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BRASILIEN
Aus Nr. 09 - 2006

INTERVIEW MIT DEM PRÄSIDENTEN DER REPUBLIK BRASILIEN

Die offenen Wege Lulas


Von der innovativen Strategie gegen den Hunger bis zur Zusammenarbeit mit den Schwellenländern. Die Integration Südamerikas und das Vermittlungswerk. Die innovativen Wege, die Brasilien aus der Anonymität geholt, dem Land neues Prestige verliehen haben. Exklusiv für 30Tage zieht Luiz Inácio Lula da Silva die Bilanz seines ersten Präsidentschaftsmandats.


Interview mit Luiz Inácio Lula da Silva von Stefania Falasca


In Brasilien sind die realen Distanzen die, die nun einmal gegeben sind. Und das gilt auch für die Zeiten. Aber wie man hierzulande sagt: no fim dá tudo certo, am Ende kommt doch noch alles ins Lot, soviel ist gewiss. Und gewiss ist auch unsere Verabredung mit dem Präsidenten: Regierungssitz Brasìlia, 15 Uhr 30. Vom Fenster unseres Autos aus können wir bereits einen flüchtigen Blick auf die Stadt erhaschen, die ihre Entstehung, wie man hört, einem Traum zu verdanken hat. Dem keines Geringeren als Don Bosco, der sie sich gerade hier, inmitten dieses Land-Kontinents vorgestellt hatte. Dann kam Architekt Niemeyer, und so konnte diese Stadt, nach langer, reiflicher Planung zu dem werden, was sie heute ist: eine perfekte Astronauten-Modellstadt. Irreal, hyperbolisch, von Straßen durchbohrt, die wie Startpisten anmuten, während der Rest, der aus Erde und Elend gemachte, an den Rand gedrängt wurde, in die Satellitenstädte. Sie mag durchaus ihre Faszination haben, diese von einem großen Architekten geschaffene Weltraumstadt. Aber Brasìlia ist nicht Brasilien, wie alle wissen, auch der Präsident. Luiz Inácio Lula da Silva, der ehemalige Gewerkschaftler, dem am 1. Januar 2003 mit 53 Millionen Stimmen der Sprung aus der Arbeiterpartei in den Palácio do Planalto gelang, wohnt nun seit fast vier Jahren hier. Und hat sicher nie mit dem Gedanken gespielt, von dieser Basis aus nach den Sternen greifen zu wollen, ja, hat sich davor gehütet, in den Jahren seines Präsidentschaftsmandats allzu hochtrabende Versprechungen zu machen. „Brasilien ist ein komplexes Land und mit Vorsicht zu behandeln, fast, als wäre es eine Bombe. Lula macht sich keine Illusionen. Er geht mit äußerster Vorsicht und großem Realismus vor. Schlägt Brücken, verkürzt Distanzen. Spielt nicht mit dem Konflikt, sondern macht ihn sich zunutze. Er ist kein Abenteurer, sondern ein Gewerkschaftler, der weiß, was er will; einer, der geübt ist im zähen Verhandeln, in einer sozialen Dialektik, die einen akzeptablen Kompromiss erreichen will.“ So kommentierte der kürzlich verstorbene Celso Furtado, einer der namhaftesten Experten in Sachen wirtschaftliche und soziale Fragen Lateinamerikas, vor vier Jahren die Wahl Lulas zum brasilianischen Staatspräsidenten.
Präsident Lula wird von Stefania Falasca für 30Tage interviewt (Militärbasis Brasìlia, 1. September 2006).

Präsident Lula wird von Stefania Falasca für 30Tage interviewt (Militärbasis Brasìlia, 1. September 2006).

