Startseite > Archiv > 05 - 2006 > Und da sahen wir sie, die Sterne und die Streifen
DANTE ALIGHIERI IN DER...
Aus Nr. 05 - 2006

Und da sahen wir sie, die Sterne und die Streifen


Das amerikanische Interesse für den Dichterfürsten. Erläutert von einer Dozentin der James Madison University des amerikanischen Bundesstaates Virginia.


von Giuliana Fazzion


Die Abbildungen stammen von 
Sandow Birk, aus Dante, Hölle, Chronicle books, 
San Francisco. Bilder aus der Hölle Dantes, Detail.

Die Abbildungen stammen von Sandow Birk, aus Dante, Hölle, Chronicle books, San Francisco. Bilder aus der Hölle Dantes, Detail.

Dante ist der amerikanischen Kultur seit 1867 kein Unbekannter mehr; jenem Jahr, in dem der Dichter Henry Wadsworth Longfellow die erste amerikanische Übersetzung der Divina Commedia [Göttliche Komödie] anfertigte. 1865 gründete Longfellow in seinem Haus in Cambridge, Massachusetts, einen Zirkel, der sich mit der Übersetzung der Dant’schen Werke befasste. Der Dichter James Russell Lowell, Dr. Oliver Wendell Holmes, der namhafte Historiker George Washington Greene, der Verleger James Fields und Charles Norton, ein Kunstgeschichtler, standen Long­fellow bei der ersten vollständigen Übersetzung der Divina Commedia zur Seite. Aus diesem sogenannten „Dante Club“ wurde 1881 die „Dante Society of America“, deren drei erste Vorsitzende Longfellow, Lowell, und Charles Elliot Norton waren. Vor dieser dank Long­fellow angefertigten Übersetzung war Dante in den USA (d.h. bei der breiten Bevölkerungsschicht) kaum bekannt. Und wen wundert’s: Italienisch wurde dort nicht gesprochen, kaum unterrichtet, Europa lag damals in weiter Ferne, und die wenigen Italiener, die in den USA lebten, waren im ganzen Land verstreut.
Wie war es Dante dann aber doch gelungen, bis nach Amerika vorzudringen? Über England, wo man seit der Renaissance ein reges Interesse für die italienische Sprache und Kultur hegte. Ein Interesse, das mit dem Ende der elisabethanischen Ära zwar abebbte, Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts aber wieder aufleben konnte und sich vor allem auf das dichterische Werk Dantes konzentrierte. So kam es, daß die Divina Commedia zum ersten Mal ins Englische übersetzt und in Übersee von Amerikanern gelesen wurde.
Keinesfalls jedoch ein Fall von „veni, vidi, vici“: wie alle Immigranten aus dem Alten Kontinent mußte sich auch Dante ein paar Jahre gedulden, bis er in dem neuen Land wirklich Fuß fassen konnte.
Aus mancherlei Gründen mag es merkwürdig erscheinen, daß das Interesse für Dante gerade in den Vereinigten Staaten auf so fruchtbaren Boden fallen konnte. Das von der Filmindustrie und einem gewissen Teil der Literatur verbreitete Bild eines aufgeschlossenen, pulsierenden Amerika entspricht nicht ganz der Wahrheit. Eigentlich hat Amerika nämlich eine komplexe und bewegte Geschichte hinter sich und wird auch weiterhin – wie Perry Miller (der sich mit Studien über die puritanische Ideologie befaßte) schrieb –, von religiös-ethischen Spannungen untergraben, die mit seinem Ursprung, ja, seiner Entstehung, zusammenhängen. Diese Sensibilität für den religiös-ethischen Aspekt ist für das Verständnis Amerikas grundlegend. Ein Land, das immerhin „als religiöser Mythos geboren wurde, sich anfänglich in den Traum von einer neuen polis jenseits des Ozeans verwandelte, den Traum von einem neuen Jerusalem, das mit fast schon augustinischer Intensität und einer gleichzeitig dynamischen und aktivistischen Kraft ersehnt wurde. Dieses weite, noch heile Land Amerika bot allen nur erdenklichen Raum für Abenteuerlust und geheimnisvolle Symbolik.“ Trotz der großen Veränderungen und der Tatsache, daß Millionen von Emigranten aus aller Welt in die Neue Welt strömten, war es doch eigentlich das Abenteuer der Puritaner-Gruppen, die auf der Flucht vor der Verfolgung in England im Spätherbst des Jahres 1620 an Bord der „Mayflower“ den Atlantik überquert und in der Nähe von Cape Cod die Kolonie Plymouth gegründet hatten.
Die Puritaner waren rigorose Zelanten, die das protestantische Prinzip der Gewissensfreiheit, der direkten und dramatischen Beziehung zwischen Mensch und Gott fast schon bis zum Fanatismus vertraten. Vor allem aber waren sie sehr empfänglich für Symbole und Allegorien, ordneten Geschehnisse, Personen und Natur in einem – fast schon spätmittelalterlichen – Rahmen ein, voller Zeichen und Figuren. Darüber hinaus hatte sich das Wesen der puritanischen Religiosität – wie ein Schriftsteller in einer Stellungnahme zur amerikanischen Philosophie erklärte – seit seinen Anfängen in eine rigoros logisch-intellektuelle Richtung entwickelt, weshalb ein Verständnis Gottes nur durch die Entwicklung „einer Art Disziplin des menschlichen Geistes“ versucht werden konnte.
Einer Kultur wie der puritanischen, die von einem hartnäckigen, fast schon besessenen In-Sich-Gehen (man denke nur an die Tagebücher der Puritaner) und Themen wie Sünde und Heil geprägt war, muß die italienische Literatur als „voller Unheiligkeit“ erschienen sein. Ja, dem überzeugten Puritaner muß wohl gerade unsere Literatur als Sammelplatz all dessen erschienen sein, vor dem sich ein richtiger Puritaner hüten mußte.
Dante dagegen war der einzige – oder fast –, der noch „durchgehen“ konnte: schließlich verfügte er über eine gewisse ethische Kraft. Auf der anderen Seite hatte sich die protestantische Publizistik bereits durch ihre „antipapale“ Polemik gewisse Ansichten Dantes angeeignet. Ein Beispiel dafür in Amerika ist der namhafte Theologe und Prediger John Cotton, der Dante in eine Reihe von Persönlichkeiten einbaute, die seiner Meinung nach von Gott gerufen sind, für eine „erste Renaissance“ Zeugnis abzulegen, auf die dann, wie er meinte – Werk des Protestantismus – eine vollständige „Auferstehung“ des reinen Christentums folgen würde, gegründet auf den „Dienst des Evangeliums.“

