junggebliebene Professor Läpple, der auf eine beeindruckende Universitätslaufbahn als Religionspädagoge zurückblicken kann und über 150 Bücher über Spiritualität, Theologie, Exegese, Kirchen- und Kunstgeschichte geschrieben hat, die in der ganzen Welt veröffentlicht wurden, mußte heute morgen noch auf der Straße Schnee räumen. Die Nachbarn erzählen uns, daß der 90jährige gern noch selbst am Steuer seines neuen Mercedes sitzt. Heute wollen wir mit ihm gemeinsam seinen bewegten Lebensweg nachvollziehen. In seinem in warmes Sonnenlicht getauchten Wohnzimmer verrät er uns das Geheimnis einer Freundschaft, die schon 60 Jahre andauert. Diese Geschichte ist auch der Anfang eines jungen Mannes, dem es bestimmt war, 2005 der Nachfolger Petri zu werden.
Vom ersten Buch Joseph Ratzingers gibt es nur zwei schreibmaschinengeschriebene, in rotes Leder gebundene Kopien. In goldgelben Lettern steht dort geschrieben, worum es sich handelt: die deutsche Übersetzung der Quaestio disputata de caritate des heiligen Thomas über die Liebe. Eine der Kopien befindet sich im Besitz des Verfassers, die andere bei Professor Alfred Läpple in dessen Haus in Gilching, am Stadtrand von München. „Wir haben es gemeinsam übersetzt, Zeile für Zeile,“ erzählt er. „Das war 1946. Ich kann mich daran erinnern, daß wir jedes einzelne Zitat nachgeblättert haben: Platon, Aristoteles, Augustinus... Dann, viele Jahre später – das handgeschriebene Original war inzwischen brüchig geworden – tippte meine Sekretärin die Niederschrift auf der Schreibmaschine ab und ließ zwei Kopien binden. Eine davon habe ich Joseph am 14. März 1979 geschenkt, als er zum Fest des hl. Thomas nach Salzburg kam, um an der Universität, an der ich damals Dekan der Theologischen Fakultät war, den Festvortrag zu halten: „Konsequenzen des Schöpfungsglaubens“.
Wir haben Ende Januar, die deutschen Zeitungen berichten immer noch über die Enzyklika Deus Caritas est. Die wertvolle Niederschrift in der Hand, zieht Professor Läpple folgendes Resümee: „Als ich gehört habe, worum es in der ersten Enzyklika von Papst Benedikt ging, mußte ich gleich an dieses ‚Opus primum‘ denken, das er 1946, als er gerade mit dem Seminar begonnen hatte, verfaßte: am Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit, wie am Anfang seines Pontifikats und seiner ersten Enzyklika, steht die Liebe…“.

Wann haben Sie Joseph Ratzinger kennengelernt?
ALFRED LÄPPLE: Am 4. oder 5. Januar 1946. Ich war gerade aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Ich rief im Freisinger Priesterseminar an. Am Telefon war der neue Regens Michael Höck, ein Priester, der fünf Jahre im Konzentrationslager Dachau war, weil er als Redakteur der Münchner Kirchenzeitung Hitler offen kritisiert hatte. Er war schon im Knabenseminar mein Präfekt gewesen.
Was hat Ihnen Regens Höck gesagt?
LÄPPLE: Er sagte zu mir: Lieber Alfred, ich habe eine schöne Aufgabe für dich: du wirst Präfekt für die ganz Neuen, die noch nie im Seminar waren. Er führte mich in den größten Saal (Roter Saal), den es im Priesterseminar gibt und der eigentlich sonst nur für festliche Anlässe benutzt wurde. Doch nun hatte man dort Studierpulte und Stühle aufgestellt. Regens Höck sagte zu den etwa 60 anwesenden Seminaristen: „Meine Lieben, jetzt kommt der beste Mann, den ich für euch habe, ihr werdet euch mit ihm gut verstehen.“ Unter den sechzig befand sich auch ein Brüderpaar: Georg und Joseph Ratzinger. Ein paar Tage später, während der freien Zeit, kam für mich ein damals Unbekannter zu mir und sagte: „Ich bin der Joseph. Ich habe ein paar Fragen.“ Diese Fragen bildeten den Auftakt zu unserer ersten gemeinsamen Arbeit, so mancher Diskussion, vielen Spaziergängen, vielen Übersetzungen. Ja, man kann sagen, daß damals eine Lebensfreundschaft entstand. Wir haben uns nie aus den Augen verloren. Und wann immer wir uns etwas zu sagen hatten, telefonierten wir miteinander oder schrieben uns.
Für einen Präfekten, der für Seminaristen zuständig war, hatten Sie einen recht ungewöhnlichen Lebenslauf: Sie waren im Krieg, im Gefangenenlager... Können Sie uns das genauer erzählen?
Hier oben, die Münchner Frauenkirche 
nach den Bombardierungen durch die Alliierten (1944).

Hier oben, die Münchner Frauenkirche nach den Bombardierungen durch die Alliierten (1944).