Elf Millionen brasilianische Familien – mehr als 50 Millionen Menschen – leben dank Lulas Regierungsprogramm gegen den Hunger heute nicht mehr am Rande des Existenzminimums. Ein unerhörtes Ergebnis, durch die Weltbank und die Sozialpolitik Lulas möglich gemacht, dessen Image nicht einmal die schärfsten Kritiken und unerbittlichsten internen „Seitenhiebe“ ankratzen konnten. Auch das ist eine Tatsache.
Unsere Begegnung findet auf dem Militärflughafen statt. Lula kommt, wie so oft, direkt vom Verhandlungstisch: nach dem Gespräch mit der Fiat-Delegation ist er schon bereit für den Flug nach Juiz de Fora, im tiefsten Brasilien, dem Bundesstaat Minas Gerais. Das Motto des ehemaligen, bodenständigen Metallarbeiters, des pragmatischen Vermittlers, geübt in vis-à-vis-Begegnungen und im Verhandeln, ist immer noch dasselbe: „Politik macht man mit dem, was man hat, nicht mit etwas, das man zu haben glaubt,“ sagt er und knöpft sich die Jacke zu. „Das ist das wahre Spiel der Politik.“ In seinem typisch brasilianischen Aplomb lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, unverwüstlich wie der traditionelle cafezinho, den er uns anbietet. Es ist 15.30 Uhr. Nicht eine Minute später. Genau wie vorgesehen. Lula steht kurz vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Draußen wartet das gesamte Establishment seiner Regierung auf ihn; jene, auf deren Konto die Resultate des Programms Fome zero und der Wirtschaftsreformen gehen. Es ist Zeit, in Sachen Sozial- und Außenpolitik Bilanz zu ziehen. Immerhin wurde Brasilien dank letzterer neues Prestige und Sichtbarkeit auf der Weltbühne und am Südhorn verliehen, wo das Land nun eine strategische Rolle spielt. Eine Politik, dank der deutlich innovative Wege beschritten werden konnten; und das nicht nur in der Frage der Integration Südamerikas, sondern auch durch die Schaffung des G20 [Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, Anm.d.Red.], die Zusammenarbeit mit den Staaten Südamerikas und die Allianz Indien-Brasilien-Südafrika. Eine Politik, die den Beziehungen zu den Schwellenländern neuen Aufschwung geben konnte, und die Lula – wie aufmerksame internationale Beobachter betonen – zweifellos großes Lob einbrachte.
Unüberlegte Stellungnahmen sind nicht sein Stil. Besonders nicht der Presse gegenüber. Interviews gibt er selten, in der letzten Zeit kein einziges. Einzige Ausnahme: 30Tage.

Herr Präsident, nach Ihrer Wahl hegte man in Ihrem Land große Hoffnungen. Welche Bilanz können Sie heute ziehen?
LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA: 2003, zum Zeitpunkt meines Amtsantritts, war es um die brasilianische Wirtschaft schlecht bestellt. Deshalb wollten wir auch zunächst einmal wirtschaftliche Stabilität garantieren.
Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden?
LULA: Ich bin zufrieden, aber es könnte noch besser laufen. Wir wissen nur allzu gut, wie viel Brasilien seinem Volk schuldig ist, wie viel es in diesem Land noch zu tun gibt.
Das von Ihrer Regierung gestartete Programm zur Bekämpfung des Hungers wurde auch von der Weltbank gelobt…
LULA: Fome zero hängt heute mit 31 Programmen und Initiativen zusammen, die darauf abzielen, den Hunger durch sozialen Einschluß auszumerzen. 2006 haben wir 11,7 Milliarden Reais in den Kampf gegen die Armut investiert [ca. 4,3 Milliarden Euro, Anm.d.Red.]. Es sind Investitionen, die den ärmsten Familien eine korrekte Ernährung garantieren, Arbeitsplätze, Einkommen schaffen und helfen, die Lebensqualität in den ärmsten Regionen Brasiliens anzuheben. Dieses Jahr werden die für den Kampf gegen die Armut aufgewendeten Ressourcen um 89% mehr betragen als im Jahr 2003, bei 6,2 Milliarden Reais liegen [ca. 2,3 Milliarden Euro, Anm.d.Red.]. Wir haben beschlossen, den armen Bevölkerungsschichten Priorität einzuräumen. In Brasilien lebt eine große Zahl von Männern, Frauen und Kindern, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Lateinamerikanische Präsidenten beim MERCOSUR-Gipfel in Cordoba (Argentinien, 21. Juli 2006).

