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DOKUMENT
Aus Nr. 11 - 2006

DER KONGRESS ZUM ANTLITZ CHRISTI

Vergebung und Gemeinschaft bei Johannes Paul II.


Die Ansprache des Rektors der Päpstlichen Lateran-Universität bei der 10. Tagung des internationalen Kongresses zum Antlitz Christi.


von Rino Fisichella


Monsignor Rino Fisichella, Kardinal Fiorenzo Angelini und der Schriftsteller Alain Elkann bei den Arbeiten des 10. int. Kongresses zum Antlitz Christi (14. und 15. Oktober, Päpstliche Universität Urbaniana, Rom).

Monsignor Rino Fisichella, Kardinal Fiorenzo Angelini und der Schriftsteller Alain Elkann bei den Arbeiten des 10. int. Kongresses zum Antlitz Christi (14. und 15. Oktober, Päpstliche Universität Urbaniana, Rom).

Ein konsequentes Zeugnis
Noch lange wird Johannes Paul II. als bedeutendster Ausdruck des Lebens der Kirche am Anbruch des Dritten Jahrtausends ihrer Geschichte in Erinnerung bleiben. Schon ein Blick auf die Statistiken löst unweigerlich Staunen aus: können wir doch sehen, daß dieser Mann die Welt bereist hat wie kein zweiter, keinen Winkel auf der Erde auslassend, den zu bereisen man ihm gestattete, um allen das Evangelium Jesu Christi zu verkünden. Millionen und Abermillionen von Glaubenden und Nicht-Glaubenden strömten zusammen, um seinen Worten zu lauschen, sein Angesicht zu sehen, die ein oder andere seiner Gesten zu interpretieren und – im Falle besonders Glücklicher – ein paar Worte mit ihm zu wechseln, seinen Segen zu erhalten. 27 Jahre lang hat er uns das Gesicht einer jungen Kirche gezeigt, die eine unseren Zeitgenossen verständliche Sprache spricht. Vor allem aber hat er Zeugnis abgelegt dafür, wie man jede Jahreszeit des Lebens mit Würde leben kann, trotz Krankheit und Leid, um Schmerz und Tod einen Sinn zu geben. Die Bilder vom Pontifikatsbeginn im Oktober 1978 zeigen uns einen 58 Jahre jungen Papst: sportlich, faszinierend, stark und gleichzeitig heiter. Und doch stehen sie keineswegs im Kontrast zu denen, die ihn fast bewegungslos im Rollstuhl zeigen – „Tragsessel“, den er niemals wollte –; zwar nicht mehr in der Lage, sich mit Worten auszudrücken, aber doch mit stets wachsamem, aufmerksamem Blick. In Johannes Paul II. hatte die Kirche einen Zeugen von kühnem, begeistertem und konsequentem Glauben. Vom Anfang bis zum Ende hat er das Wort des Herrn deutlich gemacht: „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern... und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28, 19-20).
Ein tieferes Verständnis der Lehre Johannes Pauls II. kann ein Blick auf seine erste Enzyklika ermöglichen: Redemptor hominis. Hier nämlich finden sich die wesentlichen Elemente seines pastoralen Wirkens, das seinem Pontifikat jenen Enthusiasmus und jene Kraft verlieh, von denen es gekennzeichnet war. Im Mittelpunkt des Denkens von Johannes Paul II. stand der tiefe Glaube, daß Christus der Erlöser der Menschen ist. Sein Erlösungswerk erreicht von Golgotha jeden Menschen zu allen Zeiten, ohne Unterschied. In derselben Weise, in der sein Opfer am Kreuz alle erreicht, kann auch niemand von seiner Liebe ausgeschlossen sein. „Der Mensch,“ schrieb der Papst „kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält“ (Rh, Nr. 10). Gerade diese Liebe zeigt, wenn Sie wollen, das Ausmaß des Heils und der Erlösung des Menschen von seiner Schuld. Wenn man sich der Liebe Christi öffnet, kann man die verlorengegangene Größe wiederfinden und zurückerlangen, die Würde des Daseins als Person und den Wert der persönlichen Teilnahme an der Geschichte. Die Sendung der Kirche wurde also von Johannes Paul II. so interpretiert, daß ein jeder Mensch seinen Blick auf das Antlitz Christi richten konnte, das die trinitäre Liebe Gottes offenbart und zum Ausdruck bringt.

