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POPULORUM PROGRESSIO
Aus Nr. 01 - 2007

Vierzig Jahre Enzyklika Populorum progressio

Gebt den Armen, was ihnen zusteht


Interview mit Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa in Honduras. Die Aktualität der Enzyklika von Paul VI., der die Welt nicht nach Ost und West unterschied, sondern nach Völkern, die im Überfluß leben und Völkern, die Hunger leiden.


Interview mit Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga von Gianni Cardinale


Eine brasilianische Bauersfrau im Staate Pernambuco.

Eine brasilianische Bauersfrau im Staate Pernambuco.

„Und gern füge ich hinzu, daß der Diener Gottes Paul VI. gleich nach dem Konzil, also vor vierzig Jahren, genau am 26. März 1967, seine Enzyklika Populorum progressio der Entwicklung der Völker gewidmet hat.“ Das sagte Benedikt XVI. bei seiner Homilie zum Hochfest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar, und rief so der ganzen Kirche den Jahrestag eines der wichtigsten Dokumente von Papst Montini ins Gedächtnis. Darüber und über die Aktualität von Populorum progressio unterhielt sich 30Tage mit Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga. Der Erzbischof von Tegucigalpa ist auch Mitglied jenes Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, den Paul VI. am Anfang seiner Enzyklika als jene „Päpstliche Kommission“ bezeichnete, die „dem Interesse des Apostolischen Stuhles an der großen und gerechten Sache der Entwicklungsländer Ausdruck geben soll.“ Unsere Begegnung mit dem Kardinal fand in Italien statt, wo er an einer Vollversammlung der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika teilnahm und an der Universität Urbino die laurea honoris causa empfing.
„Es freut mich sehr, daß der Papst den 40. Jahrestag der Enzyklika Populorum progressio als eines der bedeutungsvollsten Ereignisse des Jahres 2007 bezeichnete,“ meint Kardinal Maradiaga, in der Vergangenheit auch Präsident des lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM).

Eminenz, welche Erinnerung haben Sie an die Veröffentlichung der Enzyklika von Papst Montini?
OSCAR ANDRÉS RODRÍGUEZ MARADIAGA: Ich war damals noch ein junger Theologiestudent. Zunächst einmal beeindruckte mich, daß die Unterzeichnung am 26. März erfolgte, der damals, 1967, auf das „Hochfest der Auferstehung des Herrn“ fiel. Ein keineswegs zufälliges Datum: immerhin hat sich die Kirche – so die Enzyklika –„treu der Weisung und dem Beispiel ihres göttlichen Stifters, der die Verkündigung der Frohbotschaft an die Armen als Zeichen für seine Sendung hingestellt hat (vgl. Lk 7, 22) immer bemüht, die Völker, denen sie den Glauben an Christus brachte, zur menschlichen Entfaltung zu führen.“ Populorum progressio wurde für die damaligen Priester und Seminaristen auch ein großer sozialer Ansporn. Es war die Zeit der großen postkonziliaren Umwälzungen. Damals wurde der sozialen Pastoral, ja, dem gesamten sozialen Engagement der Kirche, starker Auftrieb gegeben. Es war eine schöne Zeit für die lateinamerikanische Kirche. Von dem Optimismus, der die von Präsident Kennedy propagierte „Allianz für den Fortschritt“ prägte, war nicht viel übriggeblieben, Lateinamerika aber galt immer noch als Kontinent der Hoffnung.
Paul VI. unterzeichnet die Enzyklika Populorum progressio 
(26. März 1967,  Ostersonntag).

Paul VI. unterzeichnet die Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967, Ostersonntag).