Lateinamerikanische Präsidenten beim MERCOSUR-Gipfel in Cordoba (Argentinien, 21. Juli 2006).

Eine Art Wohlfahrtspolitik also…
LULA: Nein, Investitionspolitik. Man kann das langfristige Wachstum eines Landes nicht sichern, wenn man nicht eine Verteilung des Einkommens fördert, die den benachteiligten und ausgegrenzten Bevölkerungsschichten zugute kommt. Mit anderen Worten: eine gerechtere Verteilung des Einkommens muss als wichtige Antriebsfeder für die Entwicklung betrachtet werden, nicht nur als Folge des Wachstumsprozesses. Die Konzentrierung des Einkommens auf gewisse Schichten hat sich zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens akzentuiert, die Zahl der Armen konnte seit dem vergangenen Jahr um 8% verringert werden.
Wollen Sie damit sagen, dass die historischen sozialen Ungleichgewichte Ihres Landes heute weniger ausgeprägt sind?
LULA: Ca. neun Millionen arme Familien konnten bereits in den Genuss des wichtigsten Programms zur Einkommensverteilung kommen, das jemals in Brasilien geschaffen wurde: Bolsa Família. Von 2003 bis heute haben wir für dieses Programm 17,5 Milliarden Reais ausgegeben [ca. 6,4 Milliarden Euro, Anm.d.Red]. Bolsa família ist eine Fortführung von Fome zero, lief im Oktober 2003 an und vereint vier Programme zur Einkommensverteilung in sich. Es ist heute bereits in allen brasilianischen Gemeinden angelaufen. 81% der armen Familien ganz Brasiliens kommen in den Genuss dieses Programms, und wir hoffen, die Zahl dieser Familien bis Ende des Jahres auf 11,1 Millionen angehoben zu haben. All dieser Menschen eben, die laut nationalem Statistikbüro für Brasilien am Rande des Existenzminimums leben.
Auch die Verteilung des Bodens stellt in Brasilien ein großes Problem dar. Wie sieht die derzeitige Situation aus?
LULA: Die Agrarreform konnte in den letzten drei ein halb Jahren große Fortschritte machen. Mehr als 22 Millionen Hektar wurden vergeben, ein Territorium, das so groß ist wie das Portugals, Hollands und Belgiens zusammen. 245.000 Familien konnten davon profitieren. Dahinter standen aber nicht nur quantitative Überlegungen, sondern auch das Ziel, im Rahmen der Agrarreform qualitativ bessere Bedingungen zu schaffen.
Was bedeutet das konkret?
LULA: Dass den Familien nicht nur Land zugewiesen wurde, sondern man sich auch darum bemühte, die notwendigen Anbaubedingungen zu schaffen. Und das bedeutet nicht nur öffentliche Investitionen für die Schaffung von Infrastrukturen, sondern auch technische Assistenz, die Ermöglichung eines breiteren Kreditrahmens, neue Finanzierungslinien. Sie müssen sich vorstellen, dass im Jahr 2005 sieben von zehn neuen Ansiedlungen in den Genuss technischer Hilfsdienstleistungen kamen, um deren Produktionsleistung zu verbessern und somit auch zu erhöhen.
Brasilien ist nicht der einzige südamerikanische Staat, in dem man eine Veränderung der sozialen Entwicklungspolitik beobachten kann. Wie beurteilen Sie die derzeit vor sich gehenden Veränderungen auf dem Kontinent?
LULA: Wir können heute sehen – und das gilt besonders für Südamerika –, dass das neoliberale Wirtschaftsmodell, das in einer verringerten Präsenz des Staates die Antriebsfeder des nationalen Entwicklungsprozesses sah, ausgedient hat. Die erst in jüngerer Zeit gewählten südamerikanischen Regierungen erkennen den Umstand an, dass man dem Staat bei der Definition der Öffentlichkeitspolitik eine strategische Rolle übertragen muss. Und sind der Überzeugung, dass die Verteilung des Einkommens als Antriebsmotor für die Entwicklung verstanden werden muss. Das schließt ein Engagement für die makroökonomische Stabilität, eine gewisse Umsicht in der Steuerpolitik und die makroökonomischen Reformen nicht aus, die in der südamerikanischen Region allmählich Fuß fassen können. In diesem Rahmen wird ein jedes Land seinen eigenen Weg einschlagen.
Die Integration Südamerikas. Gewiss keine neue Idee. Wir haben ihr eine größere Betonung, Bedeutung verliehen. Absolute Priorität. Und dort begonnen, wo sie möglich ist.