Die Liebe im Mittelpunkt
Liebe ist das Wort, das die Kirche lebendig erhält und ihre Botschaft, ihren Auftrag im Laufe der Jahrhunderte eine fortwährende Provokation sein läßt. Aber nicht etwa eine Liebe, die sich von der menschlichen Erfahrung herleitet, oder eine, die sich als intellektueller Ausdruck gefällt. Nein, eine wahre Liebe, konkret, greifbar. Eine Liebe, die ein jeder prüfen kann, indem er sich vor das Antlitz Jesu von Nazareth begibt. Es ist kein Zufall, wenn Johannes Paul II. gerade diesem Thema eines seiner bekanntesten Dokumente – Novo millennio ineunte – widmen wollte, um die Kirche auf ihrem Weg ins Dritte Jahrtausend zu bestärken: „Unser Zeugnis wäre jedoch unerträglich armselig, wenn wir nicht zuerst Betrachter seines Angesichtes wären. [...]. Während wir nach Abschluß des Jubiläums den gewöhnlichen Weg wieder aufnehmen und dabei den Reichtum der in diesem ganz besonderen Jahr erlebten Erfahrungen im Herzen tragen, bleibt der Blick mehr denn je auf das Antlitz des Herrn gerichtet“ (Nmi, Nr. 16). Das ist das Geheimnis, das bis zum heutigen Tage einen jeden Glaubenden verantwortlich sein läßt für seine eigene Taufe, seine Mitbeteiligung an der Sendung der Kirche. Die Liebe muß nicht nur verkündigt werden, man muß sie in der Konkretheit ihrer Natur sicht- und greifbar machen. Aus diesem Grund gilt es, den Horizont der Offenbarung wiederzugewinnen; sonst wäre die Liebe der Zweideutigkeit der Begrifflichkeit und der Interpretationen des heutigen Relativismus unterworfen, wie uns Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est so treffend gelehrt hat.
Es stimmt, daß die gängigste Antwort auf die Frage: „Was ist die Liebe?“ ist: „Sein Leben geben für einen geliebten Menschen“. Eine konsequente Antwort, die nicht nur das Drama ihrer Wahrheit zutage treten läßt, sondern gleichzeitig auch den langen Weg zeigt, den wir gerufen sind zu gehen, um unsere Konsequenz unter Beweis zu stellen. Wenn man nämlich eine derartige Bemerkung äußert, hat man es mit einer ganz besonderen, „performativen“ Sprache zu tun, die einen jeden verpflichtet, zu leben, was er sagt, wenn er nicht mit der eigenen Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz konfrontiert sein will. Man hat sich jedoch schon so daran gewöhnt, den Begriff Liebe in dieser Bedeutung zu verstehen, daß man seinen Ursprung vergessen hat und auch die tiefe Bedeutung, die in diesen Begriff eingeflossen ist. Lieben als Synonym für „sein Leben hingeben“ kommt aus der Offenbarung Jesu Christi, der sein Leben für alle Menschen hingegeben hat, indem er am Kreuz gestorben ist. Ein Vergleich mit älterer Literatur und älteren Kulturen zeigt, wie einzigartig und originell diese Konzeption ist. Der besondere Beitrag, den das Christentum – sich von den anderen Religionen abhebend – hierzu allen Kulturen gegeben hat, konnte die universale Zivilisation einen großen Schritt weiterbringen. Die christliche Offenbarung gipfelt in dem Ausdruck: „Gott ist die Liebe“ (1Joh 4, 8-10). Zum ersten und einzigen Mal in der gesamten Bibel scheint der heilige Schriftsteller eine Definition Gottes geben zu wollen, die keinen Raum für weitere Formeln läßt. Verschiedene andere sind leicht in den einzelnen Texten des Neuen Testaments zu finden. Ausdrücke wie: „Ich bin das Licht“ (Joh 9, 5), „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14, 6), „Ich bin das Leben“ (Joh 11, 25) tragen Eigenmerkmale Gottes in sich. In diesem Fall jedoch will der heilige Schriftsteller den Blick direkt auf die Natur Gottes selbst heften, auf sein Wesen, auf das, was ihn als Gott ausmacht. Eine eingehende Analyse des Ersten Briefes des Johannes zeigt die tiefe Offenbarungsabsicht, die dieser Ausdruck besitzt, die große, ihm zugrundeliegende Bedeutung. Der gesamte erste Teil des Briefes scheint auf diesen Vers hinzuführen und – so paradox es auch scheinen mag – das gesamte Neue Testament scheint von diesem Begriff ausgehend in ein neues Licht getaucht: „Gott ist die Liebe... nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat“. Zweimal kurz hintereinander (Vers 8-10) wiederholt der Evangelist: „Gott ist die Liebe“ und macht es zur Grundlage der persönlichen Existenz eines jeden Menschen. In der Tat fährt er fort: „Jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott“ (Vers 7). Das Wesen des Gottes Jesu Christi besteht also darin, Liebe zu sein. Wer sich ihm öffnet und sich formen läßt, empfängt ein neues Leben; eines, das es möglich macht, aus Gott geboren zu werden, in Beziehung mit ihm zu treten und aus seinem Leben selbst zu leben. Dieses Leben der Gemeinschaft verläuft jedoch nicht nur in einer Richtung, von Gott zum Menschen. Der Evangelist bestätigt, daß sich die Liebe tatsächlich in einer Form der Reziprozität entwickelt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (Vers 16). Was soviel bedeutet wie: wer von Gott geliebt wird, kann wiederum ihn lieben und seine Liebe mit jenem Keim neuen Lebens erwidern, der ihm vom Glauben eingepflanzt wurde.
Johannes Paul II. beim Tag der Vergebung (12. März 2000).

