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DIE STAATSSEKRETÄRE DER...
Aus Nr. 09 - 2006

Ein treuer Ausführer des päpstlichen Willens


Das wollte Pietro Gasparri sein, jener große Kanonist, der unter den Päpsten Benedikt XV. und Pius XI. das Staatssekretariat leitete. Von der Tragödie des Ersten Weltkriegs bis zur Lösung der langjährigen Römischen Frage.


von Mons. Giuseppe Sciacca, Auditor der Römischen Rota


Wenige Tage vor seinem Ableben hielt Kardinal Pietro Gasparri beim Internationalen Juristenkongress vom November 1934 in Rom eine denkwürdige Rede. Seine Ausführungen über die Entstehungsgeschichte und die Rolle, die er bei der Kodifizierung des Kanonischen Rechts gespielt hatte, waren ein regelrechter Schwanengesang: beachtenswert, in doppelter Hinsicht vielsagend. „Ein jeder, der – auch ohne je von ihm gehört zu haben – gekommen war, um ihm zu lauschen,“ schrieb Filippo Crispolti in dem anschaulichen Porträt Mons. Gasparris, das in sein vielgelobtes Werk Corone e porpore von 1937 einfloss – „konnte sich nicht nur eingehend über das besprochene Thema informieren, sondern sich auch ein Bild von dem Mann machen, der darüber sprach. Obwohl es sich um streng historisch-juridische Fragen handelte, kam in den Ausführungen des Kardinals deutlich seine Persönlichkeit zum Vorschein, die alles Konventionelle strikt ablehnte. Als er betonte, dass das besagte, bedeutende Unterfangen trotz der großen Verdienste Leos XIII. unter jenem Papst nicht hätte ausgeführt werden können, war klar, dass er nicht wollte, dass die Kardinäle oder die kurze Zeit, die seit dem Tode Leos verstrichen war, sein ehrliches Urteil beeinträchtigten. Als er verriet, dass der ehrenwerte, namhafte Kanonist Gennari Pius X. nicht nur geraten hatte, ihm, Gasparri, diese schwere Aufgabe zu übertragen, sondern dem Papst auch versichert hätte, das große Werk wäre so in besten Händen, konnte man klar erkennen, dass Bescheidenheit, in ihrer banalen, unverbindlichen Form, wohl nicht seine Sache war.“
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Im Hintergrund, die Peterskirche und der Vatikan auf einem Foto der Zwanzigerjahre; links, eine Abbildung von Kardinal Pietro Gasparri und ein Bild aus dem Ersten Weltkrieg.

elimina Im Hintergrund, die Peterskirche und der Vatikan auf einem Foto der Zwanzigerjahre; links, eine Abbildung von Kardinal Pietro Gasparri und ein Bild aus dem Ersten Weltkrieg.

Als eine Art Einleitung und Epigraph der Kurzbiographie, an der wir uns hier versuchen wollen, könnte man aber noch eine andere, erwähnenswerte Bemerkung zitieren: die des berühmten Schriftstellers und Journalisten Crispolti, der den Kardinal persönlich kennengelernt hatte: „Eine geheimnisvolle Logik ließ erkennen, dass seine vielgelobte Rede in articulo mortis eher seine Rolle als Kodifizierer des Kanonischen Rechtes in den Vordergrund stellte denn die des Staatssekretärs zweier Päpste. Die Zukunft zeigte eindeutig,“ schloss Crispoliti, „dass diese Rolle seinen Ruhm ausmachen sollte.“
Eine treffende Intuition, die, wie die bedeutendsten Schriften über die Gestalt Kardinal Gasparris bezeugen, in den nachfolgenden Jahren voll und ganz bestätigt werden sollte.