Die Enzyklika gab Anlaß zu Hoffnungen, aber auch Kritik…
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Man warf ihr damals vor, eine Art „Marxismus-Verschnitt“ zu sein. Das gesamte soziale Engagement der Kirche wurde als „marxistisch“ abgestempelt. Auch das Schlußdokument der Generalkonferenz des CELAM 1968 in Medellín, die eindeutig von Populorum progressio geprägt war, galt als aufwieglerischer Text.
Wie konnte es zu solchen Kritiken kommen?
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Das Dokument von Papst Montini sprach in einer für die damalige Zeit klaren und mutigen Weise zum ersten Mal davon, daß wahrer Forschritt mit sozialer Gerechtigkeit einhergehen muß. Wenn sich die Kirche für die Armen stark macht, wird ihr oft vorgeworfen, Politik machen zu wollen, ihren Kompetenzbereich zu überschreiten. Was den Vorwurf des Marxismus angeht, kann man nur sagen, daß er nach wie vor lächerlich ist. Die Enzyklika griff den bekannten Ausspruch des hl. Ambrosius auf: „Es ist nicht dein Gut, mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.“ Und stellte dann fest: „Niemand ist befugt, seinen Überfluß ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo andern das Notwendigste fehlt.“ Das soll Marxismus sein? Ambrosius hat diese Dinge schon ein paar Jahrhunderte vor Marx geschrieben!
Und doch wurde in der Enzyklika behauptet, daß das Gemeinwohl in bestimmten Situationen „manchmal eine Enteignung von Grundbesitz verlangt“…
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Ein Konzept, das von der Konzilskonstitution Gaudium et spes wiederaufgegriffen wurde, also keineswegs etwas Revolutionäres war. Und was sollte auch revolutionär daran sein zu betonen, wie gefährlich es ist, den Profit als „eigentlichen Motor des wirtschaftlichen Fortschritts“ zu betrachten und den Wettbewerb als „oberstes Gesetz der Wirtschaft“ darzustellen? Paul VI. sprach diesbezüglich von „ungehemmtem Liberalismus.“ Auch da fällt es mir schwer zu glauben, daß schon vierzig Jahre vergangen sind, auch wenn man heute nicht mehr von „ungehemmtem Liberalismus“ spricht, sondern von Liberismus.
Ein Kapitel der Enzyklika war der Revolution gewidmet…
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Aber nur, um herauszustellen, daß diese nur im „Fall der eindeutigen und lang dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt“ legitim ist. Sonst – so die Enzyklika – „zeugt jede Revolution neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann das Übel, das existiert, nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben.“ Es stimmt, daß dieser Punkt der Enzyklika damals manchmal als eine Art „Revolutionstheologie“ ausgelegt wurde. Doch nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. So hat Paul VI. auch später vorausschicken wollen, daß „die Gewalt weder evangeliumsgemäß noch christlich ist.“
In der Enzyklika wird bekräftigt, daß „aufrichtiger Austausch zwischen den Kulturen wie den Menschen brüderliche Gesinnung schafft“. Eine Aussage, die wir heute vielleicht besser verstehen als vor vierzig Jahren. Ein Grund mehr, die Botschaft dieser Enzyklika zu verbreiten, sie auch jenen ans Herz zu legen, die manchmal unglücklicherweise auf einen „Kampf der Kulturen“ zu hoffen scheinen und damit etwas ins Rollen bringen, das die Menschheit wirklich nicht braucht!
Wie aktuell ist Populorum progressio?
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Die Zeiten haben sich geändert, den damaligen Gegensatz zwischen Marxismus und Kapitalismus gibt es nicht mehr. Heute haben wir die sogenannte Globalisierung der Märkte. Eine Globalisierung allerdings, die viel Ungerechtigkeit mit sich bringt, die Ausgrenzung derer bedeutet, die sich keinen Zugang zu dieser neuen Art von Markt verschaffen können. Fortschritt wird nur noch unter einem rein wirtschaftlichen Aspekt gesehen, der soziale Aspekt vollkommen beiseite gelassen. Was zählt, sind die Zahlen der Makro-Ökonomie, nicht aber der Mensch. Und das, obwohl doch gerade der Mensch – wie uns Populorum progressio so nachdrücklich erklärt – Hauptgegenstand der Entwicklung ist. Auch deshalb hat die Enzyklika nicht wirklich viel von ihrer Aktualität eingebüßt. Die Worte, die der Papst für die soziale Gerechtigkeit fand, darüber, was unter Entwicklung und Frieden zu verstehen ist, sind noch heute gültig.
„Entwicklung ist gleichbedeutend mit Frieden“ gilt also nach wie vor?
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Dieses prophetische Konzept wurde leider nicht befolgt. Vierzig Jahre sind vergangen: wenn es keine Entwicklung gibt, wenn die Völker nicht die Möglichkeit haben, auch in den Genuß des materiellen Wohlbefindens zu kommen, wird der Frieden in immer weitere Ferne rücken. Und damit meine ich nicht nur den Frieden unter den Staaten, den Völkern, sondern auch den Frieden innerhalb der Landesgrenzen, der einzelnen Gemeinschaften. Ich denke dabei nicht nur an Lateinamerika. Wenn den jungen Menschen bei uns nicht die Möglichkeit gegeben wird, einer ehrlichen Arbeit nachzugehen, bleibt ihnen nichts anderes als Auswanderung oder Drogenhandel.
Zum Phänomen der Emigration erinnert die Enzyklika daran, daß wir „auch den Gastarbeitern Gastfreundschaft schuldig sind, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und mit ihrem Geld äußerst sparsam umgehen müssen, um ihre Familie zu unterhalten, die in der Heimat zurückgeblieben ist und Not leidet“…
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Diese Mahnung hat extreme Aktualität. Als Hirte der lateinamerikanischen Kirche hoffe ich, daß diese Worte auch von unseren reicheren Brüdern und Schwestern des Nordens gehört werden. Und ich meine damit nicht die Kirche Amerikas, die immer auf unserer Seite war. Ich meine die politischen Verantwortlichen, Präsident Bush und den Kongress, die keine Einwanderer-feindlichen Gesetze machen sollten. Damit machen sie sich bei unseren Völkern nur unbeliebt. Die Vereinigten Staaten sind eine große Nation, aber sie müssen mehr tun, um die Entwicklung in Lateinamerika voranzutreiben. Sonst wird diese Leere mangelnder politischer Initiative von anderen aufstrebenden Mächten, beispielsweise China, ausgefüllt, oder von so umstrittenen wie dem Iran. Und dann muß man sich wirklich nicht über das beklagen, was passieren wird.
Sie haben vorhin den Einfluß erwähnt, den Populorum progressio 1968 auf die zweite Generalkonferenz des CELAM im kolumbianischen Medellín hatte…
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Ja, sie wurde ständig zitiert und schon unmittelbar nach der Versammlung widmete sich die Kirche mit unübersehbarem Engagement dem Thema der Armen.
Paul VI. mit kolumbianischen campesinos (Bogotá, 23. August 1968).

