THERESE VOM KINDE JESUS
Aus Nr. 08 - 2007

Der kleine Weg


Vor zehn Jahren wurde die hl. Therese vom Kinde Jesus und vom Heiligen Antlitz von Papst Johannes Paul II. zur Kirchenlehrerin erklärt.


Conseils et souvenirs von Céline Martin, einer der Schwestern der kleinen Therese


Am Sonntag, dem 19. Oktober 1997, erklärte Papst Johannes Paul II. die hl. Therese von Lisieux – wie bereits am 27. August beim 12. Weltjugendtag in Paris angekündigt –zur Lehrerin der universalen Kirche. Ein Titel, mit dem das kirchliche Lehramt, wie der Papst bei dieser Gelegenheit erklärte, „alle Gläubigen, und in besonderer Weise jene, die in der Kirche den fundamentalen Dienst der Predigt ausüben oder die schwierige Aufgabe der theologischen Forschung und Unterweisung erfüllen, darauf aufmerksam machen will, dass die einer bestimmten Person bekannte und von ihr verkündete Lehre ein Bezugspunkt sein kann, nicht nur, weil sie mit der offenbarten Wahrheit übereinstimmt, sondern auch, weil sie ein neues Licht über die Glaubenswahrheiten, ein tieferes Verständnis des Geheimnisses Christi bringt.“
Der Papst stellte auch heraus, dass „Therese vom Kinde Jesus und vom Heiligen Antlitz die jüngste unter den [33] Kirchenlehrern ist.“ Und die dritte Frau. Zuvor hatte Paul VI. 1970 diesen Titel bereits der hl. Therese von Avila (geb. in Avila am 28. März 1515; gestorben in Alba de Tormes am 4. Oktober 1582) und der hl. Katherina von Siena verliehen (geboren in Siena am 25. März 1347; gestorben in Rom am 29. April 1380).
In den 27 Jahren seines Pontifikats hat Johannes Paul II. nur Therese von Lisieux (geboren in Alençon am 2. Januar 1873, gestorben zu Lisieux am 30. September 1897 im Alter von nur 24 Jahren) zur Kirchenlehrerin erklärt.
Zehn Jahre nach diesem lehramtlichen Akt Johannes Pauls II. veröffentlichen wir hier ein Kapitel der Erinnerungen Céline Martins (1869-1959), einer der vier Schwestern der hl. Therese. Céline, die 1894 in den Karmel von Lisieux eintrat und den Namen Geneviève vom Heiligen Antlitz annahm, stellte diese Aufzeichnungen (die zum Teil noch zu Lebzeiten Thereses geschrieben wurden) wie auch die Aussagen für den Heiligsprechungsprozess 1951 persönlich zusammen. Das hier veröffentlichte Kapitel trägt den Titel „Geist der Kindschaft“ und ist dem Buch Die kleine Therese von Lisieux: Aufzeichnungen und Erinnerungen ihrer Schwester/Céline Martin entnommen (1985 Verlag Neue Stadt, München, SS. 29-38; Fußnotensetzung: 30Tage).


Therese vom Kinde Jesus.

Therese vom Kinde Jesus.