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Pietro Gasparri, Spross einer wohlhabenden patriarchalischen Schafzüchter-Familie, stammte aus Ussita, in den italienischen Marken: „Am 5. Mai 1852 erblickte ich in Capovallazza das Licht der Welt, einem Dorf der Gemeinde Ussita, in der Provinz Macerata, Diözese Norcia, mitten in den Sybillinischen Bergen gelegen, ca. 750m über dem Meeresspiegel. Gesunde Luft, ein herrlicher Alpenblick, gesunde, arbeitsame und rechtschaffene Menschen; kinderreiche Familien, vor allem die Familie Gasparri,“ schreibt er in seinen Memorie mit unverhohlenem Stolz auf seine Heimat und Herkunft.
Ausgebildet wurde er am Römischen Seminar von S. Apollinare; seine Professoren in Kirchenrecht waren Filippo De Angelis und Francesco Santi, der spätere Rota-Auditor, zwei der berühmtesten italienischen Kanonisten jener Zeit.
Sein Eintritt war im September 1870 auf Empfehlung von Mons. Giovanni Moroni erfolgt, Benefiziat von St. Peter und Ökonom des Seminars, der in Ussita seine Ferien verbrachte. Zuvor hatte Gasparri ein paar Jahre am Seminar von Nepi studiert, „einem Ort, der ihm stets am Herzen lag,“ wie Giuseppe De Luca bezeugt, dem der Kardinal seine Erinnerungen für eine Biographie anvertraute, die trotz nachdrücklichen Drängens von höchster Instanz nie geschrieben wurde (De Luca widmete ihm allerdings später zwei Artikel: In Nuova Antologia: Memoria di Pietro Gasparri, aus dem Jahr 1934, und Discorrendo col cardinal Gasparri (1930), 1936).
„Gasparri kam knapp zwei Monate nach der Bresche von Porta Pia nach Rom,“ schreibt Vittorio De Marco in seinem interessanten Contributo alla biografia del cardinal P. Gasparri, „also in einem mehr als angeheizten Klima. […] Die Demütigung Pius’ IX. lag erst kurze Zeit zurück […] Rom gehörte nicht länger dem Papst […]. Die ‚Römische Frage‘, die nach der Schaffung des Königreichs Italien als großes Problem erschienen war, nahm nun, wo die ‚liberale Revolution‘ das Herz der Katholizität erschüttert und das zeitliche Szepter des Nachfolgers Petri zerbrochen hatte, eine vollkommen neue, ernstzunehmendere Dimension an. Der junge Gasparri hätte sich sicher nie träumen lassen, dass fast sechzig Jahre später, unter dem Pontifikat eines anderen Pius, er selbst die Römische Frage definitiv und formell zum Abschluss bringen sollte.“
„Das Problem der Römischen Frage verfolgte Gasparri, der deren ‚Geburtswehen‘ noch selbst miterlebt hatte – mehr oder weniger bewusst – fast fünfzig Jahre lang,“ schreibt De Marco weiter. „Seine Intransigenz war bei weitem keine a priori Starrheit, weil man eben in kirchlichen und katholischen Kreisen so zu sein hatte, sondern erklärte sich vielmehr durch seine juridische Intelligenz und jenen Sinn für Realpolitik, der wohl schon in seinem Charakter begründet lag und durch seine spätere diplomatische Verantwortung deutlich zutage trat.“
Wie sehr Gasparri am Römischen Priesterseminar geschätzt wurde, wo die zukünftigen Kardinäle Domenico Svampa, Gaetano De Lai, G. B. Callegari und Benedetto Lorenzelli seine Studienkollegen waren, sieht man daran, dass man ihm noch vor Abschluss seiner Studien die Stelle des Aushilfsprofessors für Kirchengeschichte und Sakramententheologie anvertraute – denselben Lehrstuhl, den ein paar Jahrzehnte später Domenico Tardini innehatte, auch er zukünftiger Staatssekretär. Als Pietro Gasparri am 11. August 1879 in utroque iure mit Auszeichnung promovierte, war er bereits Priester: am 31. März 1877 hatte er in der Lateranbasilika von Kardinalvikar Raffaele Monaco La Valletta das Sakrament der Priesterweihe empfangen.
Wenige Jahre später begann Gasparri, an der Theologischen Fakultät des Pariser „Institut Catholique“ Kanonisches Recht zu unterrichten; eine Lehrtätigkeit, die er fast zwanzig Jahre lang ausüben sollte. Man darf aber auch die vorherige, an der Seite von Kardinal Teodolfo Mertel verbrachte Periode nicht vergessen, dem letzten Kardinal, der nie die Priesterweihe empfangen hat. Mertel, Sohn eines deutschen Bäckers, der nach Allumiere (das damals zum Kirchenstaat gehörte) gekommen war und ein junges Mädchen dieser Ortschaft geheiratet hatte, war zunächst Rota-Auditor, dann Minister des Kirchenstaates und schließlich Kardinalpräfekt der Apostolischen Signatur. Der junge, gerade erst zum Priester geweihte Gasparri war sein persönlicher Sekretär und Kaplan: zweifellos eine wichtige Erfahrung, die seinen juridischen und politischen Werdegang nachhaltig prägte.
„An alles hätte ich gedacht, nur nicht ans Katholische Institut von Paris,“ schreibt Gasparri in seinen Memorie, „als Kardinal Langelieux, Erzbischof von Reims und einer der wichtigsten Gründer des Instituts, in den ersten Sommermonaten des Jahres 1879 nach Rom kam. Er ließ mich wissen, dass er mich sprechen wollte; und als ich zu ihm ging, bot er mir den Lehrstuhl für Kanonisches Recht an…“.
Gasparri war mehr als überrascht; der Gedanke, Rom verlassen zu müssen, behagte ihm ganz und gar nicht. Außerdem „war die Erinnerung an die Pariser Kommune noch frisch, ich konnte kein Wort Französisch und war nie aus meinem kleinen Kreis herausgekommen.“
In Paris blieb er bis 1897. Die Lehrtätigkeit, der er sich – wie sowohl Zeitgenossen als auch seine Biographen einhellig bestätigen – mit bewundernswertem Engagement widmete und die ihm den Ruf einbrachte, ein für alles Neue aufgeschlossener Kanonist zu sein, füllte ihn nicht vollkommen aus. So arbeitete er auch gelegentlich für die Zeitschrift Le Canoniste contemporaine, zeigte ein großes und kontinuierliches Interesse am Hilfswerk für die italienischen Emigranten. Er wurde nicht nur Leiter dieses Werkes, sondern sorgte auch für einen zuverlässigen Pastoraldienst und konnte so seinen wahren priesterlichen Eifer unter Beweis stellen. Darüber hinaus war er in den Zirkeln der Akademie Saint Raymond de Peñafort aktiv – ein Zeichen dafür, wie sehr ihm die Förderung der Kenntnis und des Studiums des Kanonischen Rechts am Herzen lag. Er wurde aber auch in die lebhafte theologisch-kanonische Kontroverse um die Gültigkeit der anglikanischen Weihen verwickelt: ein Thema, zu dem er eine seiner weniger bekannten Abhandlungen schrieb, De la valeur des ordinations anglicanes (Paris 1895). „Auf der Linie seines Tractatus canonicus de sacra ordinatione von 1893 bekräftigte Gasparri, dass Jesus Christus das Sakrament der Weihe nicht nur im allgemeinen, sondern auch in specie eingesetzt und dabei sowohl die Materie als auch die sakramentale Form festgelegt hat; die Konformität der Riten quoad substantiam einmal festgestellt, sind sie im Prinzip alle für die Weihe ausreichend; nach Untersuchung des anglikanischen Ordinal erschien Gasparri dieses jedoch faktisch als mangelhaft in der Absicht und unzureichend in den Riten.“ So Carlo Fantappié in seinem Dizionario biografico degli Italiani, ad vocem.
Dabei hatte es zunächst den Anschein, als würde Gasparri für die Gültigkeit der anglikanischen Weihen plädieren. Doch eine vertiefte Auseinandersetzung mit verschiedenen historiographischen Ansichten brachte ihn dazu, seine Meinung zu ändern. Leo XIII. setzte der Frage dann mit der Erklärung der Ungültigkeit der Weihen in der Enzyklika Ad Anglos von 1895 ein Ende.
Mons. Gasparri in Ussita mit seinen Brüdern, darunter auch Luigi, erster, rechts stehend, Vater von Kardinal Enrico Gasparri.