Paul VI. mit kolumbianischen campesinos (Bogotá, 23. August 1968).

Die fünfte Generalversammlung des CELAM findet im Mai im brasilianischen Aparecida statt. Wird man dort an Populorum progressio erinnern?
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Das will ich doch hoffen! Schon allein deshalb, weil wir das Klima von 1968 längst hinter uns gelassen haben und keine Gefahr besteht, daß es zu Instrumentalisierungen kommt, was damals fast unvermeidlich war.
Obwohl die Politik in Lateinamerika einen „linken“, manchmal populistisch eingefärbten Kurs einzuschlagen scheint....
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Die ein oder andere populistische Tendenz ist zweifelsohne vorhanden. Und das wirft Probleme demokratischer Ordnung auf. Aber die Frage, die sich die Reichen, die reichen Länder und auch die Finanzorganisationen stellen müssen, ist folgende: was hat man getan, um diese Wahlergebnisse zu verhindern, die nun so sehr kritisiert werden? Schon Populorum progressio gemahnt uns daran, daß „der Überfluß der reichen Länder den ärmeren zugute kommen muß […]. Die Reichen haben davon den ersten Vorteil. Tun sie es nicht, so wird ihr hartnäckiger Geiz das Gericht Gottes und den Zorn der Armen erregen, und unabsehbar werden die Folgen sein.“ Mögen das die Mächtigen dieser Welt nun glauben oder auch nicht. Aber wenn sie sich schon nichts um das Urteil Gottes scheren, sollten sie zumindest den Zorn der Armen fürchten, der sich auch in bestimmten unvorhersehbaren Wahlergebnissen zeigen kann. Aber das tun sie offensichtlich nicht.
Eminenz, erlauben Sie mir eine letzte Frage. In der Enzyklika wird bekräftigt, daß „aufrichtiger Austausch zwischen den Kulturen wie den Menschen brüderliche Gesinnung schafft“…
RODRÍGUEZ MARADIAGA: Auch das ist doch eine wahrhaft prophetische Aussage! Die wir heute vielleicht besser verstehen als vor vierzig Jahren. Ein Grund mehr, die Botschaft dieser Enzyklika zu verbreiten, sie auch jenen ans Herz zu legen, die manchmal unglücklicherweise auf einen „Kampf der Kulturen“ zu hoffen scheinen und damit etwas ins Rollen bringen, das die Menschheit wirklich nicht braucht!





Der Salesianer-Kardinal aus Honduras
Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga bei einer Begegnung mit den Jugendlichen von Tegucigalpa.

Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga bei einer Begegnung mit den Jugendlichen von Tegucigalpa.


Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga konnte Ende Dezember seinen 64. Geburtstag feiern. Seit 1978 ist der Salesianer Bischof, 1993 wurde er Erzbischof von Tegucigalpa. Beim Konsistorium vom 21. Februar 2001 verlieh ihm Johannes Paul II. das Kardinalsbirett. Zwanzig Jahre lang war er auch im lateinamerikanischen Bischofsrat (CELAM) tätig; von 1995 bis 1999 als dessen Präsident. 2003 wurde er Vorsitzender der Abteilung Gerechtigkeit und Solidarität des CELAM. In der Römischen Kurie ist er Mitglied der Kongregation für den Klerus, des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, des Rates für die sozialen Kommunikationsmittel und der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika.


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