Johannes Paul II. beim Tag der Vergebung (12. März 2000).

Der Evangelist beschränkt sich jedoch nicht darauf, das Wesen Gottes zu definieren. Er geht noch einen Schritt weiter, indem er herausstellt, auf welche Weise Gott liebt. Wenn Gott die Liebe ist, bedeutet das nämlich, daß er liebt. Wie Gott jedoch liebt, kann nur er selbst zeigen. Daraus folgt, daß seine Art zu lieben nicht nur zum wahren Urtyp aller Liebe wird, sondern zugleich auch zum Vorbild, dem jede Liebe nacheifern muß, die dieses Namens wert sein will. Noch einmal kommt uns der Evangelist zur Hilfe, wenn er ausdrücklich auf diese Art zu lieben verweist: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3, 16). Dieser Vers stellt einen Schlüsseltext des gesamten Neuen Testaments dar. Wenn man seinen unmittelbaren Kontext betrachtet, fällt auf, daß Jesus auf den Einwand des Nikodemus bezüglich der Unmöglichkeit, ein zweites Mal geboren zu werden, antwortet: „Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat“ (Joh 3, 13-15). Das Bild der von Moses nach dem Verrat des Volkes in der Wüste erhöhten Schlange wird von Jesus übernommen, um den Sinn seines Todes zu erläutern. Er muß am Kreuz „erhöht“ werden, damit das verheißene Heil endlich verwirklich werden kann. In diesem Kontext erlangt der Sinn unseres Verses Erklärungswert (er wird von einem „denn“ eingeleitet), vor allem aber wird klar, was der Ausdruck bedeutet, daß der Vater den Sohn „hingibt“. Eine syntaktische Besonderheit ermöglicht uns, das Verb „geben“ in absoluter Weise zu interpretieren. Es bedeutet: alles in vollkommener, totaler Weise geben. Wir könnten den Text wortwörtlich übersetzen und den dahinterliegenden Sinn hervortreten lassen: Gott liebt auf diese Weise: indem er seinen einzigen Sohn in den Tod schickt.
Wie wir gesehen haben, bringt das Verb „geben“ das Schenken in totaler Weise zum Ausdruck; die Menschwerdung des Sohnes, sein Wirken auf Erden, sein Leiden und sein Tod – all das ist ein Geschenk, mit dem der Vater seine Art zu lieben zeigt. Kurzum: nur so allein kann Gott lieben: indem er sich selbst hingibt, ohne irgendetwas als Gegenleistung zu verlangen. Eine einzigartige Art des Liebens, die nur Gott in die Welt bringen konnte, indem er eine neue Ausdrucksform der Liebe unter den Menschen einführte.
„Gott ist die Liebe“ gestattet es, zu einer weiteren Neuheit vorzudringen, die das Paradox des christlichen Lebens ausmacht. Die Liebe Gottes ist nämlich keine abstrakte Idee und auch kein mehr oder weniger allgemeines Gefühl; sie wird Fleisch in einem Menschen, der sie sichtbar macht in seinem Leben und Sterben. Die Liebe hat ein Gesicht: Jesus von Nazareth. Und kraft dieser Identifikation lassen sich einige Aussprüche Jesu verstehen, die sonst wegen ihrer Unverfrorenheit und ihres Hochmuts für die Menschen beleidigend klingen würden: „Denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt habt“ (Joh 16, 27), „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13, 34). Liebt einander wie ich euch geliebt habe... Wenn diese Worte über die Jahrhunderte hinweg bewahrt und als bedeutungsvoll akzeptiert wurden, dann weil ein jeder in diesem Menschen Gott selbst sieht; es könnte nicht anders sein.
Der Tod Jesu erlangt seine volle Bedeutung jedoch erst, wenn man ihn im Innern der Thematik ansiedelt, die sich mit der Art und Weise beschäftigt, in der Gott seine Liebe offenbart. Außerhalb dieses Kontexts würde er zu einem Akt der Gewalt gegen einen Unschuldigen werden. Er könnte höchstens Mitleid erwecken, niemals aber zu einer Regel für die Menschen werden, die der Widersprüchlichkeit des Todes einen Sinn geben wollen. Die Offenbarung stellt Leiden und Tod Jesu als letzte Form der Liebe Gottes in seinem Willen dar, die Menschheit zu retten. Das bleibt als ersatzloses Paradox der christlichen Offenbarung, an der alles Denken scheitert, wenn es nicht die Logik der Liebe Gottes annimmt. Zu recht konnte Johannes Paul II. schreiben: „Der gekreuzigte Sohn Gottes ist das geschichtliche Ereignis, an dem jeder Versuch des Verstandes scheitert, auf rein menschlichen Argumenten einen ausreichenden Beleg für den Sinn des Daseins aufzubauen. Der wahre Knotenpunkt, der die Philosophie herausfordert, ist der Tod Jesu Christi am Kreuz. Denn hier ist jeder Versuch, den Heilsplan des Vaters auf reine menschliche Logik zurückzuführen, zum Scheitern verurteilt. ‚Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt?‘ (1 Kor 1, 20), fragt sich der Apostel emphatisch. Für das, was Gott verwirklichen will, genügt nicht bloß die Weisheit des weisen Menschen, vielmehr ist ein entschlossener Übergang zur Annahme von etwas völlig Neuem gefordert: ‚Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen [...]. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten‘ (1 Kor 1, 27-28). Die Weisheit des Menschen lehnt es ab, in ihrer Schwachheit die Voraussetzung für ihre Stärke zu sehen; aber der hl. Paulus zögert nicht zu bekräftigen: ‚Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark‘ (2 Kor 12, 10). Der Mensch vermag nicht zu begreifen, wie der Tod Quelle von Leben und Liebe sein könne, aber Gott hat gerade das für die Enthüllung des Geheimnisses seines Heilsplanes erwählt, was die Vernunft als ‚Torheit‘ und ‚Ärgernis‘ ansieht. Mit Hilfe der Sprache der Philosophen seiner Zeit erreicht Paulus den Höhepunkt seiner Lehre und des Paradoxons, das er ausdrücken will: ‚Gott hat in der Welt das, was nichts ist, erwählt, um das, was etwas ist, zu vernichten‘ (1 Kor 1, 28). Der Apostel scheut sich nicht, von der radikalsten Sprache, welche die Philosophen in ihren Erwägungen über Gott verwendeten, Gebrauch zu machen, um das Wesen der ungeschuldeten Liebe zum Ausdruck zu bringen, die sich im Kreuz Jesu Christi geoffenbart hat. Die Vernunft kann das Geheimnis, das das Kreuz darstellt, nicht der Liebe entleeren; statt dessen kann das Kreuz der Vernunft die letzte Antwort geben, nach der sie sucht. Nicht die Weisheit der Worte, sondern das Wort von der Weisheit ist es, das der hl. Paulus als Kriterium der Wahrheit und damit des Heils festsetzt“ (Fides et ratio, Nr. 23).
Johannes Paul II. schrieb: „Der gekreuzigte Sohn Gottes ist das geschichtliche Ereignis, an dem jeder Versuch des Verstandes scheitert, auf rein menschlichen Argumenten einen ausreichenden Beleg für den Sinn des Daseins aufzubauen. Der wahre Knotenpunkt, der die Philosophie herausfordert, ist der Tod Jesu Christi am Kreuz.“
Die Kenosis bleibt also, wie man sieht, das wahre Geheimnis Gottes in dem Akt, wo er in die Geschichte tritt und sie erlöst. Das Kreuz macht nämlich als letztes Ereignis des Lebens Christi lediglich die Folgen der Fleischwerdung offensichtlich, durch die der Sohn Gottes im Schoß der Jungfrau Mensch wird. Zu recht konnte von Balthasar schreiben, daß das Ereignis des Kreuzes allein vor dem Hintergrund der Trinität betrachtet und nur im Glauben gedeutet werden könne. In dem unschuldig ans Kreuz Genagelten, der zum Vater ruft, warum er ihn verlassen hat, wird den Menschen die ganze Distanz zwischen dem Sohn und dem Vater offenbart, der ihn gesandt hat. In jenem Moment nimmt Jesus, der Sohn Gottes, nämlich tatsächlich die Sünde der Welt auf sich und scheint in den Augen der Menschen den Vater verloren zu haben, der ihn in die Hand des Feindes gibt, der Finsternis des Todes überantwortet. Und doch: gerade angesichts dieses Verlassen-Werdens in der Stunde des Todes bekommen wir eine Ahnung davon, wie weit die Liebe Gottes geht. Im Ereignis des Todes Jesu und in der Bedeutung, die er diesem gegeben hat, wird das Leben der Trinität selbst offenbart; es wird erlebt als ewiges und vollkommenes Schenken seiner selbst, wo die Selbsthingabe einzig im Hinblick auf die Zeugung geschieht.