Mons. Gasparri in Ussita mit seinen Brüdern, darunter auch Luigi, erster, rechts stehend, Vater von Kardinal Enrico Gasparri.

Gasparri beschäftigte sich jedoch hauptsächlich mit der Veröffentlichung wichtiger Traktate zum Thema Kanonisches Recht. Im Jahr 1891 veröffentlichte er De matrimonio – wozu ihn Papst Pecci mit einem Schreiben auf Lateinisch beglückwünschte –, „den wichtigsten und gelungensten Traktat, dem noch vier weitere Ausgaben folgten und der die Grundlage für den späteren Codex iuris canonici bildete; danach kam De sacra ordinatione und schließlich, 1897, De Sanctissima Eucharistia. In all diesen Werken erscheinen die Ausführungen Gasparris beeindruckend vollständig und genau, besonders, was die Aktualisierung der Beschlüsse und Urteile der Kongregationen und Kurien-Tribunale angeht; er verwendete dafür Material, das er in den in Rom verbrachten Sommermonaten gesammelt hatte. Und wenn sich diese Werke auch grundsätzlich auf die Texte seiner Kurse stützten, enthielten sie doch eine neue, erweiterte und umgearbeitete Konzeption davon, wie man diese Materie angehen konnte. Nachdem sich Gasparri von der traditionellen Ordnung der Dekretalien entfernt hatte, die bisher die Richtlinie seiner Kurse gewesen war, ging er zu einer logischen Ordnung über, die es ihm – dem Modell der scholastischen Theologie folgend – nicht nur ermöglichte, die komplexe und vielfältige juridische Materie in einheitlicher und ausreichend organischer Weise innerhalb eines monographischen Schemas darzulegen, sondern ihn auch versuchen ließ, die Lösung der verschiedenen, noch immer kontroversen Punkte durch deren konstante Ansiedlung in ihrer systematischen Artikulation herbeizuführen. Es handelte sich um eine methodologische Wahl, die – von der Vorliebe für das ‚System‘ und die ‚juridische Technik‘ als Bindemittel seiner Argumentation getrieben – auf einen rigorosen ideologischen Begriff stark tridentinischer Art gegründet war und jegliche geschichtliche Verunreinigung ausschloss“ (Paolo Grossi).