LÄPPLE: Von 1939 bis 1945 war ich bei der Luftwaffe. Ich wurde im Ruhrkessel, bei Essen, von den Amerikanern gefangengenommen, kam über Dülmen nach Frankreich und sollte von Le Havre aus nach Amerika verschifft werden. Ende April/Anfang Mai 1945 war der Krieg zuende und wir wurden alle in ein großes Kriegsgefangenenlager bei Le Havre verlegt. Wir waren über eine halbe Million Kriegsgefangene, aufgeteilt in Gruppen von tausend Mann. Als ich festgestellt hatte, daß auch sehr viele Priester, Seminaristen, protestantische Pastoren, Theologiestudenten und Ordensleute im Lager waren – einige davon kannte ich sogar –, schlug ich dem amerikanischen Militärkaplan vor, für den ich als Dolmetscher fungierte, diese Leute in einem eigenen Lager unterzubringen. Es waren mehr als dreihundert, Katholiken und Protestanten. Es gelang uns dann, eine Art „Prisoner of war University“ mit Vorlesungen einzurichten. Ein Teil meiner Vorlesungen wurde später sogar veröffentlicht: „Theologie als Krisis und Wagnis des Theologen.“ Auf die Titelseite ließ ich ein Wort von Kierkegaard schreiben: „Das Christentum ist keine Lehre, sondern eine Existenzmitteilung.“ Ratzinger kannte ich damals noch nicht, aber in diesem Motto konnten wir uns wiedererkennen. Das ist die Thematik, mit der wir beide zueinander gefunden haben und über die wir noch viel diskutieren sollten.
Als Sie in den Krieg zogen, waren Sie mit Ihrer Priesterausbildung so gut wie fertig. Wo haben Sie studiert?
LÄPPLE: Ich wurde 1915 geboren und machte 1936 mein Abitur. Nach drei Jahren Theologie- und Philosophiestudium an der Freisinger Hochschule hatte ich mich an der Theologischen Fakultät von München eingeschrieben. Bei dem Moraltheologen Theodor Steinbüchel begann ich mit der Arbeit an einer theologischen Dissertation über den Begriff des Gewissens bei Kardinal Newman. Doch im Februar 1939 wurde die Theologische Fakultät München von den Nazis geschlossen, weil Kardinal Faulhaber seine Zustimmung für einen als Hitler-Anhänger bekannten Professor verweigert hatte: Hans Barion, der seit 1933 Mitglied der NSDAP war. Und dann brach am 1. September 1939 der Krieg aus…
Ein junger Mann, der sich für Newman und den Personalismus begeistert und dabei ist, Priester zu werden… mit welchen Gefühlen zogen Sie in den Krieg?
LÄPPLE: Mit gemischten Gefühlen. Man kann heute leicht sagen, daß man „nein“ hätte sagen können. Aber den Kriegsdienst zu verweigern, kam damals einem Todesurteil gleich. Ich war 1942 auf einem Offizierslehrgang in Baden bei Wien, sollte Offizier der Luftwaffe werden; ich verzichtete auf die Offizierslaufbahn. Ich wußte, daß ich – falls Hitler gewinnen sollte – nie Priester werden würde. Daß ich dann als Soldat in Norwegen oder in Nordafrika enden würde. Wenn ich Priester werden wollte, mußte Deutschland verlieren. Das war meine innere Not. Das war die Tragödie, vor der man stand. Unmittelbar nach dem Krieg hatten viele den Mut, das auch auszusprechen.
In welcher Weise?
LÄPPLE: Ich war gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, als ich in München einen Vortrag des Schriftstellers Ernst Wiechert hörte. Was er dort gesagt hat, habe ich nie vergessen: „Dies laßt uns bedenken, meine Freunde, und laßt es uns auch denen zurufen, die den Sieg gewonnen haben über das Volk... Wir wissen, daß Tausende sich abgewendet haben von den Dämonen und daß es langsam Hunderttausende und Millionen wurden..., von denen ich weiß, daß sie nicht wagten, ihre Lippen zu öffnen, weil das den Tod bedeutete.... Sie waren gehorsam und sie waren still, aber jeder Schritt ihres Lebens war ein Dornenweg, und in den Nächten, wenn niemand sie sah, rangen sie die Hände zu ihrem Gott und sie beteten um den Sieg der Feinde. Weiß die Welt, was solch ein Gebet bedeutet? Weiß sie, was ein Volk gelitten haben muß, um so zu beten?“.
Dachau ist nicht weit von Gilching. Wußte man, was dort passierte?
LÄPPLE: Einige Freunde von mir waren in Dachau; daher wußte ich schon einiges. Aber ein jeder sagte: Ich darf nichts sagen, denn wenn ich etwas sage, komme ich wieder nach Dachau und dann komme ich nie mehr heraus.
Genau hier in Gilching hat der junge Joseph Ratzinger als Flakhelfer in einer Batterie der Flugabwehr Kriegsdienst geleistet…
LÄPPLE: Das schreibt er auch in seiner Autobiographie [Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1998]. Auch er geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wurde am 19. Juni 1945 entlassen. Ein Datum, das ich mir gemerkt habe, weil ich an diesem Tag geboren bin. Es war mein dreißigster Geburtstag.
Das Georgianum, in dem die Studenten der Theologischen Fakultät München untergebracht waren.

Das Georgianum, in dem die Studenten der Theologischen Fakultät München untergebracht waren.

