Startseite > Archiv > 06/07 - 2007 > Momente meiner Jugendzeit
EDITORIAL
Aus Nr. 06/07 - 2007

Momente meiner Jugendzeit


Pius XI. aber laut protestieren zu hören, ja ihn sogar weinen zu sehen, regte mich derart auf, dass ich prompt ohnmächtig wurde. Noch heute kann ich mich an die Fensternische erinnern, wo ich bis zum Ende der Audienz blieb, als uns der Monsignore wieder in seine geräumige Limousine mit Vatikankennzeichen [S.C.V.] lud – seine „Kutsche“, wie er es nannte. Er gemahnte uns, viel zu beten, damit die Bösen endlich aufhören würden, sich gegen den Papst zu stellen, „der viel zu gut zu ihnen gewesen war...“


Giulio Andreotti


Piazza Capranica mit der Kirche Santa Maria in Aquiro  auf einem Foto aus dem 19. Jh.

Piazza Capranica mit der Kirche Santa Maria in Aquiro auf einem Foto aus dem 19. Jh.

Zu meiner Jugendzeit gab es einen Spruch, der uns Römern unweigerlich über die Lippen kam, wenn uns etwas Negatives widerfuhr: „Oh mein Jesus, was geht da vor?“. In die Jesus-Kirche dagegen brachte mich meine alte Tante, bei der wir wohnten, um dort den Predigten eines wirklich brillanten Predigers zu lauschen, der viele Gläubige anzog. Es wäre mir zwar sicher nie gelungen, diese Predigten zusammenfassen, aber der gewandt modulierte Ton, die starke Miteinbeziehung der Zuhörer, weckten auch bei mir ein alles andere als flüchtiges Interesse. Ich kann mich noch gut erinnern, wie nah mir gewisse Themen gingen: die Freundschaft Jesu mit dem von den Toten auferweckten Lazarus; die wundersame Brotvermehrung; die Pächter, die die Steuereintreiber und den Sohn des Besitzers umbrachten, um sich das Land anzueignen.
Verglichen mit dieser Rednergabe (die ich später mit der von Ermete Zacconi oder Ruggero Ruggeri verglich) waren das, was ich Sonntags von meinen Pfarrer in der Kirche der Somaschi auf der Piazza Capranica hörte, die kläglichen Versuche eines Taubstummen. Anstatt das Evangelium des Tages zu kommentieren – wie man das viele Jahre später zu tun pflegte – sprach er über das Jesuskind; über die Wunder; über Jesus, der gerührt ist und weint. Aber diese Dinge verstand ich zumindest, ohne mir – wie dagegen bei Pater Venturini der Fall – fast alles auf dem Nachhauseweg erklären lassen zu müssen.
In der Kirche Santa Maria in Aquiro hatten wir feiertags am frühen Nachmittag immer Katechismusunterricht bei den Seminaristen vom nahe gelegenen Collegio Capranica. Diese Seminaristen waren überaus angesehen: immerhin hatte das Kolleg bereits namhafte Kirchenmänner hervorgebracht.
Mons. Carlo Respighi, Präfekt der Päpstlichen Zeremonien, war einer davon, Er wurde Ubique genannt – überall – und später verstand ich auch, warum. Er war nämlich wirklich überall: sein Arbeitseifer war schier unermüdlich! Abgesehen davon, dass er dem Papst befehlen konnte, wann er aufstehen oder sich hinsetzen sollte, war er auch Magister des Collegium Cultorum Martyrum. Als solcher leitete er die „Fastenstationen“, die am Aschermittwoch in Santa Sabina begannen und bis nach San Pancrazio gingen – am Sonntag nach Ostern (der heutige Sonntag des „barmherzigen Jesus“ wurde damals in Albis genannt). Don Carlo ließ fünf oder sechs von uns nicht nur an diesen fast zwei Monaten im Jahr teilnehmen, sondern nahm uns auch zu anderen Gelegenheiten mit – beispielsweise zu den Papstmessen in St. Peter und anderen Anlässen im Apostolischen Palast.
So kehrte ich also mit voller Legitimität dorthin zurück, wo wir 1927 „hinausgeworfen“ worden waren, als wir die Stirn besessen hatten, uns in eine belgische Pilgergruppe einzuschleichen. Pius XI. bezeichnete uns – wenn auch wohlwollend – als Schwarzfahrer.
Ich habe 10 Jahre oder noch länger gebraucht, das alles zu verstehen. Das Jahr 1929 blieb mir nur deshalb im Gedächtnis, weil ich miterleben durfte, wie das Bronzene Tor geöffnet wurde, das seit September 1870 (dem Tag der Ankunft der Piedmonteser, wie Tante Mariannina zu sagen pflegte) halb geschlossen geblieben war.
Vier Jahre später, gegen Ende Mai 1931, war ich mit der kleinen Gruppe um Respighi in der Konsistoriumsaula bei einer Audienz für Gläubige dabei, die ihre Solidarität mit der Katholischen Aktion zum Ausdruck bringen wollten, in deren Gruppen sich Faschisten breitgemacht hatten.
Ich hatte damals absolut keine Ahnung, was vor sich ging. Pius XI. aber laut protestieren zu hören, ja ihn sogar weinen zu sehen, regte mich derart auf, dass ich prompt ohnmächtig wurde. Noch heute kann ich mich an die Fensternische erinnern, wo ich bis zum Ende der Audienz blieb, als uns der Monsignore wieder in seine geräumige Limousine mit Vatikankennzeichen [S.C.V.] lud – seine „Kutsche“, wie er es nannte. Er gemahnte uns, viel zu beten, damit die Bösen endlich aufhören würden, sich gegen den Papst zu stellen, „der viel zu gut zu ihnen gewesen war.“ Ich habe 10 Jahre oder noch länger gebraucht, das alles zu verstehen. Das Jahr 1929 blieb mir nur deshalb im Gedächtnis, weil ich miterleben durfte, wie das Bronzene Tor geöffnet wurde, das seit September 1870 (dem Tag der Ankunft der Piedmonteser, wie Tante Mariannina zu sagen pflegte) halb geschlossen geblieben war.
Der laut dem so genannten Modell von Pius X. gelehrte Katechismus stellte uns Jesus als die zweite Person der heiligsten Dreifaltigkeit dar; und das waren keine leicht verdaulichen Konzepte. Angezogen fühlte man sich jedoch vom Jesuskind, und das nicht nur, weil wir sowohl zu Hause als auch in der Schule (meine war eine staatliche) für Weihnachten ein kleines Gedicht lernten, das wir in der Kirche Ara Coeli auf dem Kapitol aufsagen durften. Um die Wahrheit zu sagen: auch ich habe mich die ersten zwei Jahre zum Aufsagen angestellt; an den Stufen angekommen, hat mich dann aber doch jedes Mal der Mut verlassen. Geschafft habe ich es 1929 – und das war mein erster Auftritt auf einer Kanzel. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mich dann noch ein- oder zweimal dazu aufraffen können.
Die vom Konkordat vorgesehene Religionsstunde gab dem Katechismusunterricht eine formale Gestalt, obwohl er eigentlich schon vorher in den Grundschulen weitgehend eingeführt worden war. 1937, auf der Universität, erhielt ich von der katholischen Studentenvereinigung FUCI einen systematischen Unterricht. Und zwar sowohl in den Bibelgruppen – mit so gebildeten Biblisten wie Don Primo Vannutelli – , als auch in der Vinzenz-Konferenz, die uns in das Vorort-Viertel Pietralata führte, wo wir versuchten, den Kindern ein wenig Unterricht zu geben. Hier lernte ich, dass Christus Nächstenliebe, Liebe ist. Konkret hatten wir nicht viel mehr anzubieten als ein paar Nachhilfestunden. Aber wir haben sehr viel zurückbekommen. Ich betrachte diese Zeit jedenfalls als einen entscheidenden Moment in meinem Leben.
Ein weiterer Moment, der mein Leben prägte, war meine Zugehörigkeit zur Missionarischen Studentenliga, jener Organisation, die die Jesuiten ins Leben gerufen hatten, um die Aktivität der Kirche in weit entfernten Ländern voranzutreiben. Ich muss sagen, dass ich dort meine geopolitische Kenntnis der Welt weitaus mehr vertiefen konnte als in der Schule. Wir mussten auch kurze Aufsätze schreiben, und so konnte ich Jahre später auch weitaus besser als viele Politiker-Kollegen verstehen, was z. B. in Indochina vor sich ging: das Thema hatte mir nämlich einmal die Liga zugeteilt.
Nirgends kann man sich so sehr Jesus, der die Liebe ist, annähern, wie dann, wenn man sich mit den Missionen beschäftigt, aber die bleibende Wirkung geht über die jeweilige spezifische missionarische „Ecke“ weit hinaus.
Die Kirche Santa Maria in Ara Coeli, wo die Statue des Jesuskindes verehrt wurde.