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De Sanctissima Eucharistia war kaum gedruckt, da teilte ihm Kardinal Rampolla mit, dass Leo XIII. beschlossen hatte, ihn vom Lehrstuhl auf den Titularerzbischofssitz von Cesarea in Palästina zu erheben und zum Apostolischen Delegaten und Sondergesandten für die drei südamerikanischen Republiken Peru, Bolivien und Ecuador zu ernennen. Am 6. März 1897 wurde er in Paris von Kardinal Richaud, seinem Freund und Bewunderer, zum Bischof geweiht.
Die Mission, mit der man Gasparri betraut hatte, war aufgrund der besonderen politischen und religiösen Bedingungen, unter denen er arbeiten musste, alles andere als einfach.
In den drei Jahren dieser kurzen, aber intensiven Erfahrung konnte er seine bemerkenswerten diplomatischen Fähigkeiten unter Beweis stellen – Ausdruck seines juridischen Geistes und gesunden Menschenverstands –, die ihm nach seiner Rückkehr die Ernennung zum Kurialsekretär für Außergewöhnliche Kirchliche Angelegenheiten einbrachten; ein Amt, in dem er für die Beziehungen der Kirche mit den Staaten zuständig war (April 1901).
Das Staatssekretariat leitete Kardinal Rampolla; Giacomo della Chiesa war Substitut für die allgemeinen Angelegenheiten; Gasparri wiederum sollte später in die Riege seiner Mitarbeiter auch Eugenio Pacelli holen.
Die beiden Grundausrichtungen, die das Handeln des späteren Staatssekretärs nachhaltig beeinflussen sollten, waren in Gasparris modus operandi bereits erkennbar: einerseits die Treue zur Linie der politischen Neutralität – bzw. der Wille, ja das Bemühen, sich den Regierenden als „von politischen Parteien unabhängig“ und als „Feind des Bürgerkriegs im Namen der Religion“ zu zeigen – und andererseits die deutliche Tendenz zur Konkordatspolitik als optimales Instrument dafür, das spirituelle Wirken der Kirche zu garantieren und die Forderungen seitens der Staaten im Zaum zu halten.
Die Wahl Pius’ X. auf den Petrusstuhl (1903) bewirkte nicht nur eine physiologische Orientierungsänderung – manchmal noch dramatisch verstärkt von der Modernistenkrise –, sondern schlug sich auch in der Umbesetzung der Leitungspositionen des Staatssekretariats nieder, das wie bereits gesagt, bis dahin von Kardinal Rampolla geleitet wurde.
So schrieb Fantappiè, dass „der – manchmal fast schon zum Kontrast werdende – Unterschied zwischen der Linie Gasparris, Erbe der von Leo XIII. und Rampolla vertretenen politischen Vision der Aufgeschlossenheit der Kirche internationalen und sozialen Fragen gegenüber, und der stark intransigenten, nachgebenden Linie, die Pius X. und sein Staatssekretär Merry del Val schon bald verfolgen sollten“ unweigerlich oben genannte Folgen haben musste.
Sympathisierte Gasparri tatsächlich mit den Modernisten? Manch einer glaubte ja, und noch in dem Konklave, das man nach dem Tod Benedikts XV. einberufen hatte (und bei dem Pius XI. gewählt wurde), hegten die Kardinäle De Lai und Merry del Val wohl diesen Verdacht und trugen so dazu bei, dass Gasparri von vornherein keine Chance hatte, gewählt zu werden. Aus seiner Freundschaft mit Ernesto Buonaiuti hatte er nie ein Geheimnis gemacht, und für einige war das der Beweis dafür, dass der Verdacht wohl doch nicht unbegründet war. Sicher ist jedenfalls, dass Gasparri die Ideen der Modernisten ebenso wenig teilte wie die Methoden, derer man sich bediente, um dem Modernismus den Garaus zu machen. Er sagte das auch öffentlich, obwohl er wusste, dass das den Verdacht unweigerlich erhärten musste, wie Silvio Tramontin in seiner Studie La repressione del modernismo ausführt.
So verlief das Jahrzehnt von 1904 bis 1914 in relativer Isolation, aber doch überaus fruchtbar. Es stand ganz im Zeichen der Abfassung des Codex Iuris Canonici, was – im Rahmen seiner umfassenden, komplexen und verdienstvollen Gesamtaktivität – doch als sein größtes Verdienst bezeichnet werden kann.