Die Liebe als Vergebung und Gemeinschaft
Diese Überlegungen lassen uns mit größerer Sachkenntnis auf die Lehre Johannes Pauls II. zurückkommen, der schreibt: „Indem die Kirche das Bußsakrament bewahrt, bekräftigt sie ausdrücklich ihren Glauben an das Geheimnis der Erlösung als eine lebendige und lebenspendende Wirklichkeit, die der inneren Wahrheit des Menschen, der menschlichen Schuld und auch der Sehnsucht des menschlichen Gewissens entspricht“ (Rh, Nr. 20). Mit anderen Worten: der Papst bekräftigt, daß sich das Geheimnis der Erlösung des Menschen, verwirklicht von der Liebe des Sohnes Gottes, bis in unsere Tage im Geheimnis der Eucharistie offenbar macht, wahres Fundament des Lebens der Kirche und wirksames Zeichen der ständigen Gegenwart in der Geschichte der Menschheit. Das Geheimnis der Eucharistie bringt die Liebe Gottes zum Ausdruck und besagt gleichzeitig Vergebung und Gemeinschaft. Es ist interessant, aus dieser Perspektive die untrennbare Einheit, die den Akt der Vergebung und den Ruf zu einem neuen Leben in Gemeinschaft zusammenhält, im Denken Karol Wojtylas zu betrachten: „Die Eucharistie ist das Sakrament, in dem sich in vollendeter Weise unser neues Sein ausdrückt: Christus selbst legt hierin fortwährend und immer wieder neu im Heiligen Geist Zeugnis ab für unseren Geist, daß jeder von uns durch die Teilnahme am Geheimnis der Erlösung Zugang hat zu den Früchten der Versöhnung mit Gott, dem Vater, die der Sohn selbst durch den Dienst der Kirche gewirkt hat und immer wieder unter uns wirkt“ (Rh, Nr. 20). Denselben Gedanken bringt der Papst noch deutlicher zum Ausdruck, wenn er in seiner letzten Enzyklika Ecclesia de Eucaristia schreibt: „Den Keimen der Entzweiung unter den Menschen, die – wie die tägliche Erfahrung zeigt – aufgrund der Sünde tief in die Menschheit eingegraben sind, stellt sich die schöpferische Kraft der Einheit des Leibes Christi entgegen. Die Eucharistie, die die Kirche auferbaut, schafft gerade dadurch Gemeinschaft unter den Menschen“ (EdE, Nr. 24).
Das eucharistische Leben der Gläubigen zeigt jedenfalls nicht nur den Ruf zur Teilhabe am Geheimnis der Liebe Gottes, sondern stellt auch heraus, in welcher Weise Gott liebt: er nimmt den reuigen Sünder auf und versetzt ihn mit neuer Kraft in das Gemeinschaftsleben der trinitären Liebe. Vergebung und Gemeinschaft sind lediglich die zwei Seiten ein und derselben Medaille, mit der die Barmherzigkeit des Vaters offenbart wird. Wie wir jetzt sehen können, gelangt man dahin, den Begriff auszusprechen, der zur Synthese der christlichen Liebe wird. Tatsächlich drückt der Terminus Barmherzigkeit gleichzeitig auch die Fähigkeit aus, zu vergeben, indem sie uns in eine intensivere