Zwischen Aufklärung und Frühromantik
Aber im 18. Jahrhundert und in der Zeit der Frühromantik wurde der Puritanismus von anderen kulturellen Strömungen beeinflusst, und dank der neuen Einflüsse Newtons, Lockes und der Aufklärung im allgemeinen die „Beziehung zwischen Gott und Verstand“ intensiviert. Während des gesamten 18. Jahrhunderts vermischten sich theologischer Intellektualismus und puritanischer Aktivismus immer mehr mit den gemäßigten Aufklärungshaltungen und Konzepten wie Freiheit und Heil in einem zusehends politisch-konstitutionellen Sinne. Italien und der italienischen Literatur gegenüber war man jedoch nach wie vor misstrauisch, wenngleich auch ehrerbietig. Italien verband man mit zügelloser Leidenschaft, mit faszinierenden, gleichzeitig aber auch verderblichen Verlockungen, die in einer „eleganten Sprache“ zum Ausdruck gebracht wurden. Dante dagegen kam eine Art Sonderstellung zu; ihm brachte man eine ganz besondere Ehrerbietung entgegen. Verstärkt wurde das noch durch die Ausbreitung der ersten Spannungen, der ersten Unruhe der Frühromantik, der Freude am Vortrefflichen und Sublimen. Da darf es also nicht verwundern, wenn die erste, in Amerika erschienene Übersetzung eines Dante-Textes die berühmte Episode vom Grafen Ugolino war; eine düstere, pathetische Erzählung. Veröffentlicht wurde sie 1791 im New York Magazine. Verfasser war William Dunlap, ein Schriftsteller und Maler, wagemutiger Theaterintendant, Regisseur und Kulturmäzen.
Im Jahr 1843 veröffentlichte Thomas W. Parsons in Boston die erste fast vollständige amerikanische Übersetzung der Divina Commedia (die ersten 10 Gesänge der Hölle). Hierzu sei bemerkt, daß sich die Kritiker und Schriftsteller, die über Dante schrieben, am englischen Modell anlehnten. In amerikanischen Intellektuellenkreisen bewirkte der Wunsch nach Unabhängigkeit vom englischen Einfluß aber auch, daß der amerikanischen Kultur neuer Aufschwung gegeben wurde. Diese amerikanischen Intellektuellen „machten“ Revolution, indem sie neue Kunst- und Literaturströmungen aus dem europäischen Kontinent importierten. An oberster Stelle stand dabei unangefochten Dante: ihm hatten sich die Intellektuellen auf ihrer Suche nach der Schönheit neuer Welten, neuer Denk- und Kunsthorizonte zugewandt. Ihm errichteten sie ein Denkmal, gleich neben Shakespeare und Milton, und er wurde fast schon das Symbol einer kosmopolitischen Kultur, dem man als Vorbild für eine unmittelbar bevorstehende Zukunft nacheifern mußte. Im Kielwasser dieser Bewegung erwachte bei vielen amerikanischen Studenten und Gelehrten der Wunsch, nach Europa zu reisen, vor allem nach Florenz, Rom, Venedig und Paris. Und jetzt, wo man sie endlich besser kannte, gab man der italienischen Kultur sogar einen höheren Stellenwert als der französischen. In einem Artikel des Jahres 1817 in der Zeitschrift North American Review stand zu lesen, daß sich die italienische Sprache sehr viel besser als die französische für dichterische Kompositionen eignete; sie hätte eine größere Würde und Ausdruckskraft, wäre von unermesslicher Süße und Harmonie. Die Literaturfachzeitschriften North American Review und American Quarterly Review veröffentlichten im Zeitraum 1815-1850, dem Jahr, in dem letztere geschlossen wurde, sehr viel mehr Essays, Artikel und Anmerkungen zur italienischen Literatur, Kunst und Geschichte als europäische Länder wie Deutschland und Frankreich. Bereits im Jahre 1822 wurden englische Übersetzungen der Werke Dantes, Petrarcas, Ariostos und Tassos in Amerika gedruckt. 1850 konnten 103 italienische Texte (einige davon Neuauflagen bereits in England erschienener Übersetzungen und neue, in Amerika verfasste Versionen) in amerikanischen Druckereien Einzug halten. Diese Zeit entspricht der Romantik, der ersten Begegnung Amerikas mit dem Mittelalter. Und was konnte einen besseren Zugang zur Welt des Mittelalters ermöglichen als die Divina Commedia, die den Amerikanern ein komplettes Bild dieser historischen Epoche lieferte, den Schlüssel zur Dichtkunst, zur Philosophie und zur Theologie, zum religiösen und politischen Denken des Mittelalters? Im 1. Gesang der Hölle sagt Dante, daß „Eifer“ und „Liebe“ der Preis sind, den man bezahlen muß, wenn man das Geheimnis der Kunst und des Denkens des Mittelalters durchdringen will, deren sublimste Ausdrucksform eben gerade die Divina Commedia ist. Viele Jahre harter Arbeit und Beharrlichkeit mußten noch ins Land ziehen, bis Dante und das Mittelalter den Platz erobert hatten, den sie heute in der amerikanischen Kultur einnehmen.
Paolo und Francesca.