Als mich während des Seligsprechungsprozesses der kirchliche Beauftragte fragte, warum ich die Seligsprechung Schwester Thereses wünschte, antwortete ich ihm: „Nur, damit ihr ‚kleiner Weg‘ bekannt wird. So nannte sie ihre Spiritualität, ihre Art, Gott entgegen zu gehen.
Er entgegnete: „Wenn Sie von einem ‚Weg‘ sprechen, wird der Prozess unvermeidlich eingestellt, wie es schon in ähnlichen Fällen geschehen ist.“
„Das tut mir leid,“ antwortete ich. „Die Furcht, der Prozess von Schwester Therese werde fallen gelassen, kann mich aber auch nicht daran hindern, den Punkt, der für mich von Interesse ist, zu betonen: dass der ‚kleine Weg‘ kirchlicherseits Anerkennung findet.“
Ich hielt daran fest, und der Prozess fiel nicht ins Wasser. Aus diesem Grund habe ich mich auch über die Ansprache Papst Benedikts XV., der die „geistige Kindschaft“ besonderes hervorhob, mehr gefreut als bei der Selig- und Heiligsprechung von Schwester Therese. An jenem Tag, am 14. August 1921, war mein Ziel erreicht.
Überdies wurde in das Summarium auch folgende Antwort aufgenommen, die ich auf die Frage nach den „übernatürlichen Gaben“ der Schwester gab:
„Sie waren sehr selten im Leben der Dienerin Gottes. Was mich betrifft, würde ich vorziehen, dass sie nicht selig gesprochen würde, als dass ich ihr Lebensbild nicht so zeichnete, wie ich es nach bestem Gewissen in Erinnerung habe… Ihr Leben musste einfach sein, um als Modell für die ‚kleinen Seelen‘ zu dienen“1.
Es ist wahr, dass unsere liebe Novizenmeisterin uns bei jeder Gelegenheit ihren ‚kleinen Weg‘ zeigte.
„Um ihn zu gehen,“ erklärte sie, „muss man demütig sein, arm im Geiste und einfach.“
Sie hätte sicher dieses Gebet von Bossuet2 sehr geschätzt, hätte sie es gekannt: „Großer Gott!... Lass nicht zu, dass gewisse Köpfe, von denen sich die einen zu den gelehrten, die anderen zu den geistlichen zählen, jemals bei deinem Gericht angeklagt werden, sie hätten in irgendeiner Weise dazu beigetragen, dir den Eintritt in – ich weiß nicht wie viele – Herzen zu versperren, weil du dort eintreten wolltest in einer Weise, deren Einfachheit allein sie schockierte; durch eine Tür, die seit den ersten Jahrhunderten den Heiligen offen steht, ihnen aber vielleicht noch nicht genügend bekannt war. Mach lieber, dass wir, indem wir alle so klein wie Kinder werden, wie Jesus Christus es uns geboten hat, eines Tages durch diese Türe eintreten können, um sie dann den anderen mit größerer Sicherheit und Wirksamkeit zeigen zu können. Amen.“
Es ist nicht erstaunlich, dass dieser große Mann in seiner letzten Stunde diese bewegenden Worte ausgesprochen hat: „Wenn ich mein Leben von vorn beginnen könnte, wollte ich nur ein kleines Kind sein, das unaufhörlich seine Hand dem Jesuskind gibt.“
Therese wusste in dem Licht, das den Kleinen zuteil wird, diese Tür des Heils wunderbar zu entdecken und sie den anderen zu zeigen. Haben nicht die göttliche Weisheit und die menschliche Klugheit in diesem Geist der Kindschaft „die wahre Größe der Seele“ erkannt?
Berühmte chinesische Philosophen haben das in treffenden Definitionen beschrieben:
„Reife Tugend endet im Zustand der Kindheit“ (Lao-tse, 7. Jh. v. Chr.).
„Ein großer Mensch ist der, der sein kindliches Herz nicht verloren hat“ (Meng-tse, 4. Jh. v. Chr.)3.
Und weiter: „Die starke Tugend kennen, heißt immer auf dem Weg des Guten vorangehen und zur Kindheit zurückkehren“ (Lao-tse im „Tao-te-ching)4.
Die 8-jährige Therese mit ihrer Schwester Céline auf einem Foto von 1881.

Die 8-jährige Therese mit ihrer Schwester Céline auf einem Foto von 1881.

