UMFRAGE. Die Araber in dem südamerikanischen Giganten.
Eine Brücke zwischen Lateinamerika und Nahost
Die Zahl der Brasilianer arabischer Abstammung beläuft sich heute auf 12 Millionen. Sie sind libanesischer oder syrischer Herkunft, leben vor allem im Staate São Paulo und im Süden des Landes. Es gibt etwa fünfzig Moscheen und zahlreiche islamische Zentren, aber der Großteil der arabischen Brasilianer ist katholisch.
von Paolo Manzo
Gipfels Südamerika-Arabische Liga (Brasilia, 10.-12. Mai 2005). Vor dem Blue Tree Hotel in Brasilia, Sitz der Arbeiten, wird die palästinensische Flagge gehisst.
Wenn von der arabischen Familie in Brasilien die Rede ist (ich sage „Familie“, weil die Arabische Liga derzeit insgesamt 22 Mitgliedsstaaten zählt) sind vor allem Libanesen und Syrer gemeint. Sie wanderten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am „fleißigsten“ nach Brasilien ein. Der Schriftsteller und Geschichtswissenschaftler Manuel Diegues Júnior weiß zu berichten, daß schon seit der Kolonialzeit Araber in Brasilien lebten; jener Zeit also, in der Portugal Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich unterhielt. Laut Statistik der Einwanderungsbehörde wurde aber die erste arabische „Einwanderungswelle“ in Brasilien zwischen 1865 und 1900 verzeichnet. Die ersten Einwanderer, die in Rio de Janeiro offiziell registriert wurden – im Jahr 1835 – waren die Brüder Zacarias aus Beirut. Nur aus diesem Grund sind sie in die Geschichte eingegangen. Der Großteil der Araber, die im 19. Jahrhundert nach Brasilien strömten, kam aus dem Libanon und aus Syrien, damals Kolonien des Osmanischen Reichs. Sie schifften sich mit einem türkischen Paß in Beirut ein. Deshalb wurden sie auch allgemein als „türkische“ Einwanderer registriert. „Dabei haben die Türken von heute mit den Arabern nichts gemeinsam. Sie gehören einer anderen Rasse und Ethnie an, haben eine andere Nationalität.“ Soweit der Repräsentant der syro-libanesischen Gemeinschaft beim Staatlichen Rat ausländischer Gemeinschaften und Kulturen (CONSCRE), Rezkalla Tuma.
Wie erklärt es sich, daß ca. 10% aller Menschen, die zwischen 1870 und 1900 nach Brasilien einwanderten, Araber waren? Daß die Araber also in den „Einwanderungscharts“ an dritter Stelle liegen – gleich nach Italienern (die manchmal sogar 60% ausmachten) und Portugiesen? Es hat sicherlich mit dem Umstand zu tun, daß Kaiser Pedro II., der fließend arabisch sprach, 1876 nach Beirut und Damaskus gekommen war. Dort hatte er seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, bei „den Menschen, die schon das die Jahrtausende überdauernde Damaskus, Wiege der Zivilisation, erbauten“ Hilfe für den Bau Brasiliens zu finden. So kam es also – vor 130 Jahren und aus strategischen Gründen – zu einer Intensivierung der ohnehin schon starken Beziehung zwischen arabischer Welt und Brasilien. Der Besuch des Kaisers bewirkte eine wahre Einwanderungswelle von Arabern nach Brasilien. Für viele Syrer und Libanesen, die ein neues Leben beginnen wollten und sich Wohlstand erhofften, wurde die Strecke Beirut-Santos-São Paulo zum begehrten Reiseziel. Auch nach der Ausrufung der Republik am 15. November 1889 schickten arabische Einwanderer an ihre Familienangehörigen und Freunde noch fleißig „Einladungen“: Briefe, in denen eine einfache Fahrkarte für die Schiffsreise nach Brasilien steckte.
Die Zahl der brasilianischen Bürger arabischer Abstammung beläuft sich laut heutigen Schätzungen auf mehr als 12 Millionen. Die zahlenreichste Gemeinschaft ist die der Libanesen (sieben Millionen), gefolgt von Syrern (vier Millionen) und Palästinensern, deren Einwanderung erst auf jüngere Zeit zurückgeht. Deutlich geringer ist die Zahl der Brasilianer ägyptischer, marokkanischer, jordanischer und irakischer Abstammung. Geographisch gesehen hat sich die arabisch-brasilianische Gemeinschaft „größtenteils im Staate São Paulo und in den südlichen Staaten des Landes angesiedelt, vor allem in Paraná,“ erklärt Tuma. „In Wahrheit lebt der Großteil der libanesischen Bevölkerung heute in Brasilien. In diesem Zusammenhang sollte die Triple Frontera erwähnt werden. Jenes Gebiet, wo drei aneinander angrenzende Städte entstehen konnten – das argentinische Puerto Iguazú, das paraguayanische Ciudad del Este und das brasilianische Foz do Iguaçu –, die zum Staat Paraná gehören. Dort leben 12.000 arabischstämmige Brasilianer, die fast alle libanesischer Herkunft sind und ihren Lebensunterhalt mit Handelsaktivitäten verdienen. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 geriet dieses Gebiet in die Schlagzeilen, weil seine Bewohner angeblich den internationalen Terrorismus, bzw. Al Qaeda, unterstützten. Bis zum heutigen Tag konnte das allerdings nicht bewiesen werden. Das einzige, was ich in den Jahren 2003 und 2005 dort an Illegalem feststellen konnte, war eine weit verbreitete Schmuggelaktivität.