Sie haben hier in Brasìlia bereits alle südamerikanischen Präsidenten empfangen, in den letzten zwei Jahren alle Länder Südamerikas besucht, was die neue, präzise Ausrichtung der Außenpolitik Ihrer Regierung zeigt…
LULA: Ja. Die südamerikanische Integration. Gewiss keine neue Idee. Wir haben ihr nur eine größere Betonung, Bedeutung verliehen. Absolute Priorität. Und wir haben dort begonnen, wo es möglich ist. Schließlich hat auch die Europäische Union mit dem Europa der Sechs begonnen, weil das in jenem historischen Moment das am leichtesten umzusetzende Projekt war. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Länder – wenn wir zusammenarbeiten – jene Veränderungen bewirken können, die für eine wettbewerbsfähige Integration in eine globalisierte Wirtschaft notwendig sind. Und das ist auch der Grund, warum wir uns für den regionalen Integrationsprozess engagieren, dessen weitreichendster Ausdruck der im Entstehen begriffene Südamerikanische Staatenverbund ist.
Welche Rolle spielt dabei der MERCOSUR? Nach jahrelangem Stocken scheint er jetzt wieder aufzuleben …
LULA: Der MERCOSUR [Gemeinsamer Markt des Südens, Anm.d.Red.] ist ein zentrales Element des regionalen Integrationsprozesses. Wir haben derzeit mehr als 250 Millionen Einwohner, ein BIP von 1.300 Milliarden Dollar und einen globalen Handel, der sich auf Ziffern von mehr als 320 Milliarden Dollar beläuft. Ich bin davon überzeugt, dass MERCOSUR eine Zukunft hat. Das habe ich auch beim letzten Gipfel des Blocks in Cordoba, Argentinien, deutlich zu verstehen gegeben. Wir werden uns zweifellos noch vielen Herausforderungen stellen müssen, aber das ist nur natürlich. So engagiert sich Brasilien z.B. intensiv für die Verringerung der Unregelmäßigkeiten, mit denen die „kleineren“ Mitglieder des MERCOSUR zu kämpfen haben, will den „Strukturfonds“ operativ machen, der deren Wirtschaften zu Investitionen verhelfen, den Zugang ihrer Waren zu den besser entwickelten Märkten des Blockes erleichtern wird.
Seit kurzem ist auch Venezuela Mitglied des MERCOSUR. Welche Beziehungen haben Sie zur venezolanischen Regierung und wie beurteilen Sie den Beitritt dieses Landes zum Block?
LULA: Brasilien hat sich stets an das Prinzip der Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten anderer Regierungen gehalten. Unsere Regierung hat versucht, ein Gleichgewicht zu schaffen, bzw. das Prinzip der Nichteinmischung mit dem der „Nicht-Gleichgültigkeit“ zu verbinden. Wenn wir also eine Situation haben, in der wir in demokratischer Weise, im Namen des Dialogs, unseren Beitrag leisten können, dann tun wir das. Wie eben auch im Falle Caracas. Der Beitritt eines Landes wie Venezuela zum MERCOSUR ist für den Block von großer Wichtigkeit. Venezuela repräsentiert nicht nur 25 Millionen Konsumenten, sondern verfügt auch über erhebliche Gas- und Ölressourcen, was für die Energie-Integration des Kontinents nicht unwichtig ist. Außerdem engagiert es sich stark für die Handelsintegration – eines der grundlegenden Ziele von MERCOSUR.
Neben der Integration Südamerikas treiben Sie auch die Zusammenarbeit der Staaten Südamerikas, also mit den anderen Schwellenländern, voran…
LULA: Eine größere Zusammenarbeit mit anderen Schwellenländern war ein deutlich neuer Kurs unserer Regierung, der auf die Integration Südamerikas abzielt. Wir haben eine Allianz mit Indien und Südafrika geschmiedet, zwei großen demokratischen Staaten auf verschiedenen Kontinenten, mit denen wir ähnliche Ansichten teilen, auf Vertrauen gegründete Beziehungen unterhalten. Diese Allianz [IBSA, Anm.d.Red.] konnte zu Beginn unserer Regierung entstehen und hat auch wesentlich zur Bildung der G20 beigetragen.
Und was ist mit der ALCA? Ist ihre Glanzzeit definitiv vorbei?
LULA: Die ALCA [Freihandelszone für ganz Amerika, Anm. d.Red.] wird neuen Aufschwung erleben, sobald die Voraussetzungen zu Verhandlungen gegeben sind, die alle Beteiligten akzeptieren können. Brasilien stellt sich nicht gegen die ALCA. Sie hat einfach nur den richtigen Moment verpasst.
Präsident Lula mit dem indischen Ministerpräsidenten Manmohan Singh und dem Präsidenten Südafrikas, Thabo Mbeki (Brasìlia, 13. September 2006).