Paolo und Francesca.

Wie bereits erwähnt, wurde die erste amerikanische Übersetzung eines Textes Dantes (die Episode um Graf Ugolino) 1791 veröffentlicht.
Eine der ersten Übersetzungen, die nach Amerika kamen, war die des englischen Schriftstellers Henry Cary, der 1805 die Hölle und 1814 die ganze Divina Commedia übersetzte.
Aber auch so gute Übersetzungen wie die Carys konnten kein wirklich gutes Verständnis der Kunst des großen Dichters ermöglichen, wenn man die Sprache nicht beherrschte, in der die Commedia geschrieben wurde.
Der erste offizielle Italienischlehrer in Amerika war Carlo Bellini, der im Jahr 1779 dank der Hilfe seines Freundes Filippo Mazzei und der Empfehlung von Präsident Thomas Jefferson einen Lehrstuhl an der Sprachwissenschaftlichen Fakultät der „William & Mary“-Universität erhielt, wo er Vorlesungen über Dante hielt. Er hatte diesen Lehrstuhl bis 1803 inne.
In einem New York, das damals noch nicht viel mit der heutigen Metropole gemeinsam hatte, ließ sich 1805 auch Lorenzo Da Ponte (1749-1838) nieder: der abenteuerlustige, aus Venedig verbannte Literat war zunächst nach Dresden und Wien gereist, an den Hof von Kaiser Joseph II., wo er für Mozart das Libretto für di Nozze di Figaro, Così fan tutte und Don Giovanni geschrieben hatte. Nach manch turbulentem Liebesabenteuer und der ein oder anderen Intrige kehrte er Wien den Rücken und ging nach London. Er heiratete eine Engländerin und ließ sich dann in Amerika nieder, wo er die erste Privatschule aufmachte, an der Italienisch unterrichtet wurde – nun endlich von einem kompetenten Lehrer. 1807 gründete Da Ponte die Akademie von Manhattan, an der er und seine Frau Lateinisch, Französisch und Italienisch lehrten. Im gleichen Jahr veröffentlichte er in New York eine kleine Autobiographie in italienischer Sprache; im Anhang konnte man die Übersetzungen der Erzählung vom Grafen Ugolino sowie Ausschnitte aus der Hölle nachlesen. Dieses Buch, das Da Ponte für seinen Unterricht zusammengestellt hatte, ist deshalb so wichtig, weil es sich dabei um den ersten Text in italienischer Sprache handelt, der in Amerika gedruckt wurde. Er liebte Dante, und seine Studenten hatten kaum gelernt, die Verben, Adjektive und Substantive zu gebrauchen, da ließ er sie auch schon die Divina Commedia lesen und hielt sie dazu an, einige Verse daraus auswendig zu lernen. Der Ruf des Columbia College, wo er Italienisch unterrichten sollte, ließ nicht lange auf sich warten, und auch dort baute er Dante in seinen Unterricht ein. Während Da Ponte in New York unterrichtete, ließ sich in Boston ein junger Sizilianer nieder, Pietro D’Alessandro, ein romantischer Poet in politischem Exil, der sich mit Italienischunterricht über Wasser hielt. Schon bald kam noch ein anderer Sizilianer dazu, Pietro Bachi, der über eine umfassende Bildung verfügte und schon bald an der Harvard University Italienisch unterrichtete, wo er – der erste Italienischprofessor – später Assistent von George Ticknor wurde. Letzterer, Professor für Sprachwissenschaften und ausländische Literatur, widmete Dante 1831 einen ersten Vorlesungskurs. Ticknor blieb bis 1835 in Harvard; auf seinem Lehrstuhl folgte ihm Henry Wadsworth Longfellow nach. Longfellow begann schon bald, seinen Unterricht intensiv auf Dante auszurichten – und daran änderte sich in den nächsten 20 Jahren nichts, also in der gesamten Zeit, in der er in Harvard lehrte. Im Wintersemester 1838 las Longfellow seiner Klasse den Läuterungsberg vor und kommentierte ihn. In dieser Zeit begann er auch damit, Verse des Läuterungsberges ins Englische zu übersetzen. Mit der systematischen Übersetzung des Läuterungsberges begann Longfellow 1843, aber es war ein sehr langsamer Prozess, und das auch aus dem Grund, weil er sich in den darauffolgenden 10 Jahren den Original-Texten widmete. 1853 war die Übersetzung fertig. Nach einer weiteren langen Pause – ausgelöst vom tragischen Tod seiner Frau – machte er 1861 mit der Übersetzung der Divina Commedia weiter. Dieses Mal konnte ihn nichts abhalten: 1863 war die Übersetzung der Hölle fertiggestellt. 1867 die Divina Commedia vollständig übersetzt.
Es hat bessere Übersetzungen gegeben – beispielsweise die von Cary und Wright –, aber es waren englische Übersetzungen. Die Übersetzung Longfellows war ein Tribut Amerikas an das unsterbliche florentinische Genie.
James Russell Lowell (1819-1891) trat 1855 in Longfellows Fußstapfen. Er ist zwar nicht berühmt dafür, die Divina Commedia übersetzt zu haben, aber er ist immerhin der Verfasser eines wichtigen Essays über Dante. In Harvard war er bekannt für seine Vorlesungen über den Dichterfürsten. Im Jahr 1877 wurde er Außenminister und im Rahmen dieser Tätigkeit nach Spanien geschickt. Seinen Lehrstuhl übergab er einem Kollegen und Freund: Charles Norton.
Norton (1827-1908), Verleger, Professor für Kunstgeschichte sowie großer Freund und Bewunderer Longfellows, wurde der neue Dante-Lehrer in Harvard. Seine Begeisterung für Alighieri brachte ihn dazu, sich intensiv mit dem Dichter und dessen Welt zu befassen. Seine große Empfänglichkeit für die Schönheit des Dichtwerkes, der Enthusiasmus, mit dem er andere anzustecken verstand, bescherten ihm viele Freunde und Bewunderer nicht nur in Amerika, sondern auch in England und in Italien. So konnte er sich bei Dante-Experten in ganz Europa einen Namen machen.
Norton engagierte sich sehr für die Gründung der „Dante Society“ in Cambridge. Im Februar 1881 fand im Hause Longfellow, wo bereits 1865 der Zirkel der Dante-Übersetzungen gegründet worden war, eine „Lagebesprechung“ statt: man beschloß, die Gesellschaft zu gründen, deren Präsident Longfellow wurde. Doch schon zwei Monate später, im Mai 1882, starb Longfellow, und das Amt des Präsidenten ging auf Lowell über. 1891, nach Lowells Tod, wurde Norton der neue Präsident; ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1908 innehatte.
1887 bestimmte die „Dante Society“ von Cambridge, daß jedes Jahr „Studenten oder Jungakademiker, die in Harvard studiert hatten, für den besten Essay zu einem Dante-Thema“ ausgezeichnet werden sollten. Diese Tradition wird noch heute beibehalten.
Die amerikanischen Bestrebungen, alles über Italien zu lernen, seine Kunst, seine Literatur, waren wie bereits gesagt von England ausgegangen. Von 1830 an begannen die Amerikaner aber dann, zu reisen und Italien selbst zu entdecken. In den amerikanischen Konsulaten der größten italienischen Städte gab es nicht viel zu tun, und so konnten sich die Konsuln intensiv mit der Sprache, Literatur, Kunst und Geschichte des Landes befassen. All diese Erfahrungen wurden in Büchern und Tagebuchaufzeichnungen festgehalten, die das amerikanische Publikum mit großem Interesse las.
