Die Initiative Gorbatschows
Wie bei positiven Veranstaltungen leider oft üblich, hat die Initiative Präsident Gorbatschows, in Turin ein konstruktives Forum zur politischen Bewertung der heutigen, leider oft kritischen und besorgniserregenden internationalen Situationen ins Leben zu rufen, in den Medien kein großes Echo gefunden. Die piemontesischen Institutionen haben diese Veranstaltung jedoch kräftig unterstützt: der „Austragungsort“, ein antikes Kloster in Boscomarengo, wurde von der Provinz Alessandria zur Verfügung gestellt.
Giulio Andreotti
Momentaufnahmen von dem bei der Büchermesse in Turin abgehaltenen World Political Forum vom 19.-20. Mai.
Der Appell Gorbatschows war keineswegs auf taube Ohren gefallen. Und wer nicht dabei sein konnte, schickte eine Nachricht, um sein tiefes Bedauern darüber zum Ausdruck zu bringen (was sicher nicht die übliche Höflichkeitsfloskel war!). Die Beunruhigung über den turbulenten, nicht selten krumme Wege einschlagenden Lauf unserer Geschichte hat sich mehr oder weniger überall spürbar gemacht. Vor allen Dingen ging es einmal darum – was sich von selbst verstand und von allen zum Ausdruck gebracht wurde, angefangen bei Cossiga, Colombo und mir selbst, den drei italienischen Adressaten der Einladung –, sich nicht dazu hinreißen zu lassen, die Gegenwart an einer verherrlichten Vergangenheit zu messen. Vielmehr ist es notwendig, alles daran zu setzen, neue Modelle für eine internationale Entente zu finden.
Michail Gorbatschow ist im Grunde – woran er scherzend erinnerte – der Verantwortliche für das Ende des Kalten Krieges und die Auflösung der Sowjetunion. Die Tatsache, daß nun nur noch ein Weltmachtzentrum übriggeblieben ist, könnte bewirken, daß wir – welch Paradox! – dem Bipolarismus eines Tages vielleicht noch nachweinen werden. Und schließlich hat Gorbatschow derzeit in der russischen Föderation keinen besonders starken Stand (doch wer ist schon Prophet im eigenen Land!): wenn ihm Putin auch einen Respekt entgegenbringt, den er von Jelzin wirklich nicht erwarten konnte. Einige seiner persönlichen und sehr mutigen Initiativen (man denke nur an die Auflösung der kommunistischen Partei oder an die Unterstützung der Wiedervereinigung Deutschlands) mußten unweigerlich zu Mißklängen führen. Hier muß auch gesagt werden, daß er vom Westen keinerlei Hilfe erhalten hatte. Ich kann mich noch gut an den Londoner G-7-Gipfel erinnern, zu dem er mit Primakow gekommen war. Er hatte damals unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er nicht nur finanzielle Unterstützung bräuchte, sondern vor allem Verständnis und die notwendige Zeit, um eine stufenweise, artikulierte Klärung der Frage der sich grundlegend voneinander unterscheidenden Republiken herbeiführen zu können. Der Nachdruck, mit dem man darauf beharrte, den baltischen Ländern ihre Souveränität zurückzugeben, ging damit eindeutig auf Kollisionskurs.
Doch der erhoffte Erfolg blieb aus. Nur Mitterrand und die italienische Delegation bemühten sich darum, ihm den gewünschten Kredit zu verschaffen – doch umsonst. Und so hatte er, als er nach Moskau zurückkehrte, lediglich das klägliche Zugeständnis in der Tasche, als Beobachter für den Internationalen Währungsfonds empfohlen zu werden. In Moskau wehte schon bald ein wenig Gutes verheißender Wind, und dem skrupellosen Herrn Jelzin war es ein Leichtes, Gorbatschow in Schwierigkeiten zu bringen; der letztendlich noch von Glück sagen konnte, daß ihn das nicht Kopf und Kragen gekostet hat.
Die Begegnung von Turin lag ganz auf der Linie der Revolution – oder, und das sei ohne Hintergedanken gesagt – der Gegen-Revolution Gorbatschows.
Da wäre zunächst einmal die Suche nach einer neuen internationalen Weltordnung, unter Überwindung der Krise, in der sich die UNO befindet, seit sie durch den irakischen Krieg so schmerzlich bloßgestellt wurde. Das Engagement im Kampf gegen den Terrorismus könnte sich als vereinender Faktor herausstellen, vorausgesetzt jedoch, daß man nicht den Fehler begeht, kriminelle Umtriebe und Unabhängigkeitsbestrebungen in einen Topf zu werfen. Die israelischen Patrioten, die in der Nachkriegszeit die Engländer in Palästina an die Kandarre genommen hatten, waren keine Terroristen, auch wenn sie Bomben gelegt und Hotels in die Luft gesprengt haben.