Wirkten sich die erlebten Schrecken auch auf das Klima des neueröffneten Priesterseminars aus?
LÄPPLE: Die Zeitungen berichteten damals täglich vom Nürnberger Prozess. Sie waren voll mit Fotos von den Leichenbergen in den Konzentrationslagern. Wir fragten uns, wie das alles nur möglich gewesen war. Uns war klar, daß wir wieder ganz von vorne anfangen mußten. Wir waren alle froh, daß der Krieg aus war. Wir wollten endlich studieren und Priester werden.
Und der Vergangenheit den Rücken kehren?
LÄPPLE: Wir mußten – wie bereits gesagt – beim Nullpunkt wieder anfangen. Der Krieg war vorbei, und wir wollten nicht mehr darüber reden. Wir wußten, daß wir in der Seel­sorge als Priester Leuten begegnen würden, die Opfer der Nazis und auch Täter der Nazis gewesen waren. Wir wußten, daß zu uns in den Beichtstuhl Leute kommen werden, die uns erzählen, daß sie im Konzentrationslager waren, im Krieg Menschen erschossen hatten; daß sie Partisanen erschossen hatten.
Im neueröffneten Priesterseminar bereitete man sich darauf vor, unter Menschen für den christlichen Glauben Zeugnis abzulegen, deren Leben von den Nazis und vom Krieg aus der Bahn geworfen worden war. Hat man sich da wirklich nicht gefragt, was eigentlich geschehen war?
LÄPPLE: Wir waren von all dem zutiefst geschockt. Daß Christen anderen Christen so etwas antun konnten… Hitler ist nie aus der Kirche ausgetreten. Es hatte keinen Sinn, über das Ganze zu reden, weil es ohnehin keine Antwort gab. Wir wollten Gott durch unsere Tat Dank sagen. Gott hatte uns gerettet, uns aus dem Abgrund heimkehren lassen, und nur er, mit seiner Vergebung, konnte die Herzen heilen. Es war, als hätte man nach dem Krieg sein Leben ein zweites Mal geschenkt bekommen. Wir konnten Gott nur mit unserem Leben Dank sagen, indem wir gute Priester wurden: Von diesem Moment an wußten wir, daß wir nicht nur für ein paar Stunden, sondern ganz einfach immer und zu jeder Zeit für unsere Gläubigen da sein wollten.
Ratzinger berichtet, daß die Altersspanne im Seminar von knapp Zwanzigjährigen bis zu Vierzigjährigen reichte; Menschen, die im Krieg ihr Studium unterbrechen mußten, schreckliche Dinge erlebt hatten…
LÄPPLE: Manche waren im Krieg hochrangige Militärs gewesen, hatten einiges auf dem Kerbholz. Viele wollten sich vor der Weihe gerade mir als dem Dozenten anvertrauen, weil ich im Krieg gewesen war. Sie wollten nicht mit dem Regens sprechen, weil der eben nicht im Krieg, sondern im KZ gewesen war und somit – wie sie meinten – auch nicht wissen konnte, vor welch schweren Entscheidungen man im Krieg gestanden hatte… Keiner wußte vom anderen, wo er gewesen war, welchen Rang und welche Orden er hatte; darüber wurde nicht mehr gesprochen.
Was haben Ihnen diese jungen Männer erzählt?
LÄPPLE: Sie erzählten mir, was sie getan hatten, vertrauten mir ihre Gewissensnöte an, wollten wissen, ob sie überhaupt noch gute Priester werden konnten. Einmal kam ein Major zu mir, der Leute erschossen hatte. Er sagte: „Wie kann ich Priester werden, wenn jedesmal, wenn ich vor den Gläubigen stehe und ‚Dominus vobiscum‘ sage, jemand mit dem Finger auf mich zeigt und ruft: ‚Du bist ein Mörder!‘.“ Ein anderer hatte beim Rückzug in Rußland einen Schwerverwundeten mit einem amputierten Bein erschossen, der am Ende seiner Kräfte war und ihn angefleht hatte, ihm den Gnadenschuß zu geben. Später fragte er mich dann: „Habe ich diesen Mann ermordet, bin ich ein Mörder?“.
Und was haben Sie diesen Menschen geantwortet?
LÄPPLE: Ich versuchte, sie zu trösten, sagte ihnen, daß ich – an ihrer Stelle – wohl auch so gehandelt hätte.
Sie haben gesagt, daß Sie Joseph Ratzinger bei Ihrem ersten Treffen etwas gefragt hat. Was war das?
LÄPPLE: Er hat mich gefragt: Wie hast Du in dem ganzen Krieg Deinen Glauben erhalten können?
Und was haben Sie ihm geantwortet?
LÄPPLE: Ich sagte: durch das Gebet meiner Mutter – die er später übrigens auch kennengelernt hat. Und weil ich weiß: Christus liebt mich, Christus braucht mich, und wenn ich gerettet bin, dann wird mich Christus auch verbrauchen.
Links, Professor Läpple mit der von 
Joseph Ratzinger 1946 angefertigten Übersetzung der Quaestio disputata 
des hl. Thomas über die Liebe.

Links, Professor Läpple mit der von Joseph Ratzinger 1946 angefertigten Übersetzung der Quaestio disputata des hl. Thomas über die Liebe.