Schon beim I. Vatikanischen Konzil hatten 33 Bischöfe an Pius IX. die Bitte gerichtet, zur Kodifizierung zu schreiten. In der ihm unterbreiteten Instanz schrieben sie: „Opus sane arduum; sed quo plus difficultatis habet, eo magis est tanto Pontifice dignum.“ Aber es war Pius X. – der bereits als bischöflicher Kanzler von Treviso und später als Patriarch von Venedig ein lebhaftes Interesse für das Kanonische Recht gezeigt hatte –, der jenes Werk ins Rollen brachte, das mancher als nicht realisierbar oder gar unangebracht betrachtete. So gab es bei den Kanonisten auch tatsächlich zwei Schulen, die hinsichtlich der Möglichkeit einer Kodifizierung gegensätzlicher Meinung waren: auf der einen Seite jene, die sich für die Erhaltung der Ordnung der Dekretalien einsetzten, etwa die Jesuiten der Gregoriana (Wernz, Ojetti) – um nur den ein oder anderen der bedeutsamsten Namen zu nennen –, und auf der anderen die Anhänger der Schule des Apollinare (Sebastianelli, später Dekan der Rota, Lombardi, Latini) die, auf der Grundlage der weltlichen juristischen Schule, die Notwendigkeit einer modernen Kodifizierung bekräftigten. Nur diese hätte die Lückenhaftigkeit der Gesetzgebung und die damit zusammenhängenden hermeneutischen Probleme überwinden können. Der Corpus iuris canonici setzte sich dann auch tatsächlich aus der Gesamtheit der offiziellen Sammlungen zusammen (Decretum Gratiani, Liber Extra, Liber VI, Clementinae, Extravagantes Ioannis XXII, Extravagantes communes) und war im Lauf der Zeit um neue normative Eingriffe durch den Papst und das Konzil bereichert worden, wie auch um Dekrete der römischen Kongregationen und der Rota-Jurisprudenz. Ein wahres „immensum aliarum super alias coacervatarum legum cumulum“, wie Gasparri in Anlehnung an Livius (Obruimur legibus) im Vorwort zum Kodex schreiben sollte. Dem sollte ein Kodex nach napoleonischem Modell Abhilfe schaffen: einzigartig, systematisch, universal, abstrakt und authentisch, da vom Obersten Gesetzgeber promulgiert.
Mit dem motu proprio Arduum sane munus wurde eine Kardinalskommission „De Ecclesiae legibus in unum redigendis“ eingerichtet, mit Gasparri als Sekretär. Eine Reihe von Konsultoren unter Vorsitz von Mons. Gasparri stand der Kommission zur Seite. Um die Arbeit zu beschleunigen, stellte er zwei Sonderkommissionen für verschiedene Themen zusammen. Eine jede hatte ca. ein Dutzend Mitglieder: die eine versammelte sich Donnerstag vormittags, die andere Sonntag vormittags. Eugenio Pacelli war Mitarbeiter Gasparris, und als Pius X. letzteren 1907 zum Kardinal kreierte, wurde zunächst Mons. Scapinelli, dann Mons. Pacelli Sekretär der Kardinalskommission. Die Konsultoren wurden damit beauftragt, den Text der den beiden Sonderkommissionen vorgelegten Canones zu überprüfen. Danach wurde das Ganze, nach Überprüfung durch Gasparri, der Kardinalskommission vorgelegt. Auf Anraten Gasparris legte Pius X. 1912 fest, dass die gesamte, bereits von der Kardinalskommission approbierte Arbeit all jenen geschickt werden solle, die normalerweise ins ökumenische Konzil einberufen werden, damit sie ihr Urteil abgeben und Anmerkungen machen könnten.
Nach dem Tod von Pius X. wurde Giacomo Della Chiesa mit dem Namen Benedikt XV. auf den Petrusstuhl gewählt, ein alter Freund und Kollege Gasparris, der, wie er selbst auch, der Generation Leos XIII. angehörte. Nach dem Tod von Kardinal Domenico Ferrata, der nur einen Monat im Amt gewesen war, wurde Gasparri zum Staatssekretär ernannt. Es war der 13. Oktober 1914: das letzte Buch des Codex iuris canonici war abgefasst – der Entwurf von Gasparri für die Promulgation (die für den l. Januar 1915 vorgesehen war, aber aus verschiedenerlei Gründen, darunter auch der Krieg, mit der Apostolischen Konstitution Providentissima Mater Ecclesia auf den 27. Mai 1917 verschoben wurde) abgesegnet –, das opus sane arduum endlich vollendet.
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Mons. Gasparri, Titularerzbischof von Cesarea in Palästina und Apostolischer Delegat der Republiken Peru, Bolivien und Ecuador.