Für die heilige Therese bestand, wie ich schon gesagt habe, dieser ‚kleine Weg‘ praktisch in der Demut. Bei ihr zeigte sich der Geist der Kindschaft sehr ausgeprägt. So liebte sie es, folgende Worte des Evangeliums immer wieder zu erwähnen: „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich… Ihre Engel sehen ständig das Antlitz meines himmlischen Vaters.... Wer sich klein macht wie ein Kind, wird der Größte sein im Himmelreich... Jesus umarmte die Kinder, nachdem er sie gesegnet hatte“5.
Sie hatte diese Worte auf die Rückseite einer Karte geschrieben, auf die sie die Photographien unserer vier kleinen Brüder und Schwestern geklebt hatte, die schon im frühen Kindesalter gestorben waren. Sie schenkte sie mir und behielt eine andere Photographie in ihrem Brevier. Jetzt sind diese Bilder schon alt und deswegen teilweise verblichen.
Neben diesen Stellen aus dem Evangelium hatte Schwester Therese noch andere Worte aus der Heiligen Schrift herausgesucht, über die sie sich freute und die alle über den Geist der Kindschaft handeln: „Selig, die Gott für gerecht hält ohne Werke, denn dem, der sie vollbringt, wird der Lohn nicht aus Gnade, sondern nach seinen Verdiensten berechnet. Wer dagegen keine Werke vollbringt, wohl aber an den glaubt, der den Sünder rechtfertigt, wird durch seinen Glauben gerechtfertigt werden kraft der Erlösung, die Christus erwirkt hat“.
„Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand. Die Lämmer trägt er auf den Armen, die Mutterschafe führt er behutsam“6.
Auf die Rückseite eines anderen großen Bildes hatte sie weitere Bibelzitate aufgeschrieben, wobei einige die vorhergehenden wiederholen. Aber es ist interessant, inwieweit sie ihren Weg erleuchteten.
Ganz besonders liebte sie einen Stich, auf dem ein kleines Kind abgebildet war, das auf den Knien unseres Herrn sitzt und sich bemüht, sein Gesicht zu erreichen, um es zu küssen. Ich zeigte ihr ein Sterbebildchen mit der Photographie eines Kindes, das schon in frühestem Alter gestorben war. Sie legte den Finger auf das Gesicht des Kindes und sagte zärtlich und stolz: „Sie stehen alle unter meiner Herrschaft!“, als sähe sie schon ihren Titel als „Königin der ganz Kleinen“ voraus.
Schwester Therese von Kinde Jesus war groß, sie maß 1,62 Meter, während Mutter Agnes von Jesus bedeutend kleiner war. Eines Tages fragte ich sie: „Hätte man dich wählen lassen, was wäre dir lieber gewesen: groß zu sein oder klein?“
Sie antwortete ohne Zögern: „Ich hätte das Kleinsein gewählt, um in allem klein zu sein.“
Die Kirche hat in Therese vom Kinde Jesus immer die Heilige der geistigen Kindschaft gesehen. Die Päpste legen dafür immer wieder Zeugnis ab. Ich beschränke mich auf das Wort des späteren Papstes Pius XII., das er als Abgesandter Papst Pius’ XI. bei der Grundsteinlegung der Basilika von Lisieux am 11. Juli 1937 sprach: „Die heilige Therese vom Kinde Jesus hat eine Mission, sie hat eine Lehre. Aber ihre Lehre ist wie ihr ganzes Wesen: demütig und einfach. Sie lässt sich in zwei Wörtern zusammenfassen: ‚Geistige Kindschaft‘ oder in zwei anderen, gleichwertigen: ‚Kleiner Weg‘.“
Ein zweites Wort sprach er 17 Jahre später in seiner Botschaft zur feierlichen Einweihung der Basilika am 11. Juli 1954: „Es ist das Evangelium selbst, das Herz des Evangeliums, das sie wieder gefunden hat, aber mit wie viel Charme und Frische. ‚Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen‘ (vgl. Mt 18, 3)“7.

Schwester Therese vom Kinde Jesus (zweite Reihe, rechts) und Schwester Geneviève vom Heiligen Antlitz 
(unterste Reihe, links) auf einem Gruppenfoto vom 15. April 1895, Ostermontag.

Schwester Therese vom Kinde Jesus (zweite Reihe, rechts) und Schwester Geneviève vom Heiligen Antlitz (unterste Reihe, links) auf einem Gruppenfoto vom 15. April 1895, Ostermontag.

Verehrung des Geheimnisses der Menschwerdung und der Krippe
Mit größter Frömmigkeit feierte sie jedes Jahr den 25. März, denn, wie sie sagte, „das ist der Tag, an dem Jesus im Schoße Mariens am allerkleinsten war.“
Ganz besonders aber liebte sie die Krippe. Hier spricht das Jesuskind über all seine Geheimnisse der Einfachheit und der Hingabe.
Im Gegensatz zu dem Ketzer Marcion, der mit Verachtung sagte: „Schafft mir die Windeln und die Krippe weg, sie sind eines Gottes unwürdig!“, war Therese fasziniert von der Erniedrigung des Herrn, der aus Liebe zu uns ganz klein geworden ist. Sie schrieb mit Freude auf die Weihnachtsbilder, die sie malte, einen Text des heiligen Bernhard: „Jesus, was hat dich so klein gemacht? Die Liebe!“.
Der Name Therese vom Kinde Jesus, den sie trug, seit sie im Alter von neun Jahren den Wunsch geäußert hatte, Karmelitin zu werden, bedeutete für sie stets eine Wirklichkeit, und sie strengte sich an, ständig diesem Namen entsprechend zu leben. Später schrieb sie unter ein Bild des Jesuskindes dieses Gebet: „O kleines Kind, mein einziger Schatz, ich gebe mich deinen göttlichen Einfällen hin; ich will keine andere Freude, als dich zum Lächeln zu bringen. Schenke mir deine Gnaden und deine kindlichen Tugenden, damit die Engel und die Heiligen bei meiner Geburt im Himmel in deiner kleinen Braut Therese vom Kinde Jesus erkennen.“
Nicht nur Therese vom Kinde Jesus wünschte sich diese kindlichen Tugenden; auch der heilige Hieronymus hatte sie schon bewundert, und doch hält ihn niemand für kindisch.