Wie liefen die Tage im Freisinger Priesterseminar ab?
LÄPPLE: Die Hälfte des Priesterseminars war damals noch ein Lazarett, wo ausländische Kriegsgefangene behandelt wurden. Wir versuchten, den normalen Seminarbetrieb wieder aufzunehmen. Wir schliefen in Schlafsälen mit dreißig, vierzig Mann, jeder hatte sein Bett mit einem weißen Vorhang davor, eine Art „Kabine.“ Um 5,30 Uhr morgens wurden wir geweckt, dann kam die heilige Messe, Frühstück, Vorlesungen. Die Vorlesungen, die im Seminar gehalten wurden, sollten den Brückenschlag von der Wissenschaft zur Seelsorge bewirken (praktische Sakramentenlehre, Pastoral, Liturgik, Religionsunterricht, Predigtlehre). Die wissenschaftlichen Vorlesungen wurden an der staatlichen Philosophisch-Theologischen Hochschule gehalten, die in einem Gebäude neben dem Seminar untergebracht war. Nach dem Mittagessen hatte man frei, wir machten Spaziergänge oder widmeten uns dem Studium. Nach dem Abendessen gab es Betrachtungen oder an den Samstagen für alle einen Vortrag. Dann gingen wir zufrieden schlafen. Da die Zimmer nicht beheizt waren und die Räume schnell auskühlten, war das meistens sehr früh.…
Sind die Brüder Ratzinger durch irgendetwas aufgefallen?
LÄPPLE: In meinen Vorlesungen im liturgischen Hörsaal des Priesterseminars saßen sie immer in der ersten Bank. Um sie auseinanderzuhalten, nannten sie die anderen Schüler Orgel-Ratz und Bücher-Ratz. Georg, der Bruder Josephs, war damals schon Musiker. Es war ja dann auch lange Zeit Dirigent der Regensburger Domspatzen.
Was hat Sie an Joseph beeindruckt?
LÄPPLE: Er war wie ein trockener Schwamm, der Wasser aufsaugt – seine wissenschaftliche Neugier war grenzenlos. Wenn er etwas Neues hörte, sich korrigieren oder weiterbilden konnte, machte ihn das über alle Maßen glücklich. Wir sind oft stundenlang spazieren gegangen, diskutierten über dieses und jenes… Einmal haben wir darüber gesprochen, warum Nietzsche sagen konnte: „Erlöster müßten seine Jünger sein, daß ich an ihren Erlöser glauben kann.“ Der junge Philosphiestudent Ratzinger kam auch zur Weihemesse, in der ich von Kardinal Faulhaber zum Priester geweiht wurde – am 29. Juni 1947 im Dom zu Freising. Über diesen Tag hat er mir später viele Fragen gestellt.
Welche?
LÄPPLE: Er fragte mich: was geschieht in der Wandlung bei der heiligen Messe? Mache ich das, oder wer macht das? Habe ich eine Zauberkraft? Darüber diskutierten wir nochmals am Tag meiner Primiz am 6. Juli 1947 in Partenkirchen. Nach dem Primizmahl gingen wir zwei Stunden lang spazieren, vom Ort hinaus zur Olympiasprungschanze. 1936 war in Garmisch-Partenkirchen Winterolympiade. Ich nannte ihm einen Satz von Johannes Chrysostomos, den ich während der letzten Exerzitien zur Vorbereitung auf meine Priesterweihe gelesen hatte, wo es heißt: der Priester leiht Christus seine Gestalt, seine Worte, seine Gesten, seine Intention, aber es ist Christus, der das Wunder der Wandlung vollbringt. 1997 schrieb mir Ratzinger anläßlich meines 50jährigen Priesterjubiläums diesen Brief hier, in dem er sagte, wie wichtig jener Tag in Partenkirchen für ihn und sein Priesterverständnis gewesen ist.
Können Sie ihn uns vorlesen?
LÄPPLE: „Ich habe in diesen festlichen Tagen mehr als je zuvor erlebt – schreibt er in Erinnerung an jenen Spaziergang –, was es heißt, Priester Jesu Christi in seiner Kirche sein zu dürfen. Du selber hast mir damals gesagt, wie es Dich ergriffen hat, Jesu eigene verwandelnde Worte über Brot und Wein sprechen zu dürfen, ihm die Stimme, das Wort, das eigene Sein zu geben.“ Zu meiner Primizmesse in Partenkirchen bat ich den Philosophiestudenten Ratzinger, mein Zeremoniar zu sein.
Sie haben sich intensiv mit Newman beschäftigt und haben bei Ratzinger Interesse für den englischen Kardinal und Theologen geweckt…
LÄPPLE: Newman war für uns nicht nur ein Thema, er war unsere Leidenschaft. Thema meiner Doktorarbeit war das Gewissen bei Newman. Ich habe 1951 in München promoviert; eine Woche, nachdem Ratzinger Priester geworden war. Er half mir, die Thesen auszusuchen, die – wie damals an der Münchner Universität üblich – bei einer öffentlichen Disputation verteidigt werden mußten, und übersetzte sie dann in sein typisches Ratzinger-Latein. Zwischen uns bestand eine große Freiheit, die Dinge zu betrachten und zu beurteilen: diese herrliche Freiheit der Kinder Gottes, von der Paulus spricht. Deshalb waren wir auch so von Newman fasziniert. Wir fragten uns: wie wird ein Christ, der ein halbes Leben lang in der Freiheit des Anglikanismus gelebt hat, mit dem Primat und dem Lehramt der Kirche fertig? Kann er das als Einschränkung seiner Freiheit jemals akzeptieren? Ich habe Ratzinger einen Satz von Newman gezeigt, den er später wiederholt zitiert hat…
Welchen?
LÄPPLE: Den berühmten Satz Newmans aus dem Brief an den Herzog von Norfolk: „Wenn ich bei einem Festessen einen Toast ausbringe, dann erhebe ich das erste Glas – und jetzt kommt das Rhetorische – auf das Wohl des Papstes? Nein. Das erste Glas auf mein Gewissen, und dann erst auf den Papst.“
Am Seminar machte der junge Ratzinger nicht nur positive Erfahrungen.
LÄPPLE: An der Philosophisch-Theologischen Hochschule zu Freising lehrte Professor Arnold Wilmsen, ein Laie neuscholastischer Prägung. Ratzinger hat nicht mit mir über Wilmsen gesprochen. Er hörte zwar die Vorlesung, aber das Ganze prallte an ihm ab, drang nicht bis zu ihm vor. Schade, um die Zeit, hat er immer gesagt, da sollte ich besser mit dir spazieren gehen (siehe J. Ratzinger: Aus meinem Leben, S. 49 f.).
Wir mußten beim Nullpunkt wieder anfangen. Der Krieg war vorbei, und wir wollten nicht mehr darüber reden. Wir wußten, daß wir in der Seelsorge als Priester Leuten begegnen würden, die Opfer und auch Täter gewesen waren.
Was gab es an der Neuscholastik zu beanstanden?
LÄPPLE: Das hat er auch in seinem Buch geschrieben. Wilmsen, der in Rom studiert hatte, schien ihm kein Fragender mehr zu sein, sondern einer, der nur noch mit Leidenschaft das Gefundene gegen alle Fragen verteidigte.
Und warum hatte Ratzinger damit Schwierigkeiten?
LÄPPLE: Es ging weniger um die Philosophie als um die Frage: was ist der Mensch? Der Mensch ist immer ein Fragender. Und wenn er meint, er habe eine Frage beantwortet, dann tut sich eine noch größere Frage auf. Ratzinger konnte nicht verstehen, wie man die Wahrheit als einen Besitz betrachten kann, den man verteidigen muß. Mit neuscholastischen Definitionen konnte er nichts anfangen; es kam ihm wie ein Kreis vor, bei dem alles, was innerhalb ist, Wahrheit, und was sich außerhalb befindet, Irrtum ist. Wenn Gott überall ist – sagte er –, dann steht es sicher nicht mir zu, die Grenzen zu ziehen und zu sagen: nur da ist Gott. Wenn Christus sagt, ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, dann ist die Wahrheit ein Du, das Dich zuerst geliebt hat. Seiner Meinung nach kann man Gott nicht erkennen, weil er ein summum bonum ist, das man erfassen und mit exakten Formeln belegen kann, sondern weil er ein Du ist, das uns entgegengeht und sich zu erkennen gibt. Der Verstand kommt nur bis an den Rand der Definition. Aber das ist laut Ratzinger eine analysierende, sezierende, nicht aber eine hörende, eine kniende Theologie. Und eine solche Theologie interessierte ihn schon damals nicht, war nicht sein Bier, wie man bei uns in Bayern sagt.
Und was war damals „sein Bier“?
LÄPPLE: Ratzinger interessiert sich nicht für abstrakte Bücher mit Titeln wie „Das Wesen des Christentums“. Es interessiert ihn nicht, Gott mit abstrakten Begriffen zu definieren. Ein Abstraktum braucht – wie er später einmal gesagt hat – keine Mutter. Gott kommt uns nicht als abstrakte Definition entgegen, Gott ist kein summum bonum. Gott ist ein „Du“. Gott hat dich zuerst geliebt, und du darfst ihm Dank sagen. Nur einem „Du“ kannst du Dank sagen. Dieser Ansatz findet sich beispielsweise auch bei Martin Buber, dem personalistischen jüdischen Religionsphilosophen, der sagte: Die beste Rede über Gott ist der Lobpreis Gottes. Auch aus diesem Grund faszinierte uns Newman, der als Kardinalsspruch gewählt hatte: Cor ad cor loquitur.
Nach dem Studium der Philosophie, im September 1947, ging Ratzinger an die Theologische Fakultät München. Was machten Sie damals gerade?
LÄPPLE: Nachdem ich Priester geworden war, arbeitete ich ein Jahr lang als Kaplan in München-Schwabing. 1948 kehrte ich als Dozent für praktische Sakramententheologie ans Freisinger Priesterseminar zurück. Aber ich hatte mein Doktorat über Newman noch nicht abgeschlossen. So kam es, daß Ratzinger und ich in München dieselben Vorlesungen besuchten. Da die Universität nach den Bombardierungen noch in Trümmern lag, hatte man die Theologische Fakultät nach Fürstenried verlagert, in ein ehemaliges Jagdschloß südlich von München. Ich kann mich noch erinnern, daß die Vorlesungen in einem Gewächshaus gehalten wurden. Im Sommer war es dort unerträglich heiß, im Winter bitterkalt.
Die Theologische Fakultät München war für ihre traditionelle Annäherung ans Christentum als historisches Faktum bekannt…
LÄPPLE: Nach der Zwangs­schließung durch die Nazis im Februar 1939 und nach dem Krieg mußte man auch dort ganz von vorne anfangen. Es gab keine theologische Schule mehr. Von der alten Professorengarde waren nur wenige übrig; die neuen kamen aus anderen theologischen Fakultäten in Münster oder Breslau, aus einem ganz anderen geistigen Umfeld. In diesem Klima nahmen sich auch die Studenten so manche Freiheit heraus…
Welche?
LÄPPLE: Sie schrieben sich zwar im Vorlesungsbuch ein, wenn sie die Vorlesungen aber nicht interessierten, gingen sie nicht hin und ließen einen anderen mitstenographieren, der die Durchschläge dann verkaufte. Viele gingen später lieber in die benachbarte Staatsbibliothek, wo sie sich über ganz andere theologische Trends informierten.
Wer waren die „Stars“ der Fakultät?
LÄPPLE: Meiner Meinung nach waren das folgende drei Professoren: Gottlieb Söhngen, Michael Schmaus und Friedrich Wilhelm Maier.
Was können Sie uns über Söhngen, den „Meister“ Ratzingers, sagen?
LÄPPLE: Söhngen lehrte Fundamentaltheologie. Er hatte eine wirklich beeindruckende Art, Vorlesungen zu halten. Wenn er etwas erklärte, tat er das mit Leib und Seele. Zu seinen Vorlesungen nahm er nur einen kleinen Zettel mit, auf dem drei, vier Worte und ein paar Fragezeichen notiert waren. Er sprach immer vollkommen frei. Und wenn ihm dann ein Geistesblitz kam, ging er einfach von seinem Pult weg, mitten unter seine Hörer, und sprach direkt zu ihnen. Er kam eigentlich von der Philosophie, doch dann war die Theologie sein Schicksal geworden, wie Ratzinger in der Homilie bei seiner Beerdigung sagte. Seine Theologie war keine Begriffstheologie, sondern eine existentielle Theologie, eine Theologie für den Glauben.
Die von Kardinal Michael von Faulhaber geleitete Fronleichnamsprozession im von Bomben verwüsteten München (31. Mai 1945).