In Übersee gab es aber noch ein weiteres Phänomen, das zu einer besseren Kenntnis der italienischen Literatur in den USA beitrug. In der postnapoleonischen Epoche gab es viele Italiener eines gewissen Kulturkreises, die vom Fehlschlagen verschiedener Revolutionsvorhaben dazu getrieben wurden, in den USA Asyl zu suchen. Über Wasser halten konnten sich die meisten, indem sie Italienisch und italienische Literatur unterrichteten. So lernte das amerikanische Volk Italien kennen, lernte die Schönheit seiner Natur und Kunst zu schätzen und erfuhr mehr über die große Geschichte dieses Landes.
Die Städte Florenz und Rom übten einen unwiderstehlichen Reiz auf die Amerikaner aus. Junge amerikanische Künstler kamen nach Florenz – und gingen nie wieder fort. Der Name Florenz war untrennbar mit Dante verknüpft und wer sich intensiv mit der Divina Commedia beschäftigte, war überzeugt davon, daß man sie nicht verstehen könne, wenn man nicht in Florenz gewesen war.
Im 19. Jahrhundert erschienen in literarischen Fachzeitschriften immer wieder Essays über Dante. Keiner davon befaßt sich jedoch mit Dingen wie Allegorie oder Symbolismus – erwähnt werden nur die Geschichte der Stadt Dantes, seine romantische Liebesgeschichte, seine politischen Abenteuer, bis hin zu seinem Exil.
In der Zeit zwischen 1880 und 1890 erreichte das Interesse für Dante seinen Höhepunkt: damals erlebten die USA einen Moment allgemeiner kultureller Blüte. Sehen kann man das an den vielen Veröffentlichungen über Dante in dieser 10-Jahres-Periode. Zwei Dinge sind jedoch sehr interessant: zunächst einmal stammen diese Veröffentlichungen aus Zentren wie Chicago, St. Louis, St. Paul und Denver, aber auch aus dem Süden und dem westlichen Teil des Landes; und dann wären da noch die amerikanischen Schriftstellerinnen, die schon immer eine wichtige Rolle in der lokalen Geschichte gespielt hatten, dieses Mal aber entschieden zur Vermehrung des Ruhmes des florentinischen Dich­ters beitrugen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Schriftstellerin Susan E. Blow, deren Artikel in einem Buch mit dem Titel A Study on Dante gesammelt und veröffentlicht wurden. Dieses Buch stellt den ersten Versuch eines amerikanischen Dante-Experten dar, die Struktur der Divina Commedia zu dem Zwecke zu analysieren, die philosophische und spirituelle Bedeutung seiner Allegorie zu entdecken.
Mit dem Ausklang des 19. Jahrhunderts und der Romantik, in einem Land, das nunmehr ganz im Zeichen der wissenschaftlichen Entdeckungen stand, kam es auch im Bereich der Literatur und der Kunst zu Veränderungen. Die Tendenz ging nun in Richtung Realismus, und Dante, der Held der Romantik, schien seine große Faszination endgültig verwirkt zu haben. Mit ihm befaßte man sich aber dennoch auch weiterhin im ganzen Land sehr intensiv. Neue Bücher und Schriften, nicht länger von Dilettanten, sondern von namhaften Gelehrten geschrieben, konnten nun in Intellektuellenkreisen große Beachtung finden. Trotz der Veränderungen im Denken und in den Tendenzen konnte Dante nichts von dem Podest stürzen, auf das ihn die drei namhaften Cambridge-Professoren und ihre Nachfolger gestellt hatten.

