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EDITORIAL
Aus Nr. 06/07 - 2006

Der sechzigste Jahrestag


Die 60-Jahr-Feier der Verfassungsgebenden Versammlung fand vor dem Hintergrund des Referendums über die vom Parlament – ohne die gewollte Vertiefung – auf Initiative der Rechts-Mitte-Mehrheit an der Charta vorgenommenen Modifizierungen in einem ganz besonderen Klima statt


von Giulio Andreotti


Eine Demonstration auf den Straßen Mailands.

Eine Demonstration auf den Straßen Mailands.

Die 60-Jahr-Feier der Verfassungsgebenden Versammlung fand vor dem Hintergrund des Referendums über die vom Parlament – ohne die gewollte Vertiefung – auf Initiative der Rechts-Mitte-Mehrheit an der Charta vorgenommenen Modifizierungen in einem ganz besonderen Klima statt. Zunächst wurde versucht, Zweifelnde und Kritiker zu besänftigen, indem man bekräftigte, daß die Debatte bei der Begegnung der beiden Kammern stattfinden würde. Dem war aber nicht so. Als der Text im Senat einging, erteilte die Lega Nord den Mitbewohnern des „Hauses“ [Casa della Libertà, Gesamtheit der mit der Partei Berlusconis verbündeten Parteien] das absolute Verbot, an diesem auch nur ein Komma zu ändern.
Und wenn ich mich, als Veteran von 1946, auch davor hüten möchte, nostalgisch zu werden, kann ich mich doch erinnern, daß der Versammlung eine gründliche Konsultation der Universitäten vorausgegangen war – auf Anraten des Ministeriums für die Verfassungsgebende Versammlung –; die Parteien hatten Studien und Reflexionstage anberaumt, wenn die Hauptdebatte dann genaugenommen auch die zwischen Monarchisten und Republikanern gewesen war, vor allem in den letzten Tagen (am 9. Mai hatte der König abgedankt).
Ich kann mich noch gut an die Wahlkampagne erinnern (auch, weil es für mich die erste war), bei der die Bemühung, die institutionelle Wahl und die Statutennorm deutlich auseinanderzuhalten, unsere ganze Geschicklichkeit erforderte.
Das Wort Republik bedeutete – zumindest im in Rom gängigen Sprachgebrauch – schon immer Konfusion, ja, was sage ich: Riesenkonfusion. Ich weiß nicht, ob dahinter ein unterschwelliger Rachegedanke der „Papalini“ von Pius IX. steckte: so war es einfach. Dazu kommt noch, daß Pietro Nenni in der für ihn typisch ungestümen Art den Schlachtruf geprägt hatte: „Die Republik oder das Chaos“ und dem Modell, für das er kämpfte, damit gewiß keinen gemäßigten Anstrich gab, sondern erreichte, daß es noch mehr Angst einflößte als das von Togliatti, der sich in der Regierung Salernos den Ruf des Versöhners erworben hatte.
Wie mißtrauisch man in katholischen Kreisen der Republik gegenüber eingestellt war, war kein Geheimnis; und es war kein Zufall, daß der Vatikan, der um die republikanischen Überzeugungen Don Luigi Sturzos wußte, dessen Rückkehr aus dem Exil zu verhindern gewußt hatte. Weshalb er auch bis nach dem Referendum warten mußte. Der Papst schickte den Apostolischen Nuntius, um dem König nach der Niederlage ein paar Trostesworte zu überbringen. Er empfing ihn persönlich vor der Abreise nach Portugal und erwirkte, daß ihm mit einem (später regulär „zurückgezahlten“) Darlehen geholfen wurde.
Meine persönliche Erfahrung der Ereignisse vom Juni 1946 habe ich auch in einen von La Civiltà Cattolica veröffentlichten Artikel einfließen lassen, der sehr viel Beachtung fand.
Als der Vorsitzende des Kassationshofs am Nachmittag des 10. Juni nach Verlesen der Referendumszahlen die bizarre Vertagung der Sitzung ankündigte, um „den in der Zwischenzeit eingelegten Berufungen Rechnung zu tragen“, begannen – so die Chroniken – Tage der Ungewißheit und Konfusion, die auch im Tagebuch von Herzog Falcone Lucifero, Minister des Königlichen Hauses, beschrieben wurden. In den Jahren darauf habe ich mehrmals mit ihm darüber gesprochen und bin zu der Überzeugung gelangt, daß der König zu De Gasperi offener gewesen war als zu seinen direkten Mitarbeitern.
Nach der eben erwähnten, feierlichen Sitzung begleitete ich den Ministerpräsidenten ins Quirinal, natürlich nur bis an die Tür des Büros. Als wir, nach der Sitzung, im Auto saßen, teilte mir De Gasperi – sichtlich entspannt – mit, daß der König drei Tage später abreisen würde; und so war es auch, obwohl ihm illustre Juristen geraten hatten, noch zu warten.
Schon bald konzentrierte man sich auf die Verfassungsgebende Versammlung, die ihre Arbeit am 25. Juni aufnahm. Ihre Aufgabe war die Ausarbeitung der Charta; dem Ministerrat blieb die ordentliche Gesetzgebung überlassen. Einziges „Intermezzo“ war die Debatte über den Friedensvertrag, bei der Vittorio Emanuele Orlando den unglückseligen Ausdruck „Begehrlichkeit der Unterwürfigkeit“ prägte.
Die Abgeordneten der verschiedenen und gegensätzlichen Strömungen arbeiteten mit einer neuen, überraschenden Konvergenz an der Verfassung. Als es (Ende Mai ’47) zum aufsehenerregenden Bruch der Regierungskoalition kam, fürchtete man, daß es mit dem Klima der Kooperation in Montecitorio [Abgeordnetenkammer] vorbei sein könnte. Dem war nicht so. Togliatti, Calamandrei, La Pira, Dossetti ließen sich von ihrem täglichen Streben nach Konvergenz nicht abhalten – so als wäre im Viminale [Sitz des Innenministeriums] und im Land nichts geschehen. Das ist das Geheimnis der Gültigkeit der Charta. Die Kommunisten sollten 29 Jahre brauchen, um ihr Votum gegen die christdemokratischen Regierungen aufzugeben, aber an der Basis des nationalen Lebens blieb die – im Dezember 1947 fast einstimmig gewählte – Verfassung für alle Garantie und Verhaltensmaßregel. Und tatsächlich: als der Gedanke einer Europäischen Gemeinschaft reifte, wurde die vollkommene Übereinstimmung mit Artikel 11 der Verfassung anerkannt: „Italien... stimmt unter der Bedingung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten den Beschränkungen der staatlichen Oberhoheit zu, sofern sie für eine Rechtsordnung nötig sind, die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet; es fördert und begünstigt die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse.“
Jene, die die Berlusconischen Verfassungsänderungen vorgeschlagen haben, versichern – was theoretisch stimmt –, daß niemand die im ersten Teil gegebenen Prinzipien und Garantien verändern will: aber wir „Gegner“ fürchten dennoch, daß dann, wenn sich die Gleichgewichte der Strukturen verändern, diese Gewähr Illusion werden könnte.
Die Eröffnungssitzung der Verfassungsgebenden Versammlung in der Aula von Montecitorio 
(25. Juni 1946).