Die von Kardinal Michael von Faulhaber geleitete Fronleichnamsprozession im von Bomben verwüsteten München (31. Mai 1945).

Er und Schmaus hatten keinen guten Draht zueinander.
LÄPPLE: Söhngen war sehr empfänglich für die neuen Einflüsse, die aus Frankreich kamen. Als gebürtiger Kölner verkörperte er das rheinländische Temperament aufs Beste, er war ein extrovertierter, fröhlicher Mensch. Schmaus dagegen war der klassische Professor. Er kam von der Neuscholastik, wenn er auch mit großer Gelehrtheit aus den Quellen der Väter und der Heiligen Schrift schöpfte und die katholische Dogmatik so wieder aufleben ließ. Söhngen war der Meinung, daß Schmaus’ Arbeiten lediglich eine Anhäufung von Zitaten waren, die den Quellen über die verschiedenen Themen der Theologie entnommen waren, ohne jedoch die Entwicklungen der modernen Philosophie und die daraus resultierenden Fragen in Betracht zu ziehen. Schmaus schrieb wahre Monumentalwerke über dogmatische Theologie.
Welche theologischen Faktoren lagen diesem Kontrast zugrunde?
LÄPPLE: Schmaus war der Meinung, daß sich der Glaube der Kirche mittels definitiver, statischer Begriffe mitteilte, um die ewigen Wahrheiten zu definieren. Für Söhngen dagegen war der Glaube Mysterium. Gott offenbart sich in seiner Geschichte. Damals sprach man viel über die Heilsgeschichte. Es gab da eine gewisse Dynamik, die auch eine Öffnung gewährleistete und bewirkte, daß neu aufgeworfene Fragen diskutiert worden sind.
Was hat Ratzinger von Söhngen gelernt?
LÄPPLE: Söhngen verdammte niemanden. Er lehnte keinen Autor a priori ab, ganz gleich von welcher Seite er auch kommen mochte. Er pflegte immer das Beste zu holen, was in einem jeden Autor, in jeder theologischen Perspektive zu finden war. Er achtete dabei aber immer darauf, ob es sich integrieren ließ oder sozusagen ein Sprengstoff war, der alles zerstörte: wichtig war die sogenannte spirituelle Mitte. Bei Söhngen konnte Ratzinger auch die Freude am Wiederentdecken der als Theologie der Väter verstandenen Tradition erkennen. Die Freude an einer Theologie im Zeichen der Rückkehr zu den altbewährten Quellen: von Platon zu Newman, über Thomas von Aquin, Bonaventura, Luther. Und natürlich Augustinus…
Für den Ratzinger eine ganz besondere Leidenschaft entwickeln sollte.
LÄPPLE: Die Leidenschaft Ratzingers für Augustinus begann schon im Seminar. Es war eine existentielle Leidenschaft. Ich kann mich noch an eine Vorlesung erinnern, in der Söhngen erklärte, daß vor Augustinus alle – Platon, Xenophon, Julius Cäsar – immer in der dritten Person gesprochen haben. Der heilige Bischof aus Hippo war der Erste, der in seinen „Confessiones“ in der ersten Person sprach. Das bezeichnete den Durchbruch zum „Du“, zum „Ich“.
Welches Verhältnis hatte der Lehrer zu seinen Schülern?
LÄPPLE: Söhngen war keiner, der seine Schüler „formte“, sie zu Klonen seiner selbst machen wollte. Ratzinger war seinem Lehrer gegenüber frei. Das konnte man auch an seiner Doktorarbeit sehen…
Inwiefern?
LÄPPLE: Es fing bereits damit an, wie man die Kirche am besten definieren könnte. Am 29. Juni 1943, während des 2. Weltkrieges, hatte Pius XII. die Enzyklika Mystici corporis Christi veröffentlicht, die die Kirche als mystischen Leib Christi definierte. Söhngen hatte festgestellt, daß dieser Begriff in der Bibel nicht vorkommt. Da schlug er Ratzinger vor, nachzuforschen, ob Augustinus die Kirche mit anderen Begriffen definierte.
Was gab es an der Definition der Kirche als mystischen Leib Christi auszusetzen?
LÄPPLE: Man fragte sich beispielsweise, ob der Mensch im mystischen Leib Christi überhaupt sündigen kann. Wo bleibt die Freiheit des Menschen? Was Ratzinger herausfand, überraschte und begeisterte seinen Lehrer…
Der 17jährige Joseph Ratzinger als Luftwaffenhelfer.