Die Kirche Santa Maria in Ara Coeli, wo die Statue des Jesuskindes verehrt wurde.

Ich muss zugeben, dass mich eine Passage des Evangeliums des Öfteren verwirrt hat. Jene nämlich, wo Jesus einem jungen Mann, der nicht weiß, welchen Weg er einschlagen soll, um ihm nachzufolgen, einen solchen aufzeigt. Dieser erschreckt ihn aber und läßt ihn die Flucht ergreifen.
Vielleicht inspirierten sich die Priester, mit denen ich zu tun hatte, an weniger strengen Modellen und haben nie etwas von mir verlangt, wozu ich nicht in der Lage gewesen wäre.
Außer der FUCI habe ich auch der Marianischen Kongregation Sant’Andrea am Quirinal viel zu verdanken, der ich zu meiner Gymnasialzeit angehörte. Sie wurde von einem Monsignore des Staatssekretariats geleitet (Antonio Colonna), dessen Unterrichtsmethode ich in der Folge besser verstand.
Man kam über die Verehrung der Muttergottes zu Jesus, ja, der Heiligen Familie; auch, indem man Josef die Rolle gab, die ihm zustand. Ich fand es nur komisch, dass mehr von Jesus, Josef und Maria gesprochen wurde, „als vom hl. Antonius“.
Aber auch Mons. Colonna hatte als Leitgedanken Jesus, der die Liebe ist (Deus caritas est).
Während meiner politischen Laufbahn fand ich später die Bestätigung für die Zentralität dieser Liebe in zwei Richtungen: in der Ablehnung jeglicher Diskriminierung und der Verpflichtung, die Entwicklung der ärmeren Länder voranzutreiben.
Je mehr Lenze ich auf dem Buckel habe – ohnehin schon weit mehr als erwartet – umso weniger vergesse ich, abends folgendes Gebet zu beten, das mich meine Tante gelehrt hat: „Jesus, Josef und Maria, mit euch möge meine Seele in Frieden scheiden.“


Italiano Español English Français Português