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AFRIKA
Aus Nr. 05 - 2003

Ein Haus für die Opfer des Aberglaubens


Die Guanellianer haben in Kinshasa Zentren eingerichtet, die die Wiederaufnahme von Zehntausenden von „Hexenkindern“ in ihre Ursprungsfamilien erleichtern sollen.


von Paolo Mattei


Die Guanellianer sind seit 1996 in Kinshasa, der Hauptstadt eines der Länder, das über einen ungemeinen Reichtum an Bodenschätzen verfügt und doch eines der ärmsten der Welt ist. In Kinshasa leben die sheguè, „Landstreicher“ in der Eingeborenensprache, oder enfants sorciers, „Hexenkinder“, Kinder zwischen vier und sechzehn Jahren, die auf den Straßen der Stadt ihrem Schicksal überlassen wurden. Schätzungen zufolge sollen es zwischen 10.000 und 40.000 sein. Die Patres der 1908 von Don Luigi Guanella gegründeten Kongregation der Diener der Nächstenliebe sind darum bemüht, diese Kinder von der Straße aufzulesen und wieder in ihre Ursprungsfamilien einzugliedern und haben zu diesem Zweck verschiedene Aufnahmezentren eingerichtet. Pater Santiago María Antón, von dem wir mehr darüber wissen wollten, koordiniert die Arbeit dieser Strukturen und arbeitet mit verschiedenen Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen zusammen, wie dem lokalen Ministerium für soziale Angelegenheiten oder den Organisationen „Medicus mundi“ und Unicef.
PATER SANTIAGO IM GESPRÄCH MIT MUSHAGALUSHA, EINEM EHEMALIGEN KINDERSOLDATEN, DER IM KRIEG SEIN GEHÖR VERLOREN HAT. SEINE KAMERADEN MEIDEN IHN, WEIL SIE MEINEN, ER HÄTTE DEN „BÖSEN BLICK.“

PATER SANTIAGO IM GESPRÄCH MIT MUSHAGALUSHA, EINEM EHEMALIGEN KINDERSOLDATEN, DER IM KRIEG SEIN GEHÖR VERLOREN HAT. SEINE KAMERADEN MEIDEN IHN, WEIL SIE MEINEN, ER HÄTTE DEN „BÖSEN BLICK.“