Der 17jährige Joseph Ratzinger als Luftwaffenhelfer.

Inwiefern?
LÄPPLE: Ratzinger fand sehr viel mehr, als ihm sein Meister zu suchen aufgetragen hatte. Er konnte mit einer wahren Fülle von Zitaten belegen, was Augustinus meinte, als er die Kirche als Volk Gottes definierte. Dieser Begriff wurde später vom II. Vatikanischen Konzil und von Paul VI. wieder aufgegriffen. Ratzinger stellte die beiden Definitionen von Kirche einander nicht gegenüber, sondern brachte sie miteinander in Einklang.
Wie nahm Söhngen das auf?
LÄPPLE: Er sagte: mein Schüler findet mehr als ich, der Maestro! Söhngen hatte einen ungeheuren Respekt vor ihm, betrachtete ihn als seinen Meisterschüler. Er hat mir einmal gesagt, es ginge ihm wie Albertus Magnus im Mittelalter, der ankündigte: „Mein Schüler wird noch lauter brüllen als ich!“ Und dieser Schüler war Thomas von Aquin! Söhngen war glücklich darüber, jemanden zu haben, der seine Ideen auf eine originelle Weise weiterzuentwickeln verstand.
In seiner Autobiographie erzählt Ratzinger, daß ihm bei seiner Dissertation über Augustinus auch der Umstand hilfreich gewesen sei, daß Sie ihm 1949 das Buch Katholizismus des französischen Jesuiten Henri de Lubac geschenkt haben…
LÄPPLE: Ich wollte ihm eine Freude machen. Und so schreibt er in seiner Autobiographie auf Seite 69, daß ihm dieses Werk zu einer Schlüssellektüre geworden wäre, er dadurch nicht nur ein neues und tieferes Verständnis vom Denken der Väter, sondern auch einen neuen Blick auf die Theologie und den Glauben insgesamt bekommen hätte. Ein Drittel des Buches besteht nämlich aus Zitaten der Väter.
Und doch waren es gerade jene Jahre, in denen man de Lubac, Danielou und den anderen Jesuiten aus Lyon Lehrverbot erteilte, ihre Bücher auf den Index setzte. Wie wurde das aufgenommen?
LÄPPLE: Ich kann mich daran erinnern, als wir erstmals von den gegen sie ergriffenen Maßnahmen erfuhren. Söhngen wollte niemanden aufhetzen und verlor in seinen Vorlesungen kein Wort darüber. Nach der Vorlesung gingen Ratzinger und ich mit ihm in sein Zimmer in Fürstenried, in dem ein großer Flügel stand. Söhngen konnte konzertreif Klavierspielen. An jenem Tag warf er die Bücher wütend auf den Schreibtisch, setzte sich wortlos an den Flügel und spielte sich seinen ganzen Zorn von der Seele.
In seiner Autobiographie schreibt Ratzinger, daß die Exegese schon immer Zentrum seiner theologischen Arbeit gewesen ist…
LÄPPLE: Er hat immer die Schrift zitiert und stets den Bogen zu den Problemen und Herausforderungen der Gegenwart gespannt. Auch heute kann man sehen, wie er in seinen Homilien und Katechesen immer von einem Schriftwort und einem Kommentar der Väter dazu ausgeht. Für ihn gibt es keine gute Exegese eines Schriftwortes, wenn man nicht von der Auslegung ausgeht, die die Kirche durch die Väter davon gegeben hat. Das ist für ihn Traditio vivens, lebendige Überlieferung. Die Kirche hat den Kanon der heiligen Schrift festgestellt, der besagt, welches die kanonischen Bücher sind. Er ist nicht einer jener Exegeten der sola Scriptura. Seiner Meinung nach mußte man von dem Motto Christus praedicat Christum, wie Augustinus es sagt, ausgehen. Christus selbst ist der beste Exeget in seiner Kirche, in der er gegenwärtig ist und wirkt. Und das bringt auch die größtmögliche Freiheit mit sich, denn, wie schon Augustinus sagte: „In ecclesia non valet: hic dicit, ille dicit. In ecclesia valet: haec dicit Dominum.“
Auch Friedrich Wilhelm Maier, Professor für Neues Testament, hatte einen ungewöhnlichen Lebensweg hinter sich.
LÄPPLE: Als brillanter junger Gelehrter, schon vor dem Ersten Weltkrieg, hatte er mit Elan die Theorie vertreten, wonach das Markusevangelium als erstes geschrieben wurde und somit die Quelle für die anderen synoptischen Evangelien ist. Eine These, die heute allgemein anerkannt ist, damals allerdings als Modernismus abgestempelt wurde. Der Teil mit den Ausführungen Maiers mußte damals aus dem Sammelwerk herausgetrennt werden. Er durfte nach römischer Weisung keinen weiteren Lehrstuhl bekommen. Im veränderten Klima der Nachkriegszeit konnte er wieder in die akademische Welt zurückkehren und als Professor in München schnell die Herzen seiner Hörer gewinnen.
Kardinal Michael von Faulhaber, Erzbischof von München von1917 bis 1952, 
auf einem Foto von1949.

Kardinal Michael von Faulhaber, Erzbischof von München von1917 bis 1952, auf einem Foto von1949.