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Von 1923 bis 1932 kümmerte er sich um die Veröffentlichung der Fontes in sechs Bänden; ein Werk, das später von Kardinal Giustiniano Seredi, Primas von Ungarn, vervollständigt werden sollte. Danach leitete Gasparri mehr als 15 Jahre lang das Staatssekretariat, da ihn der Nachfolger von Benedikt XV. am 6. Februar 1922 in diesem Amt bestätigte. Romeo Astorri schrieb, dass Gasparri während des Krieges – aber das könnte man auch für die Jahre danach und für das gesamte Pontifikat von Benedikt XV. sagen –, „als treuer Ausführer der Weisungen des Papstes bezeichnet werden konnte, und zwar sowohl der humanitärer als auch politischer Art.“ Und auch Pius XI., mit der Arbeit seines Staatssekretärs vollauf zufrieden, zögerte nicht, ihn als „den treuesten Ausführer seines Willens“ zu bezeichnen. Schon Giuseppe De Luca schrieb in seinem Artikel Memoria di Pietro Gasparri, ein Urteil vorwegnehmend, das noch des öfteren zum Ausdruck gebracht werden sollte, auch von der jüngsten Historiographie: „Zu Unrecht schreibt man ihm Initiativen zu, die doch eindeutig die persönliche Handschrift Pius’ X. und Pius’ XI. tragen: zweier Päpste, die mit eigenen Augen sehen, eigenhändig agieren wollten. Und Benedikt XV. –in der tragischen Situation eines Vaters, dessen Kinder zu den Waffen gegriffen haben, ohne ihm Gehör zu verleihen, sondern ihn auch noch bezichtigten, mit dem Feind zu sympathisieren – wollte seinem Pontifikat eine ganz besondere, persönliche Prägung geben. Es wäre also falsch, Kardinal Gasparri Ruhm und Verdienste zuschreiben zu wollen […], die er selbst als erster mit schlichter, klarer und nobler Demut zurückwies.“ Er war, wie De Luca meint, „Minister, im wahrsten und in einem jeden Sinne, der erste Minister dieser Päpste: etwas anderes war er nie und wollte es auch nie sein. Aber das war er, wie es nur wenige waren, und daher kann sein Name, wie ich glaube, mit der Zeit nur noch größer werden, sicher aber nicht in der Versenkung verschwinden.“