Der brasilianische Präsident Lula bei einer Arbeitssitzung des Gipfels.
Von den vielen arabischstämmigen Brasilianern sprechen knappe 240.000 – also nur 2% – arabisch. Das erklärt sich daraus, daß sich die heutige dritte und vierte Generation vollkommen in den brasilianischen melting pot integriert hat und lediglich ihre kulinarischen Traditionen und kaufmännischen Neigungen beibehielt. Von ihrer Muttersprache wollten sie sich jedoch distanzieren, um zu zeigen, wie stolz sie darauf sind, „waschechte Brasilianer“ zu sein. Dennoch haben viele portugiesisch-brasilianische Wörter einen arabischen Wortstamm, angefangen bei dem allgemein gebräuchlichen Ausruf oxalá, der nichts anderes ist als eine verkürzte Form von „Insha’Allah“ („so Gott will“).
Nicht vergessen darf man auch, daß der Großteil der arabischstämmigen Brasilianer – im Gegensatz zu Europa – keine Muslime, sondern Katholiken sind. Die letzte Volkszählung von 2000, bei der die brasilianische Bevölkerung nach Religion unterteilt wurde, ergab, daß sich von den 180 Millionen Brasilianern knappe 27.239 als Anhänger des Islam bezeichnen. Angesichts der 50 Moscheen und ca. 80 islamischen Zentren, die es in ganz Brasilien gibt, könnte diese Zahl zu niedrig angesetzt sein, und vielleicht hat der Federação Islâmica Brasileira recht, wenn er sagt, daß die Muslime lato sensu (also Nicht-Praktizierende eingeschlossen) ca. anderthalb Millionen ausmachen. Der Prozentsatz der Muslime bleibt im Verhältnis zur Gesamtzahl der arabischstämmigen Brasilianer jedoch auch so noch niedrig, liegt bei 12,5%. Das erklärt sich aus dem Umstand, daß der Großteil derer, die Ende des 19. Jahrhunderts ins Land kamen, griechisch-orthodox, Maroniten oder Kopten waren, die sich dann der überwiegenden katholischen Religion anpaßten. Experten sind der Meinung, daß Brasilien ein positives Beispiel für ein ökumenisches Zusammenleben ist: „Es ist in der Tat das einzige Land der Welt, wo Gläubige vieler verschiedener Religionen harmonisch zusammenleben,“ erläutert Tuma. „Die Nachfahren der verschiedenen Ethnien, seien es nun afrikanische, arabische, europäische oder asiatische, vermischen sich durch Mischehen in einem geradezu rasenden Tempo.“
Eine kompetente Anlaufstelle für alles, was das Thema „Araber in Brasilien“ betrifft, ist sicherlich das Büro der Agência de Notícias Brasil-Árabe, in der Avenida Paulista 326, mitten im Zentrum von São Paulo. Dort, im 18. Stock, wo sich die Redaktion der Anba befindet, gewinnt man einen Einblick in die engen Wirtschaftsbeziehungen, die Brasilia an die 22 Mitglieder der arabischen Liga binden. Allein dank der Exportgeschäfte konnten im Oktober 2006 mehr als 730 Millionen US-Dollar erwirtschaftet werden, 57% mehr als noch im Oktober 2005. Soweit das Sekretariat für Außenhandel, Secex.