Ratzinger schreibt in seinen Lebenserinnerungen, Seite 56-58, daß „die Wende, die Bultmann und Barth auf je verschiedene Weise für die Exegese gebracht hatten, an Maier doch vorübergegangen war“…
LÄPPLE: Der exegetische Ansatz Maiers war der der liberalen Epoche geblieben. Aber seine Art, die Bibel direkt anzugehen, sein unbefangenes Fragen, schuf eine neue und kühne Offenheit zu den heiligen Schriften.
Ratzinger erzählt in seinem Buch auch von seiner Beziehung zur sogenannten Liturgischen Bewegung. Was meint er damit?
LÄPPLE: Die Liturgische Bewegung legte den Akzent vor allem im Kreis der katholischen Jugend auf die zentrale Bedeutung der Liturgie für das christliche Leben; sie wollte die wesentlichen Elemente der Liturgie wieder herausstellen und sie von den vielen Hinzufügungen befreien, die im Laufe der Jahrhunderte vieles, oft Wesentliches verdeckt hatten. Josef Pascher, der Pastoraltheologe, der auch Direktor des Georgianums war, war ein begeisterter Verfechter der Liturgischen Bewegung. Er war von den französischen Strömungen beeinflusst. In der Diskussion, die damals zwischen den Vertretern der Opfertheorie und denen der Mahltheorie begonnen hatte, vertrat Pascher letztere Gruppe. Gegen die Verkürzung der Messe auf eine rituelle Wiederholung des Letzten Abendmahls hatte sich schon Romano Guardini ausgesprochen…
Und wie stand Ratzinger dazu?
LÄPPLE: Er neigte eher zur Opfertheorie, was aber nicht ausschloß, daß die Messe rituell auch das Letzte Abendmahl nach Odo Casel als Mysteriumswirklichkeit gegenwärtig setzt. Jenes Mahl, mit dem die Jünger das jüdische Paschamahl mit Jesus feierten; aber nach dem Mahl hat Jesus für die Jünger etwas Verwirrendes getan:Er verwandelte den Wein in sein Blut und sagte zu den Jüngern:Trinket ihn. Blutgenuß oder Blut zu trinken, war den Juden strengstens verboten, weil nach jüdischer Auffassung das Blut Sitz des Lebens ist, und das Leben gehört keinem Menschen, sondern Gott. Diese Fähigkeit, die beiden Positionen zu integrieren, hat er – als Papst – erst bei der jüngsten Bischofssynode in einer Meditation zu diesem Thema gezeigt. Ratzinger schätzte Pascher, in dessen Erziehungs­system alles auf die täglich gefeierte heilige Messe aufgebaut war. Er konnte es nicht verstehen, wenn er sah, daß manche Theologieprofessoren, so gelehrt sie auch sein mochten, nicht wußten, wie man die Messe feiert, sozusagen „altarfremd“ waren. Als wieder einmal einer davon die Messe zelebrierte, sagte er zu mir: schau ihn dir an, der weiß gar nicht, was da los ist…
Wie stand man 1950 an der Theologischen Fakultät München zur Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel?
LÄPPLE: Im allgemeinen kritisch. Es gab zwar keine Einwände gegen den Inhalt des Dogmas, wohl aber gegen die Möglichkeit der Dogmatisierung. Söhngen machte darauf aufmerksam, daß in der Heiligen Schrift nichts über die Lehraussage von der leiblichen Aufnahme der Mutter Jesu in den Himmel steht. Schmaus, der im Vorfeld in der Münchner Katholischen Kirchenzeitung einen kritischen Artikel veröffentlicht hatte, bekam von Rom und von seinem zuständigen Erzbischof deswegen sogar eine deutliche Mahnung.
Und Ratzinger?
LÄPPLE: Ich glaube, daß auch er der Meinung war, daß die Dogmatisierung eigentlich nicht notwendig wäre. In der lebendigen Tradition glauben wir die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel ohnehin schon, beispielsweise im Rosenkranzgebet oder in vielen Kirchenpatrozinien. Lex orandi, lex credendi. Aber wir meinten, daß die Definition eines neuen Dogmas dem ökumenischen Dialog zu jenem Zeitpunkt, als er gerade in Deutschland begann, wenig förderlich sei.
1951, nach seiner Weihe, war Ratzinger als Kaplan tätig. Woran erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang?
LÄPPLE: Er kam in die Münchner Pfarrei Heiligblut, wo er ein Jahr lang blieb. Vor ihm hatten hier zwei Märtyrer gelebt und gewirkt: der Kaplan Hermann Joseph Wehrle, der am 14. September 1944 von den Nazis hingerichtet wurde, und der Jesuit Alfred Delp, der am 2. Februar 1945 dasselbe Schicksal erlitt. Damals, in seinem ersten Priesterjahr, hatte er 16 Religionsstunden in der Woche, was für einen Neuling sehr viel war. Daneben betreute er auch noch katholische Jugendgruppen. Er stand vor der Frage, ob er die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen oder in einer Pfarrei in der Seelsorge tätig sein sollte. Und da habe ich etwas getan, das ihm die Entscheidung abnehmen sollte…
Einmal haben wir darüber gesprochen, warum Nietzsche sagen konnte: „Erlöster müßten seine Jünger sein, daß ich an ihren Erlöser glauben kann.“
Und was?
LÄPPLE: Als ich 1952 meine Tätigkeit als Dozent für praktische Sakramententheologie am Freisinger Priesterseminar niederlegte, ging ich zu Erzbischof Faulhaber, um ihm zu sagen, wer mein bester Nachfolger wäre: Joseph Ratzinger. So wurde er am 1. Oktober 1952 tatsächlich mein Nachfolger; damit waren die Weichen für seine wissenschaftliche Laufbahn gestellt. Ich habe ihm nie gesagt, daß ich zum Erzbischof gegangen bin und ihn als meinen Nachfolger vorgeschlagen habe. Aber es freut mich, daß ihn mein damaliges Einschreiten vielleicht auf seinen nachfolgenden Lebensweg hingeführt hat.
1952 ging Ratzinger also wieder nach Freising. Im Juli 1953 konnte er den theologischen Doktorhut erwerben. Gemeinsam mit seinem Lehrer Söhngen legte er das Habilitationsthema fest: die Wahl fiel auf Bonaventura… Welche konkrete Aufgabe wurde ihm dabei gestellt?
LÄPPLE: Ratzinger sollte den Offenbarungsbegriff bei Bonaventura analysieren. Der Offenbarungsbegriff stand damals im Zentrum der Debatte, war in ein neues Licht gestellt. Offenbarung erschien nun vor allem als geschichtliches Handeln Gottes, und nicht mehr – wie im neuscholastischen Denken – einfach nur als Mitteilung von Wahrheiten an den Verstand.
Was konnte Ratzinger feststellen?
LÄPPLE: Er stellte fest, daß „Offenbarung“ in der mittelalterlichen Sicht Bonaventuras vor allem ein Aktbegriff war, den Akt bezeichnete, in dem sich Gott in einem bestimmten geschichtlichen Moment zeigt. Die Offenbarung schlug sich in der Heiligen Schrift nieder, war aber stets größer als das bloß Geschriebene. Offenbarung liegt der Schrift voraus, ist aber nicht einfach mit ihr identisch – genauso wie auch ein Ereignis nicht mit der Erzählung identisch ist, die dann daraus gemacht wird. Während wir üblicherweise das Ganze der geoffenbarten Inhalte als „Offenbarung“ zu bezeichnen pflegten, konnte es ein reines „sola Scriptura“ („durch die Schrift allein“) für Bonaventura also nicht geben. Des weiteren verwies Ratzinger darauf, daß zum Begriff „Offenbarung“ immer auch das empfangende Subjekt gehört; daß dort, wo niemand „Offenbarung“ wahrnimmt, auch im Menschen nichts offen gewesen ist. Wenn Gott nur in einer göttlichen Sprache gesprochen hätte, die für den Menschen nicht verständlich ist, hätte es keine Offenbarung gegeben.
Ratzinger berichtet in seiner Autobiographie, daß dann etwas schiefzulaufen begann...
LÄPPLE: Im Herbst 1955 gab Ratzinger seine Habilitationsschrift über Bonaventura ab. Söhngen nahm sie mit Begeisterung auf – nicht aber Professor Schmaus, der Mediävist der Theologischen Fakultät. Schmaus sagte zu Söhngen: „Das ist Modernismus, diese Arbeit kann ich nicht annehmen.“ So mußte Söhngen Ratzinger mitteilen, daß die Arbeit nicht durchgehen würde, weil sie Schmaus für modernistisch hielt. Schmaus war wohl der Meinung, daß gewisse Passagen auf eine gefährliche Subjektivierung des Offenbarungsbegriffes hinausliefen.
Die Habilitationsschrift des zukünftigen Papstes wurde dann aber – trotz des Verdachts des Modernismus – doch nicht abgelehnt…
LÄPPLE: Nein. Der Fakultätsrat beschloß, die Arbeit nicht abzulehnen, sondern zur Verbesserung zurückzugeben. Was zu verbessern war, sollte aus den von Schmaus in sein Exemplar eingetragenen Randbemerkungen ersichtlich sein.
Eine Umarbeitung, die einen jahrelangen Arbeitsaufwand bedeutet hätte. Doch dann kam Ratzinger der rettende Einfall…
LÄPPLE: Der letzte Teil von Ratzingers Arbeit befaßte sich mit der Geschichtstheologie Bonaventuras, im Vergleich zu der von Joachim von Fiore – und daran hatte Schmaus keine Kritik geübt. Es war ein eigenständiger Teil, der sich ohne große Schwierigkeiten zu einem geschlossenen Ganzen umgestalten ließ. Auch Söhngen war mit Ratzingers Plan einverstanden, den ersten, so unerbittlich beanstandeten Teil einfach herauszunehmen und nur den letzten vorzulegen…
Die Habilitationsschrift wurde angenommen. Am 21. Februar 1957, dem Tag der öffentlichen Habilitationsvorlesung an der Münchner Universität, war der große Hörsaal überfüllt… Können Sie sich noch daran erinnern?
LÄPPLE: Ratzinger hielt seine Vorlesung. Dann fragte Schmaus Ratzinger, ob die Wahrheit seiner Meinung nach etwas Statisches und Unveränderliches oder etwas Geschichtlich-Dynamisches wäre. Aber die Antwort gab nicht Ratzinger, sondern Söhngen – und schon bald wurde ein leidenschaftlicher Disput der beiden Professoren daraus, der einer mittelalterlichen disputatio in nichts nachstand. Das Publikum applaudierte Söhngen. Ratzinger sagte kein Wort. Am Ende sagte der Rektor, daß die Zeit um sei. Da erhoben sich auch Referent und Koreferent und meinten schlicht, er habe bestanden und sei habilitiert…
Wie ging es dann weiter? Ratzinger spricht von „Störfeuern von interessierter Seite“…
LÄPPLE: Ratzinger unterrichtete Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule zu Freising, gleich neben dem Freisinger Seminar, das er in jungen Jahren besucht hatte. Und dann wurde gemunkelt, daß Ratzinger an der neuen pädagogischen Hochschule in München-Pasing als Professor unterrichten würde.
Alfred Läpple bei seiner Primizmesse in  Partenkirchen. 
Sein Zeremoniar war der 20jährige Joseph Ratzinger (Foto rechts).