Heute wird die UNO vor allem aus zwei Gründen kritisiert. Einmal, weil man die Tatsache als anachronistisch betrachtet, daß fünf Länder über ein Vetorecht gegen die Beschlüsse des Sicherheitsrats verfügen – und das nur, weil sie die Sieger des Zweiten Weltkriegs sind. Dann hält man es auch für ungerecht, daß alle Länder (derzeit 191) gleich behandelt werden – ungeachtet dessen, ob ihre Bevölkerung nun eine Milliarde oder mehr ausmacht oder ob sie Liliput-Ausmaße haben.
Triftige Gründe für eine Revision also – wie von Gorbatschow bereits zu recht herausgestellt. Aber bis zur Annahme eines neuen Statuts muß das geltende beachtet und vermieden werden, ständig gefährliche Lücken zu schaffen.
Das neue Forum will eine ad-hoc-Arbeitsgruppe einsetzen, die Alternativlösungen finden und konkrete Vorschläge machen soll. Dabei darf man jedoch nicht die neuen Gruppierungen aus den Augen verlieren, die sich in der Zwischenzeit in gewissen Bereichen herausgebildet haben: die Europäische Union, den südamerikanischen Mercosur, die Zollunion Mexiko-USA-Kanada und das brandneue Projekt der afrikanischen Union. Auch den G7 (oder, falls nötig, G8) muß, aus Gründen der Integration, Rechnung getragen werden. Am Anfang war eine nach Japan hin offene Dreiecksverbindung gestanden, heute aber handelt es sich dabei um eine Institution ohne wirkliche Legitimierung.
Ich kann mich noch gut an den Londoner G-7-Gipfel erinnern, zu dem er mit Primakow gekommen war. Er hatte damals unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er nicht nur finanzielle Unterstützung bräuchte, sondern vor allem Verständnis und die notwendige Zeit, um eine stufenweise, artikulierte Klärung der Frage der sich grundlegend voneinander unterscheidenden Republiken herbeiführen zu können. Der Nachdruck, mit dem man darauf beharrte, den baltischen Ländern ihre Souveränität zurückzugeben, ging damit eindeutig auf Kollisionskurs...
Aber die Gorbatschow’sche Doktrin hat noch ein anderes Projekt hervorgebracht. Der drohenden Gefahr eines Religionskrieges, provoziert durch das Gewicht und die Propagierung des Islam, stand die Wende gegenüber, die Gorbatschow von Rom aus ankündigte, wo, einer unheilvollen Legende zufolge, die Pferde der Kosaken zur Tränke geführt werden sollten. Nach seinem denkwürdigen Besuch beim Papst (dem er bald ein Buch widmen wird) erklärte Gorbatschow feierlich, daß die Religion eine positive Antriebsfeder für die Entwicklung seines Volkes sein könnte, ja, das im Grunde schon war. Womit mit dem Haß auf die als Opium fürs Volk betrachtete Religion ein für allemal aufgeräumt worden war.Jetzt heißt es, nach vorwärts blicken, einen Dialog zwischen allen Religionen anzukurbeln; einen Dialog, der sich auch auf die politischen Kontroversen und wirtschaftlich-sozialen Unterschiede positiv auswirken kann.
Die in Turin zum Ausdruck gebrachten Wünsche und Analysen wurden weitgehend geteilt: von Genscher bis zum Japaner Kafu, von Boutros Ghali bis zur pakistanischen Ministerpräsidentin Bhutto (die sich heute in den Arabischen Emiraten im Exil befindet), usw. Aber wenn man nicht will, daß die Initiative Gorbatschows ihre Gültigkeit einbüßt, muß ein Qualitätssprung gemacht werden. In dem Sinne nämlich, daß uns altgedienten Kämpfern Persönlichkeiten zur Seite gestellt werden, die jetzt „Dienst tun“. Daher der Vorschlag, zum nächsten Treffen im Oktober wenigstens Minister Frattini einzuladen.
Für die Wiederherstellung eines Dialogs aller Länder mit den USA – nach dem Zankapfel Irak – ist es notwendig, solide Berührungspunkte zu finden. Genscher hat zu meiner größten Zufriedenheit auf die Möglichkeiten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hingewiesen, in der – zu recht – auch die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada zu finden sind.
Doch damit nicht genug. Die Jahreszeit Reagan-Gorbatschow war von deutlichen Abrüstungsbemühungen geprägt; Bemühungen, dank derer das Atomwaffenarsenal auf die Hälfte reduziert werden konnte. Nach dem Golfkrieg hat man feierlich die Absicht erklärt, auch weiterhin auf diesem Weg des Friedens voranschreiten zu wollen. Was aber nicht den Tatsachen entsprach. Beppe Grillo, einer, der kein Berufspolitiker ist, hätte den Holzweg, auf dem wir uns nun befinden, nicht treffender beschreiben können: „Früher hat man Waffen hergestellt, um Kriege zu führen, heute dagegen führt man Kriege, um Waffen herstellen und kommerzialisieren zu können.“
Jede Ähnlichkeit mit unserer tatsächlichen heutigen Situation ist (keineswegs!) zufällig.