Präsident Lula mit dem indischen Ministerpräsidenten Manmohan Singh und dem Präsidenten Südafrikas, Thabo Mbeki (Brasìlia, 13. September 2006).

Wie steht es heute um die Beziehung Brasìlia - Washington?
LULA: Es ist eine Beziehung, die von einer Verhandlungsbereitschaft auf der Grundlage einer gleichen Würde geprägt ist.
Wie würden Sie sie definieren…
LULA: Objektiv. Sehr gut. Der gegenseitige Austausch, unsere gegenseitigen Besuche, sind in den letzten Jahren intensiver geworden.
Gilt das auch für die Europäische Union?
LULA: Ja, gewiss. Und das alles in einer Zeit, in der der Export in die Vereinigten Staaten und die Europäische Union jeden Rekord schlägt. Diese Beziehungen zielen darauf ab, unsere Verhandlungsmöglichkeiten auszubauen, vor allem durch die Integration Südamerikas und die Zusammenarbeit der Staaten Südamerikas.
Wie beurteilen Sie die Ende Juli erfolgte Suspendierung der WTO-Verhandlungen?
LULA: Wie der Großteil der Länder waren auch wir sehr unglücklich über die Suspendierung der Verhandlungen der Welthandelsorganisation. Was hier auf dem Spiel steht, sind nicht nur ein paar Zugeständnisse im Bereich des Handels. Es geht um die Zukunft des Multilateralismus im wirtschaftlichen Bereich, mit offensichtlichen Auswirkungen auch auf den sozialen und politischen. Die Schwellenländer brauchen keine Begünstigung. Sie brauchen gerechte Voraussetzungen, um ihre Vorzüge wettbewerbsfähig machen zu können. Die Verhandlungskrise hat keine technische, sondern eine politische Ursache. Es ist eine Krise, in der es an Leadership fehlt. Aus diesem Grund arbeitet Brasilien auch weiterhin mit den wichtigsten Leaders der Industrie- und Schwellenländer zusammen, um einen möglichen Ausweg zu finden, einen Weg, der beschritten werden kann.
In Europa spricht man schon seit mindestens drei Jahren von einer „Sackgasse“ …
LULA: Sehen Sie, ich glaube, dass wir uns in einer anderen Phase befinden. Die Schwellenländer haben im Vergleich zu früher eine andere Position, eine andere Dynamik bei den Verhandlungen erreicht. Und ich bin zuversichtlich, dass wir uns nach einer Analyse der aktuellen Situation wieder an den Verhandlungstisch setzen, auf beiden Seiten die notwendige Flexibilität haben werden, um dieses Verhandlungsprojekt auch tatsächlich anlaufen zu lassen. Und zwar mit dem nötigen Ehrgeiz, aber auch im Zeichen der Ausgewogenheit und zum Vorteil aller. Der letzte Besuch der US-Botschafterin und stellvertretenden Handelsbeauftragten Susan Schwab in Brasilien – der zweite in den letzten sechs Monaten – , bei dem die Voraussetzungen für derartige Verhandlungen geprüft werden sollten, ist sicher ein positives Zeichen.
Sprechen wir über die Vereinten Nationen. Generalsekretär Kofi Annan fand in der UNO mehrfach lobende Worte für Brasilien. Man hat Ihrem Land die Koordinierung der schwierigen Mission in Haiti anvertraut. Welche Ziele verfolgen Sie im Hinblick auf eine eventuelle Reform dieses Organismus’?
LULA: Eine Stärkung des Multilateralismus.
Einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat also?
LULA: Das ist kein neuer Gedanke, sondern einer, den schon Roosevelt hatte – in Anbetracht der geopolitischen Gleichgewichte der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Ganze scheiterte dann am Widerstand Churchills und Stalins, die aus verschiedenen Gründen dagegen waren. Die Welt hat sich seit damals verändert. Wenn wir aber von einem Beitritt Brasiliens – als Ständiges Mitglied – zum Sicherheitsrat sprechen, ist das keine Frage nationalen Prestiges, sondern ein wichtiger Beitrag zur Schaffung einer multipolareren Welt. Brasilien kann dazu beitragen, und das gilt meiner Meinung nach auch für Indien und andere Länder.
Präsident Lula und der Comboni-Missionar Pater Franco Vialetto bei dem 30Tage gewährten Interview.