Alfred Läpple bei seiner Primizmesse in Partenkirchen. Sein Zeremoniar war der 20jährige Joseph Ratzinger (Foto rechts).

Ratzinger spricht von Problemen mit der bischöflichen Kurie. Was meint er damit?
LÄPPLE: Man darf nicht vergessen, daß es während des Krieges keine Priesterweihen gegeben hatte. In den Diözesen und Pfarreien gab es viel zu tun. Man war der Meinung, zunächst die Seelsorge in Ordnung bringen zu müssen, und dann erst an an die Theologie und die Wissenschaft denken zu können. Die Bischöfe sahen es nicht gern, wenn sich jemand der wissenschaftlichen Theologie widmen und promovieren wollte. In Deutschland gibt es aber ein Gesetz, das besagt, daß wenn ein Professor an eine staatliche Universität berufen wird, um dort Theologie zu unterrichten, sich sein Bischof dem nicht widersetzen kann.
Der Ruf ging bald an Ratzinger…
LÄPPLE: Im Sommer 1958 erreichte Joseph der Ruf auf den fundamentaltheologischen Lehrstuhl der Universität Bonn. Kurz darauf ließ ihn Kardinal Wendel – damals Erzbischof von München – zu sich kommen und sagte zu ihm: „Ich darf Ihnen gratulieren, ich habe erfahren, daß Sie als Professor an die pädagogische Hochschule in München-Pasing kommen.“ Worauf Ratzinger antwortete: „Herr Kardinal, das ist wunderbar, aber ich habe hier die Berufung nach Bonn.“ Und dann zog er das entsprechende Schreiben hervor…
Können Sie uns ab­schließend noch eine Episode aus Ihrer langen Freundschaft erzählen, die Ihnen besonders teuer ist?
LÄPPLE: Ja, das war am Tag der Priesterweihe von Joseph und seinem Bruder Georg, am 29. Juni 1951 im Freisinger Dom. Auch ich reihte mich, wie all die


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