An den Pforten des inneren Höllenbereichs, „Città di Dite.“

An den Pforten des inneren Höllenbereichs, „Città di Dite.“

Das 20. Jahrhundert
Auch für das 20. Jahrhundert gilt: Dante „is still alive and well.“ Aus der „Dante Society“ war 1954 die Aktiengesellschaft „Dante Society of Amerika Inc.“ geworden; ihr Annual Report galt als eines der wichtigsten Nachschlagwerke: hier wurde man eingehend über alle Dante-Studien informiert, hatte Gelegenheit, Essays, Neuigkeiten und oft hoch interessante Abhandlungen zu lesen. Die Society verfügt an der Harvard University über einen reichen Bestand an Dante-Literatur, dem zweitgrößten Amerikas, gleich nach dem von dem Gelehrten Daniel Willard Fiske der Cornell University vererbten. Die Society ist auch in Sachen Promotion aktiv, wie beispielsweise dem „Dante Prize“, einer Auszeichnung für Habilitationsschriften über mit Dante zusammenhängende Themen.
Die amerikanische Dante-Begeisterung hat inzwischen viele Früchte hervorgebracht. Wie beispielsweise die große Zahl der Dichter des 20. Jahrhunderts, die von Dante beeinflußt wurden. Vor ein paar Jahren wurde ein Buch herausgegeben mit dem Titel The Poets’ Dante, eine Sammlung der Essays berühmter Dichter des 20. Jahrhunderts. Die Herausgeber, Peter Hawkins (Professor für Religionsstudien an der Universität Boston) und Rachel Jacoff (Professorin für vergleichende Literatur und Italienische Studien am Wellesley College), berichten in der Einleitung, daß auch sie – wie der Großteil der Leser Dantes – durch Ezra Pound und Thomas S. Eliot mit ihm in Kontakt gekommen waren. In ihren Kursen zur Erreichung des Master-Titels an der Englischen Fakultät wurde Italienisch die Sprache, die man lernen mußte, um sich mit Dante befassen zu können. Für sie war Dante wirklich „der größte unter den Dichtern“, und gerade deshalb lasen sie vor allem James Merrill, Gjertrud Schnackenberg, Charles Wright, Seamus Heaney, Dichter, die eine große Affinität mit Dante hatten und denen sie sich verpflichtet fühlten, weil sie von ihnen inspiriert worden waren. Daher der Gedanke, zeitgenössische Essays zu sammeln, die von ihrer ersten „Begegnung“ mit Dante berichten; erzählen, was sie an ihm angezogen, was sie auf Distanz gehalten hat, und inwiefern seine Schriften ihre Arbeit beeinflusste. Hier finden wir Essays von Ezra Pound, Thomas S. Eliot, Osip Mandelstam, Robert Duncan, Howard Nemerov, Seamus Heaney, Jacqueline Osherow, Robert Pinsky, Rosanna Warren, Daniel Halpern, Mark Doty, den wunderschönen Aufsatz von Jorge Luis Borges, usw.