Präsident Lula und der Comboni-Missionar Pater Franco Vialetto bei dem 30Tage gewährten Interview.

Vergangenes Jahr besuchten Sie verschiedene arabische Länder, darunter auch den Iran, riefen einen Organismus für die Beziehungen zwischen Südamerika und arabischen Ländern ins Leben. Wieder ein vollkommen neuer Kurs der brasilianischen Politik, aber auch der internationalen Geopolitik…
LULA: Der sich natürlich erst mit der Zeit konsolidieren wird.
Das amerikanische Einschreiten im Irak haben Sie kritisiert. Wie beurteilen Sie die derzeitige, krisengeladene Situation in Nahost?
LULA: Sehen Sie, Brasilien ist ein Land der Emigranten; ein Land, in dem verschiedene ethnische und religiöse Gruppen seit jeher friedlich zusammenleben. Die arabischen und jüdischen Gemeinschaften hier sind stark vertreten, haben nicht nur untereinander sehr gute Beziehungen, sondern auch zu den anderen ethnischen und konfessionellen Gruppierungen. Sowohl Araber als auch Juden sind in der brasilianischen Gesellschaft gut integriert. Und wenn die Mitglieder dieser Gemeinschaften dann die Möglichkeit haben, in ihre Heimat zurückzukehren, arbeiten sie dort als informelle Botschafter unserer Kultur und unserer demokratischen Werte. Das erklärt auch, warum Brasilien traditionell für das Recht Israels eintritt, innerhalb seiner international anerkannten Grenzen in Sicherheit zu leben, gleichzeitig aber auch das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und ein Leben in einem souveränen und unabhängigen Staat anerkennt und unterstützt. Ich habe stets bekräftigt, dass Brasilien im Rahmen seiner Möglichkeiten bereit ist, die Arbeit des Quartetts zu unterstützen. Und der jüngste Regierungsbeschluss, eine Million Dollar für den Wiederaufbau des Libanon und die betroffenen Gemeinschaften zur Verfügung zu stellen, zeigt die Betroffenheit des brasilianischen Volkes und seinen Verantwortungssinn in der Sache des Friedens in Nahost und des Wohlergehens der dort lebenden Völker.
Am Vorabend Ihrer Wahl haben Sie sich in São Paulo mit Massimo D’Alema getroffen. D’Alema ist heute italienischer Außenminister. Wie beurteilen Sie die italienische Außenpolitik in diesem international so kritischen Moment?
LULA: Italien kann und muss einen entscheidenden Beitrag in Nahost leisten. Dass man Massimo D’Alema zum Außenminister gemacht hat, halte ich für eine gelungene, überaus wichtige Entscheidung. Er ist nicht nur ein persönlicher Freund, sondern auch ein Freund Brasiliens.
Präsident Lula am Ende des Interviews für 30Tage.