Beziehung zu Gott und zum Nächsten treten läßt. Ohne die Vergebung hätten wir nie die wirkliche Garantie, zu lieben und uns geliebt zu wissen. Nur wer liebt kann nämlich zur Vergebung gelangen, und nur wer vergibt, zeigt damit seine Fähigkeit, zu lieben. Und doch ist auch das nicht genug. Die christliche Vergebung ist die aktive Wiederaufnahme abgebrochener Beziehungen, um ein Leben der Liebe wiederherzustellen. Wie wir wissen, ist die Sünde Bruch des Lebens der Gemeinschaft mit Gott und somit Austritt aus dem Leben der christlichen Gemeinschaft. Ausgedrückt wird das durch den Entschluß, sein Leben unter Ausschluß Gottes und der Gemeinschaft zu leben, der man angehört. Nicht umsonst ist die plastische Vorstellung des Sünders die eines Menschen, der dem Vater – und damit auch seinen Brüdern und Schwestern – den Rücken kehrt. Da er dem Antlitz Christi nicht mehr entgegensehen kann, reflektiert der Sünder allein sich selbst, sein eigenes Leben und die Widersprüchlichkeit, von der es gezeichnet ist.
Ein „Mehr“ an Liebe ist notwendig, um das Heimweh nach dem Haus des Vaters zu verstehen und um zu wissen, daß man fern von ihm nur in äußerster Armut leben kann. Sich von der Barmherzigkeit anrühren lassen, bedeutet jedoch, sich der eigenen Sünde bewußt zu sein, der Notwendigkeit der Vergebung und eines neuen, an Beziehungen reichen Lebens, durch das wir wieder in die Gemeinschaft der Glaubenden eingegliedert werden. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn wird uns vor Augen geführt, damit wir den Wert der Vergebung und das neue Gemeinschaftsleben verstehen, das diese bedeutet. Der Vater geht dem Sohn entgegen, der sein Familienvermögen durchgebracht hat. Er beschränkt sich nicht darauf, ihn einfach nur zu umarmen, um ihn spüren zu lassen, daß er geliebt wird. Nein, er tut viel mehr als das. Er küsst ihn, steckt ihm einen Ring an den Finger, läßt ihm eine Tunika anlegen und nimmt ihn mit vollem Recht wieder in seine Hausgemeinschaft auf. Die Gesten mögen in der Ökonomie des Gleichnisses zweitrangig erscheinen, aber sie sind es nicht. Sie zeigen die Wiedereingliederung in das Familienleben als wahren Sohn. Der Kuß des Vaters zeigt, daß nichts der Liebe zu seinem Sohn Abbruch tun konnte, und der Sohn ist vielleicht derart überwältigt von dem liebevollen Empfang, den ihm der Vater bereitet, daß er nicht einmal den Satz hervorbringt, den er sich zurecht gelegt hatte. Die Tunika, das „beste Gewand“ ist das Zeichen dafür, Ehrengast zu sein, also mit allem gebührenden Respekt behandelt zu werden. Der Ring dagegen steht für die volle Machtbefugnis, die er in seinem Haus hat; schließlich ist es ein Siegelring.
Johannes Paul II. bei der Fronleichnamsprozession.