Zugpferd der Exportgeschäfte zwischen Brasilien und den arabischen Ländern ist der Landwirtschaftssektor, mit einem monatlichen Umsatz von 540,3 Millionen Dollar – 85% mehr als im Oktober 2005. Die aggressive Strategie diesen Märkten gegenüber hat Antonio Sarkis Jr., Vorsitzender der arabisch-brasilianischen Handelskammer, treffend definiert: „Brasilianischer Zucker kann sich in arabischen Geschäften zusehends gegen den aus Europa durchsetzen. Vor allem jetzt, wo die Welthandelsorganisation den Brüsseler Export in diesem Bereich auf 1,4 Millionen Tonnen beschränkt hat.“ Die Zahlen scheinen ihm recht zu geben, wenn es stimmt, daß gerade der Export des „Produkts Zucker“ am meisten gestiegen ist (um 170%), mehr als 325 Millionen Dollar Umsatz machen konnte. Wenn man die wichtigsten brasilianischen Exportmärkte einzeln betrachtet, stellt man fest, daß das größte Wachstum im Irak verzeichnet werden konnte: mehr als 229%, verglichen mit Oktober 2005: ein Gesamtwert von 38 Millionen Dollar. Gefolgt von Algerien mit 53,5 Millionen (+188%), den Vereinigten Arabischen Emiraten mit 176,8 Millionen (+172%), Ägypten mit 107 Millionen (+61,3%) und Saudi-Arabien mit 147,6 Millionen (+18,7%). Von Januar bis Oktober 2006 nahm der brasilianische Export in arabische Länder verglichen mit 2005 um 22,9% zu, erreichte 5,26 Milliarden Dollar. Auch hier ein Rekord.
In Sachen Industrieproduktion ist erwähnenswert, daß das brasilianische Unternehmen Embraer den Saudi Arabian Airlines 15 Flugzeuge lieferte und ähnliche Verträge auch mit Egypt Air und Royal Jordanian abschließen konnte. In Sachen Import – vor allem Erdöl und seine Derivate – war das Wachstum im selben Zeitraum geringer (+ 8,3%), mit einem Gesamtwert von 4,65 Milliarden Dollar.
In den vergangenen Jahren konnten die Beziehungen zwischen Brasilien und den arabischen Ländern auch politisch gestärkt werden.Vor allem seit der ersten offiziellen Reise Lulas vom 3.-10. Dezember 2003 nach Syrien, in den Libanon, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Libyen.
In den vergangenen Jahren konnten die Beziehungen
zwischen Brasilien und den arabischen Ländern auch politisch
gestärkt werden. Vor allem seit der ersten offiziellen Reise Lulas vom
3.-10. Dezember 2003 nach Syrien, in den Libanon, die Vereinigten
Arabischen Emirate, Ägypten und Libyen. Ein wichtiger Besuch, mit dem
die Handelbeziehungen der beiden Blöcke angekurbelt werden konnten.
Aber auch – wie der Präsident ca. hundert Unternehmern aus Kairo
gegenüber erklärte – ein entscheidender, weil „die
Verhandlung mit den Ländern des G8 schwierig sind, sogar im Innern der
Welthandelorganisation. Wenn sich Schwellenländer wie Ägypten und
Brasilien aber zusammenschließen, wird man in eine ausgewogenere
Konkurrenz zu den Industriestaaten treten können...“ Was sich ja
dann, nur wenige Monate später, beim Eintritt Ägyptens in die G20
tatsächlich zeigen sollte. Jener Gruppe aufstrebender Länder, die
das Itamaraty und Lula so sehr befürwortet hatten und die nun bei den
Verhandlungen mit den reichen Ländern eine bessere Ausgangsbasis hat,
vor allem in Sachen Wirtschaftsfragen. Jüngste Etappe war das erste
Gipfeltreffen der 12 Länder Südamerikas und der 22
Mitgliedstaaten der Arabischen Liga. Ein Treffen, das im Mai 2005
ausgerechnet in Brasilien stattfand. Erklärtes Ziel war die
Stärkung der bereits bestehenden Wirtschaftsbeziehungen. Vor allem
aber wollte man die arabische Welt in den weltweiten strategischen Plan
miteinbeziehen, den der brasilianische Präsident für
Südamerika hat. Bei dieser Gelegenheit enthüllte der
brasilianische Außenminister Celso Amorim, daß der MERCOSUR
(Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) schon bald ein
Handelsabkommen mit den Ländern des Golf-Kooperationsrates
unterzeichnen würde, den reicheren arabischen Ländern der Region
(Saudi-Arbien, Arabische Emirate, Kuwait, Oman und Qatar). Was dann am
Morgen des 10. Mai 2005 auch tatsächlich geschah.
Heute, anderthalb Jahre später, erklärt Amorim 30Tage gegenüber, wie wichtig diese neuen Beziehungen sind: „Die im Mai 2005 eingeleitete Zusammenarbeit mit den arabischen Ländern war etwas Neues in der brasilianischen Politik und – wie ich sagen würde – auch in der weltweiten Geopolitik. Es wird sicher noch lange dauern, bis diese Zusammenarbeit gefestigt ist, aber sie ist zweifelsohne innovativ, fast schon ‚revolutionär‘. In der Zwischenzeit wurde bereits das zweite Gipfeltreffen der beiden Blöcke anberaumt. Es soll im Frühjahr 2008 in Marokko stattfinden.