Amerikanische Übersetzungen der Divina Commedia
Derzeit gibt es mehr Übersetzungen Dantes in englischer denn jeder anderen Sprache; in den USA wird mehr übersetzt als in anderen Ländern. Der Dichter Eliot schrieb 1929, daß sich Dante und Shakespeare die moderne Welt teilen: der Hälfte der Welt, die Dante „gehört“, wird jedes Jahr größer. Im Jahr 1989, ca. sechzig Jahre nach dieser Aussage Eliots konnte der Schriftsteller Stuart McDougal feststellen, daß der Einfluß Dantes auf den Großteil der Schriftsteller der Moderne den Shakespeares weit überholt hat. Dante ist nämlich der crossover gelungen. Er „emigrierte“ vom literarischen, kulturellen und akademischen Bereich in die Welt hinaus und konnte sowohl gebildete als auch weniger gebildete Kreise begeistern.
Das 20. Jahrhundert ist die Periode der großen Übersetzungen. Und daher hat im 20. Jahrhundert auch eine Debatte begonnen, die in einem gewissen Sinne noch heute in Gang ist: soll die Übersetzung in Prosa oder Versform sein? Einige sind gegen englische Übersetzungen, die die Terzine gebrauchen, und zwar aus folgenden Gründen: 1) das Englische ist arm an Reimen; 2) das „Terzinen-Machen“ eignet sich nicht für die Sprache; 3) der Vers im Englischen eignet sich nicht für die konstante Bildung von Reimen.
Traduttore traditore [frei übersetzt: Wer übersetzt, betrügt]. Jeder Dante-Übersetzer kann ein Lied davon singen. Anerkannt wird hier die Schwierigkeit, Dante gerecht zu werden, den schon Byron „den am schwersten zu übersetzenden Dichter überhaupt“ nannte. So gibt es keinen Übersetzer, dem nicht bewußt wäre, daß sich dann, wenn man gewisse Aspekte der Poesie beibehalten will, andere bei der Übersetzung verlieren. Und viele dieser Übersetzer stimmen Dorothy Sayers zu, deren größtes Kompliment es ist zu sagen, daß ihre Übersetzungen den Wunsch wach werden lassen, Dante in der Originalsprache zu lesen.
Was erwartet man sich von einer Übersetzung? Daß sie das Gefühl und den Sinn des Originaltextes vermittelt. Im Falle der Divina Commedia scheiden sich die Geister derer, die behaupten, Gefühl und Sinn des Werkes ließen sich am besten durch eine in Versen gehaltene Übersetzung vermitteln und anderer, die vielmehr für eine Prosa-Übersetzung sind. Viele Kritiker sind sich jedoch dahingehend einig, daß beide Arten der Übersetzung ihre Vorteile haben. Die in Prosa vermittelt besser den wortwörtlichen Sinn, die Vers-Version dagegen die Dynamik und den Rhythmus der Dant’schen Dichtkunst. Für das Studium des Meisterwerkes Dantes verwendet man in den USA dual language-Ausgaben, in denen dem links abgedruckten Originaltext rechts die Übersetzung gegenübergestellt ist. Der Dichter Thomas S. Eliot und andere haben behauptet, gerade anhand dieser Ausgaben gelernt zu haben, Italienisch zu lesen.