Johannes Paul II. bei der Fronleichnamsprozession.

In der Enzyklika Dives in misericordia hat Johannes Paul II. dieses Bild mit Nachdruck wieder aufgegriffen, um den Weg aufzuzeigen, auf dem Gott einem jeden von uns unermüdlich entgegengeht. Dieses Dokument ist ein weiteres Fragment, das uns in die Gesamtheit seiner Lehre einführt und ein wichtiges Steinchen des Mosaiks erkennen läßt, das die Liebe Gottes zum Ausdruck bringt. Es fordert den Menschen dazu heraus, sich selbst wiederzufinden, nachdem er sich verloren hat, um Bande und Beziehungen wieder herzustellen, die zum einen die Gerechtigkeit zur Vollendung bringen und zum anderen diese überwinden, um mit der Vergebung den Gipfel der Liebe zu erreichen. Die Barmherzigkeit enthüllt uns nämlich das wahre Antlitz Gottes, aber sie verpflichtet den Menschen, ebenso zu leben, denn er weiß, daß er gerade danach beurteilt werden wird.
Das persönliche Zeugnis Johannes Pauls II. darf in einer Zeit wie der unsrigen, die so oft von Gesten des Hasses und einem Mangel an Vergebung geprägt zu sein scheint, nicht ungehört verhallen. Niemand von uns hat wohl die dramatischen Bilder jenes 13. Mai 1981 vergessen: der junge Türke, der die Pistole auf den Papst richtet, der gerade lächelnd die Menschenmenge begrüßt, die gekommen ist, um seiner Mittwochskatechese zu lauschen. Der Schuß war laut, ohrenbetäubend; abgegeben in der klaren Absicht, zu töten, und doch konnte er das Wort der Vergebung nicht übertönen, das Johannes Paul II. wieder ins Leben zurückbrachte. Im Kampf zwischen dem Haß des Todes und der Liebe des Lebens konnte letztere den Sieg davontragen: Triumph des christlichen Glaubens, der vergeben kann. Die ersten Worte des Papstes, als er wieder sprechen konnten, waren: „Von ganzem Herzen verzeihe ich.“ Worte, denen Taten folgten: der Besuch im [römischen] Gefängnis Regina Coeli, Johannes Paul II., der Ali Agca umarmt, sind die deutlichsten Zeichen dafür, wie wahr und konkret die Barmherzigkeit war. Es ist kein Zufall, wenn die Enzyklika gerade auf diese Ereignisse hin geschrieben wurde; sie bleibt das konsequenteste Zeugnis dafür, wie Johannes Paul II. diesen Moment erlebt hat.
Es ist paradox, daß der Papst in Redemptor hominis von einem „Recht“ auf Vergebung sprechen wollte, das der Gläubige Gott gegenüber besitzt: „Es ist das Recht zu einer mehr persönlichen Begegnung des Menschen mit dem gekreuzigten Christus, der verzeiht, mit Christus, der durch den Spender des Sakramentes der Versöhnung sagt: ‚Deine Sünden sind dir vergeben‘; ‚Geh und sündige von jetzt an nicht mehr‘. Offenkundig ist es gleichzeitig auch das Recht Christi selbst hinsichtlich eines jeden Menschen, der von ihm erlöst worden ist. Es ist das Recht, jedem von uns in jenem entscheidenden Augenblick des Lebens der Seele, nämlich dem der Bekehrung und des Verzeihens, zu begegnen“ (Rh, n. 20). Und doch: das Recht des Gläubigen widerspricht nicht der Unentgeltlichkeit des Opfers, und das Recht Christi ist keine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Im Gegenteil: Gerade, weil die Vergebung im Licht der Liebe erfolgt, wird sie zum wahren Zeichen des neuen Lebens, das uns angeboten ist und für das wir die Verantwortung tragen. Gerade, weil er sich selbst aus Liebe hingab, hat Christus das „Recht“, nicht aus unserem Leben ausgeschlossen zu werden. In der Liebe wachsen also, um vollkommen zu verstehen, was Vergebung bedeuten kann und das Leben der Gemeinschaft, das in der Communio besteht.


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