Präsident Lula am Ende des Interviews für 30Tage.

Man kann sagen, dass die Beziehungen zwischen Italien und Brasilien heute enger sind als in der Vergangenheit…
LULA: Vor ein paar Monaten hatte ich eine Unterredung mit dem Präsidenten von Confidustria [Verband der ital. Industriellen, Anm.d.Red.], Luca Cordero di Montezemolo, und ich habe ihm gesagt, dass es keinen Sinn hat, die bilateralen Beziehungen zwischen Brasilien und Italien nicht zu verstärken; nicht nur die zum italienischen Staat, sondern auch zur italienischen Gesellschaft. Der Grund dafür liegt auf der Hand: mit Italien verbindet uns schon historisch ein starkes Band, viele Brasilianer sind italienischer Abstammung – auch meine Frau hat die doppelte Staatsbürgerschaft. Dank unserer historischen Beziehungen, kulturellen Gemeinsamkeiten und politischen Nähe ist die Beziehung zwischen Italien und Brasilien strategisch wichtig und kann sich nur weiterentwickeln.
Wie kann man diese Beziehungen weiter ausbauen?
LULA: Der jüngste Besuch der italienischen Confindustria in Minas Gerais, Rio de Janeiro und São Paulo, zeigte das Interesse für die Schaffung von joint ventures in verschiedenen Bereichen. Wir haben unsere Mitarbeit auf dem Sektor der Bankentechnologie, der Steuereinziehungspolitik und der Biotechnologie angeboten. Brasilien arbeitet darüber hinaus mit allen lateinamerikanischen Ländern zusammen, und wir glauben, dass ein Land wie Italien eine starke Präsenz in Südamerika haben kann. Unser Kontinent verfügt über Wirtschaftszweige, die im Wachsen sind, die Demokratie konsolidiert sich immer mehr, und es ist wichtig, dass Italien beginnt, Südamerika zu verstehen, über Brasilien hinaus. Brasilien ist im Hinblick auf eine stärkere Präsenz Italiens in Südamerika bereit, Partner zu sein. Natürlich braucht Italien Brasilien nicht, um nach Argentinien, Uruguay, Paraguay oder Kolumbien vorzudringen – um hier nur einige Staaten zu nennen –, aber ich bin doch der Meinung, dass Brasilien schon aufgrund unserer politischen Nähe einen guten Beitrag dazu leisten kann, Italien Südamerika näher zu bringen.
„Die Hoffnung hat die Angst besiegt,“ lautete ihr Wahlmotto vor vier Jahren. Was bedeutet das heute für Sie, auch vor dem Hintergrund der schwierigen internationalen Situation?
LULA: Die größte und hartnäckigste Bedrohung unserer kollektiven Sicherheit geht von der globalen Geißel der Armut und des Hungers aus. Einer Geißel, von der Millionen von Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. Das rechtfertigt zwar keineswegs den heute umgehenden Terrorismus, den wir bekämpfen müssen, trägt aber dazu bei, dass dieser in Gemeinschaften, die frustriert, ohne Hoffnung sind, auf fruchtbaren Boden fällt. Hier sinnlose Rhetorik zu üben, führt zu nichts. Und daher kann ich nun erst recht sagen, dass die Umsetzung von Finanzmechanismen, mit denen man den ärmsten Ländern helfen kann, den Weg zum Fortschritt einzuschlagen, die einzige Hoffnung ist, die die Angst besiegen kann.


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