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Wie Pio Ciprotti treffend anmerkt, war die Juristen-Mentaliät Gasparris auch in seinen nicht streng juridischen Aktivitäten erkennbar. Das sieht man besonders deutlich bei den Konkordaten, bei deren Abfassung Gasparri nicht zögerte, im Namen der Erfordernisse der Staaten, oder um zu bewirken, dass eventuelle Divergenzen den Seelen so wenig Schaden wie möglich zufügten, bei einigen Verfügungen Abweichungen vom Kanonischen Recht hinzunehmen. Auf der anderen Seite formulierte er jedoch stets Grundsatzaussagen, auch in Punkten, denen der Staat nur schwer zustimmen konnte.
Diese Grundsatzaussagen legen zwar grundlegende Punkte der theologischen Lehre dar, betonen aber auch Wahrheiten, die dem Naturrecht entspringen. „Aber die Darlegung […] des Prinzips hat keinesfalls nur eine rein lehrmäßige Bedeutung, philosophischer und theologischer Absicht; sie hat vielmehr große juridische Wirkung, insofern als sie in gewisser Weise eine Art Prämisse der praktischen Normen ist; sie ist also unweigerlich der Ausgangspunkt für deren Auslegung, da sie – wie bereits gesagt – nichts anderes als Abweichungen vom dargelegten Prinzip sind“ (Ciprotti). Kurzum: er war ein Jurist, der für den konkreten Aspekt der Probleme Verständnis hatte, sich aber nie einem reinen Pragmatismus beugte, der die Prinzipien untergräbt.
Welche Rolle Gasparri bei den komplexen Ereignissen spielte, die der definitiven Lösung der langjährigen Römischen Frage vorausgingen, ihr den Weg ebneten, ist bekannt. Von einer genauen Rekonstruktion der Ereignisse einmal abgesehen, in der man sich überdies bereits mehrfach versucht hat, und auch angesichts der reichhaltigen Literatur zu diesem Thema, glauben wir letztendlich, der Wahrheit nahe zu kommen, wenn wir sagen, dass die Rolle Gasparris sicherlich entscheidend war. Und wenn sich die Historiographie auch bei den besonderen politischen Umständen aufgehalten hat, die letztendlich zu den Lateranverträgen führten, kann man doch sagen, dass der Kardinal durch das geduldige Spannen seiner Fäden einen entscheidenden Beitrag zur Aussöhnung leistete, und dass der organische Charakter des Konkordats und die dem Begriff der Souveränität gewidmete Aufmerksamkeit eindeutig von Gasparris mens iuridica geprägt sind, die sich die Mitarbeit Francesco Pacellis, Domenico Barones und des Jesuiten Pietro Tacchi Venturi zunutze machte.

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Am 11. Februar 1930 quittierte Kardinal Gasparri den Dienst im Staatssekretariat. Manch einer sprach von persönlichen Divergenzen mit Pius XI., wie z.B. der spätere Kardinal Pietro Palazzini in dem Pietro Gasparri gewidmeten Kapitel der Enciclopedia Cattolica. Gasparris Nachfolger wurde Eugenio Pacelli, sein alter, viel geschätzter Mitarbeiter seit der Zeit der gemeinsamen Abfassung im Sommer 1905 in Ussita des „Weissbuchs“ über die Situation der französischen Kirche.
Gasparri zog sich ins Privatleben zurück und verbrachte seine letzten Jahre zwischen Rom und seinem Geburtsort Ussita. In jener Zeit überarbeitete er einige seiner juridischen Werke und schrieb einen Katechismustext, eine Arbeit, der er schon seit 1924 einen Großteil seiner Zeit gewidmet hatte. „Damals beklagte er sich immer darüber, dass ihn sein Gedächtnis im Stich lassen würde. Er beklagte das als größten Schaden, den ihm das Alter zugefügt hätte. So sehr er sich als junger Mensch, ja, noch wenige Jahre zuvor, darüber gefreut hatte, ein so gutes, genaues, unverwüstliches Gedächtnis zu haben, so bitter beklagte er sich nun darüber, es so gut wie verloren zu haben“ (De Luca). Der Mann, der „ohne Hast, aber unermüdlich“ gearbeitet hatte, „in einem trotz seiner äußeren Gelassenheit so unglaublichen Rhythmus, mit dem seine Mitarbeiter nur schwer mithalten konnten, ja, von dem sie manchmal geradezu aufgerieben wurden“ (De Luca), verstarb in Rom am 18. November 1934. Er war 82 Jahre alt.
Die Titelseiten einiger juridischer Werke von Mons. Gasparri.

Die Titelseiten einiger juridischer Werke von Mons. Gasparri.