Pater Santiago, für wieviele Kinder sind Sie derzeit zuständig?
PATER SANTIAGO MARÌA ANTON: Wir betreuen derzeit ca. 250, die in vier Instituten untergebracht sind, die sich im Viertel Matete befinden. Drei dieser Strukturen sind Ständige Aufnahmezentren, wo die Kinder untergebracht und verpflegt werden, Kleidung erhalten, eine Schule besuchen können... alles also finden, was ihre Grundbedürfnisse betrifft. Darüber hinaus wird ihnen aber auch dabei geholfen, die Wiedereingliederung in ihre Familien leichter zu gestalten. Das vierte Zentrum öffnet am Morgen und schließt am Abend; dort können jene Kinder, die nicht hier schlafen wollen, Hilfe finden und einen Beruf erlernen.
Sie verfolgen also vor allem den Zweck, sie wieder in ihre Ursprungsfamilie einzugliedern?
PATER SANTIAGO: Ja. Bei ungefähr der Hälfte der Kinder gelingt uns das auch. Leider ist es nicht immer eine definitive Rückkehr, viele enden früher oder später wieder auf der Straße. Oftmals gestaltet es sich auch schwierig, die Ursprungsfamilien ausfindig zu machen. Aber wir sind hartnäckig, und so gelingt es uns fast immer, die Familien zu finden.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, daß diese Kinder sich selbst überlassen werden?
PATER SANTIAGO: Hier haben wir es mit einem neuen sozialen Phänomen zu tun. Die Ursachen sind viele: die makroökonomische Unterentwicklung, die institutionelle Schwäche der öffentlichen Macht und der Instrumente zum Schutz der Kinder, die Kriegswirtschaft, die seit mehr als fünf Jahren andauert und die die Ausgrenzung der ärmsten Gesellschaftsschichten begünstigt, was sich auch auf die Familien ausgewirkt hat... Aber vor allem die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten in die Stadt hatte verheerende Auswirkungen.
Inwiefern?
PATER SANTIAGO: Die Konfrontation der ländlichen Einwanderer mit der Großstadt – ein Mischmasch von europäischen Verhaltensweisen, amerikanischen Neigungen und autochtonen Bräuchen – hat zur Zersetzung des kulturellen und traditionellen Erbes, auf dem das Familienleben im Dorf aufgebaut ist, geführt. In den ländlichen Dörfern gibt es Normen und Hierarchien, die für alle gelten und von allen respektiert werden. Normen, die das zivile Zusammenleben regeln. Mit der von der Armut bewirkten Einwanderung in die Stadt wird dieses System auf einen Schlag wirkungslos, die Vermischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur bewirkt, daß alles weniger klar ist. Vor allen Dingen aber muß ein jeder unter tausend Anstrengungen ums tägliche Überleben kämpfen. Zwar gibt es die Traditionen auch weiterhin, aber nicht länger so systematisch wie im dörflichen Ambiente. In Dingen, die die Lebensanschauung betreffen, herrscht eine gewisse Hysterie, dergestalt, daß wenn eine Familie von einem Unglück getroffen wird, beispielsweise dem plötzlichen Tod eines jungen Familienmitglieds – etwas für die Afrikaner vollkommen Unverständliches –, ein Kind zum Sündenbock abgestempelt, der Hexerei bezichtigt und davongejagt wird. Die Kinder werden in der ländlichen kongolesischen Tradition aber respektiert und würden unter normalen Umständen nie sich selbst überlassen werden. In Wahrheit ist das also nichts anderes als der Versuch, einen Esser mehr loszuwerden. Aber dieses Phänomen ist, wie bereits gesagt, Ergebnis der Konfrontation mit der Großstadt und der bitteren Armut.
Die Stadt bietet nicht viele Möglichkeiten zum Überleben...
PATER SANTIAGO: Im Vergleich zu anderen afrikanischen Situationen schaffen es die Menschen hier noch, wenigstens einmal am Tag etwas in den Magen zu bekommen. Aber das ist natürlich nicht das einzige Kriterium für die Armut. Armut ist es auch, wenn Kinder von der Schule abgehen müssen, weil das Schulgeld nicht bezahlt werden konnte, wenn man sich nicht operieren lassen oder nicht zum Arzt gehen kann, weil kein Geld da ist, wenn 10 Personen auf einem Raum von 30 Quadratmetern zusammenleben müssen, wenn der Großteil der Jugendlichen arbeitslos ist... Dann kann es passieren, daß man bei religiösen Sekten Zuflucht sucht. Es handelt sich dabei um – meist christliche – Sekten, die wie Pilze aus dem Boden schießen.
Was haben diese Sekten zu bieten?
PATER SANTIAGO: Einen Betäubungseffekt. Natürlich im Austausch gegen Geld und Macht. Die Sekten werden immer zahlreicher, sind ein wahres „business“ geworden für jeden, der auch nur einen Funken Schlauheit besitzt. Wer hier Zuflucht sucht, der will die aufgrund wirtschaftlicher oder sozialer Probleme angehäuften Spannungen abladen. Mit kollektiven Gebetspraktiken, die oft begleitet werden von rhythmischem Händeklatschen und Gesängen, die eher an Geschrei mahnen, kann das Sektenmitglied seine Wut ablassen, ist dann ein paar Tage lang ruhiggestellt, wie nach einem Drogenrausch. Natürlich handelt es sich hier um ein Gebet, das keinen Bezug zur Wirklichkeit hat, das vielmehr den Zweck verfolgt, die Realität vergessen zu machen. Und die Konsequenzen sind, daß wann immer sich ein Problem stellt, dieses mit jedem nur beliebigen Mittel verdrängt wird, auch indem man eine negative Ursache dafür sucht – beispielsweise ein „Hexenkind“ – und diese beseitigen will. Diejenigen, welche dieses System leiten, verdienen daran Geld und gewinnen vor allem an Macht, beispielsweise mit der Praxis der Exorzismen.
Und das heißt?
PATER SANTIAGO: Das heißt, daß sich die Gründer und Verantwortlichen dieser Sekten, die die Psychologie der Afrikaner nur allzu gut kennen, als Exorzisten ausgeben und das Hexenkind von dem „bösen Geist“ „befreien.“ Oder sich daran machen, die Präsenz böser Mächte in den Wohnhäusern auszumachen. Sie nutzen also diese Schwächen aus, das Drama dieser Kinder, indem sie es selbst in Szene setzen.
Kommen diese Sekten aus der westlichen Welt?
PATER SANTIAGO: Das ist nicht klar. Der Großteil wurde von Personen gegründet und geleitet, die von hier sind. Aber es ist wahrscheinlich, daß dahinter größere Mächte stehen, die die Menschen ganz nach ihrem Gutdünken manipulieren wollen.



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