Die Eröffnungssitzung der Verfassungsgebenden Versammlung in der Aula von Montecitorio (25. Juni 1946).

Man muß nur an die heikle Stellung des Staatspräsidenten im System denken, dessen „Machtbefugnisse“ sich mit vorbildlicher Elastizität den [Siebenjahres-] Mandatsinhabern angepaßt haben. Dem Quirinal die Auflösung der Kammern zu entziehen, um sie nun dem Premierminister (nicht länger „Ministerpräsident“) zuzuweisen, ist eine keineswegs geringfügige Innovation des Systems. Auch die Abschaffung der Präsidentialdekrete und die jetzige Unterbreitung von Gesetzesvorschlägen im Parlament ist besorgniserregend. Und was soll man erst über die praktische Abschaffung des mit einem so pompösen Adjektiv („Bundes-“) versehenen Senats sagen, der nur noch reine Beratungsfunktion hat?
Man hat auch versucht, die Vorteile der Reform anzupreisen, indem man betonte, daß sie die Zahl der Parlamentarier reduzieren würde (die der Abgeordneten von 630 auf 518, die der Senatoren von 315 auf 252). Der Gipfel der Fehlinformation war, daß behauptet wurde, unser Parlament wäre das „dicht bevölkertste“ Europas; wo das Londoner House of Commons doch 646 Abgeordnete hat – verglichen mit unseren 630 – und das House of Lords 733.
Die Wahlbeteiligung am Referendum war höher als vorgesehen: sehr gut. Die Nein-Stimmen konnten mit einem nicht unbedeutenden Vorsprung überwiegen.
An diesem Punkt angelangt meint man an beiden Fronten, daß Modifizierungen, auf der Suche nach einem Konsens, noch zur Diskussion gestellt werden können. Ich bin der Meinung, daß hier Vorsicht angesagt ist. Eine „Auszeit“ zum Überlegen ist notwendig, und von den Universitäten und Gemeinden sollten diesbezügliche Vorschläge und Perspektiven kommen.
Wenn – wie wir doch hoffen wollen – die Europäische Union ihren aufstrebenden Kurs auch weiterhin verfolgt, wird die allmähliche Integration vielleicht Verfassungsänderungen mit sich bringen.
Vielleicht sind meine Überlegungen von Nostalgie getrieben (am Tag der Eröffnung im denkwürdigen Jahr 1946 saß ich, als Jüngster, neben Vittorio Emanuele Orlando, der in seiner Eigenschaft als Dekan die Sitzung leitete). Aber die Verteidigung der Verfassungsgebenden Versammlung hat dennoch einen Wert, der verstanden und mit Nachdruck verteidigt werden muß.


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