Zum 25. Todestag Gasparris fand an der Lateran-Universität unter Schirmherrschaft des damaligen Rektors, Mons. Antonio Piolanti, eine feierliche akademische Begegnung statt. Rechtsanwalt Raffaele Jervolino, ehemaliger Leiter der Katholischen Aktion, bezeichnete Pietro Gasparri als einen „Mann mit vielen Leben.“
Eines hatten der Jurist, der Diplomat und der Diener des Apostolischen Stuhls jedoch sicher gemeinsam: Gasparri war vor allem Priester, und das war er voll und ganz, immer, und unter allen Umständen.
Schon damals, als er für Kardinaldiakon Mertel für die Pariser die Messe zelebrierte; als er, der geschätzte Professor, sich zum „Pfarrer“ der italienischen Emigranten machte: immer war er Priester. Und das war er auch in allen Ämtern, die er im Laufe der Jahre bekleidete. „Den Talar zog er im Alter von acht Jahren an und legte ihn nicht mehr ab,“ merkt De Marco an, „ebenso wenig wie den nüchternen Aspekt des jungen Klerikers, den er später auch als Priester und Kardinal beibehielt.“
„Er war ein guter Priester; ein Priester im volkstümlichen Sinne,“ schreibt Don Giuseppe De Luca, „immer zum Scherzen aufgelegt, nicht einmal der kleinsten Lüge fähig; gleichzeitig war er aber auch ein derart erhabener kirchlicher Würdenträger, dass seine Umgebung unweigerlich von ihm eingeschüchtert war. Niemand hätte sich jemals zu Vertraulichkeiten hinreißen lassen, nicht einmal, wer mit ihm in jovialer Tischrunde saß und von dem Kardinal scherzhaft aufgezogen, ja vielleicht sogar provoziert wurde. Er gehorchte, ohne sich erniedrigt zu fühlen, und vielleicht konnte er gerade deswegen auch befehlen, ohne zu erniedrigen. Niemals wird einem Befehl besser gehorcht als wenn sich der Untergebene, im Akt des Befehls selbst, beachtet und respektiert fühlt.“
Einen bewegenden Eindruck davon, von welch authentischem priesterlichen – und zugleich auch konkretem – Geist er beseelt war, kann man aus den letzten Worten seines Testaments, datiert mit 4. Oktober 1934, gewinnen: „Euch allen will ich ans Herz legen, gut zu sein und nie zu vergessen, dass das gegenwärtige Leben vergeht wie ein Blitz, und dass uns die Ewigkeit erwartet.“
Als er 1932 seinen katholischen Kinder-Katechismus vorstellte, schrieb er, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, jene einfache, aber keineswegs banale Rührung zu verbergen, die er von seiner Mutter geerbt hatte: „Liebes Kind, du bereitest dich nun auf die Erstkommunion vor… Ich bin schon alt, viele Dinge und wichtige Ereignisse sind über meinen Kopf hinweg und durch mein Herz hindurch gegangen: und doch kann ich mich mit großer Rührung und unbeschreiblicher Wonne an den Tag meiner Erstkommunion erinnern… und um eines möchte ich dich bitten: wenn du Jesus in dein Herz aufnimmst, dann empfehle ihm den alten Freund an, der dir seinen väterlichen Segen erteilt.“


Bibliographie

R. Astorri, Le leggi della Chiesa tra codificazione latina e diritti particolari, Padua 1992.
P. Ciprotti, Il diplomatico giurista, in Aa. Vv., Il cardinale P. Gasparri, Päpstliche Lateran-Universität, Rom 1960.
F. Crispolti, Corone e porpore, Mailand 1937.
G. De Luca, Memoria di P. Gasparri, in La Nuova Antologia, 1. Dez. 1934; Id., Discorrendo col card. Gasparri (1930), in ibidem, 16. Nov. 1936, dann in Aa.Vv., Il cardinale P. Gasparri, cit.
V. De Marco, Contributo alla biografia del cardinale P. Gasparri, in Aa.Vv. Amicitiae causa. Scritti in onore del vescovo A. M. Garsia, herausgegeben von M. Naro, Caltanissetta 1999.
C. Fantappié, Dizionario biografico degli Italiani, ad vocem; Id., Introduzione storica al Diritto Canonico, Bologna 1999.
P. Grossi, Storia della canonistica moderna e storia della codificazione canonica, in Quaderni fiorentini XIV (1985).
G. Spadolini, Il cardinale Gasparri e la Questione Romana (con brani delle memorie inedite), Florenz 1972.
S. Tramontin, La repressione del modernismo, in E. Guerriero und A. Zambarbieri, La Chiesa e la società industriale,
Mailand 1990.


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