Die an amerikanischen Universitäten
meist gebrauchten Übersetzungen
John D. Sinclair (Prosa) (dual language). Diese Ausgabe ist bis zum heutigen Tage die gebräuchlichste. Sinclair wählte Prosa zu dem Zwecke, eine – mehr oder weniger – wortgetreue Übersetzung des italienischen Textes in ein gutes Englisch umzusetzen.
Diese Übersetzung ist bekanntlich sehr genau und in einem ausgesprochen eleganten Englisch. Erklärende Anmerkungen, die von vielen Professoren als „überaus gelungen“ betrachtet werden, ergänzen einen jeden der Gesänge. Sie stellen eine Zusammenfassung des Gesanges dar; enthalten Erläuterungen des Autors zum historischen Teil, den ästhetischen Eigenschaften und den ein oder anderen kritischen Ansatz. Am Ende eines jeden Gesangs finden sich nummerierte Anmerkungen, die einige Textstellen hervorheben.
Charles S. Singleton (Prosa) (dual language). Hierbei handelt es sich um eine sehr klare, genaue Übersetzung. Jedes Lied besteht aus zwei Teilen; einer enthält den Text und die Übersetzung, der andere die Kommentare zu Theologie und Mythologie, linguistische, historische und biographische Analyse. Was fehlt, sind die Zusammenfassungen der Gesänge.
John Ciardi (Poesie). Eine sehr bekannte Übersetzung, wenngleich nicht unumstritten. Die Kritik wirft ihm eine gewisse, nicht unbedingt notwendige „dichterische Freiheit“ vor.
Mark Musa (Hölle) (Poesie). Diese Version wird an vielen Colleges gebraucht. Musa hat im Namen einer genauen Übersetzung auf den Reim verzichtet. An der Harvard Universität benützt man eine Übersetzung von Jean und Robert Hollander für das Studium der Hölle und des Läuterungsberges, und die Mandelbaums für das Paradies.

Schlussbemerkung
Im Sommer 1999 widmete sich die Rubrik „Bookend“ der New York Times dem Schöpfer des Comic Strips, Seymour Chwast, der sich dieses Mal mit der Divina Commedia befasste. Der Titel lautete: Dantes Göttliche Komödie: Das Diagramm. Diese amüsante Darstellung der drei Reiche gab dem Leser der jeden Sonntag erscheinenden Rubrik einen schematischen Einblick in die Komödie Dantes. Hier drängt sich eine Frage auf: warum fand sich dieser Comic Strip – ohne sichtliche Erklärung – in einer der namhaftesten, ja vielleicht meist verkauften Zeitungen der Welt? Und wie konnte die New York Times davon ausgehen, daß die Göttliche Komödie dem Durchschnittsleser ein Begriff war?
Dante kennen nicht nur jene, die das Werk zumindest einmal gelesen haben, sondern auch die – und das sind weitaus mehr –, die es nicht einmal durchgeblättert haben. Dante ist aus der amerikanischen Kultur nicht wegzudenken – was man auch an verschiedenen amerikanischen Filmen sieht: Clerks (1994), Seven (1995), Dante’s Peak (1997) – sie alle enthalten Anspielungen auf den Dichterfürsten. Es gibt sogar eine Rockgruppe namens „Divine Comedy“: ein Name, der sich garantiert einprägt. In den Vereinigten Staaten heißen viele Restaurants und Bars „Dante’s Inferno“. Letzterer Name steht im Journalisten-Jargon für besonders kritische soziale und politische Situationen. Wie man also sieht, ist der Stern Dantes in den letzten siebenhundert Jahren nicht untergegangen – und wird auch nie untergehen, weil seine Botschaft universal und aktuell ist.


Italiano Español English Français Português