Diebe des Himmels
Meine Beschützer und meine Lieblinge sind die, die den Himmel gestohlen haben wie die Unschuldigen Kinder und der gute Schächer.
„Die großen Heiligen haben ihn durch ihre Werke gewonnen. Ich will es wie die Diebe machen, ich möchte durch List hineingelangen, durch eine List der Liebe, die mir den Eingang öffnet, mir und den armen Sündern. Der Heilige Geist ermutigt mich, da er sagt, dass die Unerfahrenen Klugheit erhalten, die Jugend Kenntnis und Umsicht erlangen wird“8.

Die Wohnung der kleinen Kinder
Ich sprach mit ihr über die Abtötungen der Heiligen, und sie antwortete mir: „Der Herr hat gut daran getan, uns zu sagen, dass es im Hause seines Vaters viele Wohnungen gibt“9. Wäre es nicht so, hätte er es uns gesagt…
„Wenn alle, die zur Vollkommenheit des Himmels gerufen sind, solche Kasteiungen üben müssten, um in den Himmel zu kommen, hätte er es uns gesagt, und wir würden sie uns hochherzig auferlegen. Aber er kündigt uns an, dass in seinem Hause viele Wohnungen seien. Wenn es die der großen Seelen gibt, die der Wüstenväter, der Märtyrer der Buße, muss es dort auch die Wohnung der kleinen Kinder geben.“
„Und dort ist ein Platz für uns reserviert, wenn wir ihn sehr lieben, ihn, unseren himmlischen Vater und den Geist der Liebe.“
Schwester Therese war eine einfache Seele, die sich durch gewöhnliche Mittel geheiligt hat. So versteht man, dass außergewöhnliche Gaben in ihrem Leben dem entgegen gesetzt gewesen wären, was sie als die Pläne Gottes mit ihr bezeichnete. Ihr Leben sollte den kleinen Seelen als Vorbild dienen können.

Kleine Kinder werden nicht verdammt
„Was würdest du tun, wenn du dein Leben im Kloster noch einmal beginnen könntest?“.
„Ich glaube,“ erwiderte sie, „ich würde dasselbe tun wie jetzt.“
„Dann hast du nicht das Gefühl, aus dem heraus jener Einsiedler sagte: ‚Selbst wenn ich lange Jahre mit Büßen verbracht hätte, solange mir noch eine Viertelstunde, nur ein Atemzug bliebe, hätte ich Angst, verdammt zu werden‘?“.
„Nein, ich kann diese Furcht nicht teilen, ich bin zu klein, um verdammt zu werden; die kleinen Kinder werden nicht verdammt.“

Ein von Therese gemaltes Gemälde, das sie Céline 1892 zum Geschenk machte.

Ein von Therese gemaltes Gemälde, das sie Céline 1892 zum Geschenk machte.

Unter dem Pferd durchschlüpfen
Ganz entmutigt kam ich einmal zu ihr, den Tränen nahe, und sagte ihr: „Diesmal ist es unmöglich, ich komme nicht darüber hinweg!“ „Das wundert mich nicht,“ antwortete sie. „Wir sind zu klein, um über Schwierigkeiten hinwegzukommen, wir müssen unter ihnen durchschlüpfen.“ Dann erinnerte sie mich an ein Kindheitserlebnis: Wir waren bei Nachbarn in Alençon; ein Pferd versperrte uns den Weg in den Garten. Während die Erwachsenen einen anderen Eingang suchten, fand unsere kleine Freundin10 nichts einfacher, als unter dem Tier durchzuschlüpfen. Sie tat es als erste und gab mir die Hand; ich folgte ihr und zog Therese mit. Ohne dass wir uns tief bücken mussten, kamen wir ans Ziel.
„Das ist der Vorteil, wenn man klein ist,“ schloß Therese. „Es gibt kein Hindernis für die Kleinen, sie rutschen überall durch. Die großen Seelen können über die Dinge hinweggehen, die Schwierigkeiten umgehen, durch Überlegung oder Tugend so weit kommen, dass sie sich darüber hinwegsetzen. Aber wir, die wir ganz klein sind, müssen uns hüten, so etwas zu versuchen. Schlüpfen wir darunter durch! Darunter durchschlüpfen, das heißt alles nicht zu nah zu betrachten und zu ergründen“11.

Gott weiß um die guten Absichten
Während ihrer Krankheit nahm sie die bittersten Arzneien und ertrug die schmerzhaftesten Behandlungen mit unerschütterlicher Geduld, obwohl sie wusste, dass es völlig vergeblich war. Sie klagte niemals über Erschöpfung, die sich als Folge der Behandlung einstellte. Mir vertraute sie an, sie habe all diese unnütze Pflege Gott angeboten, mit der Bitte, sie möge einem Missionar zugute kommen, der weder Zeit noch Mittel hätte, sich pflegen zu lassen...
Als ich darauf sagte, ich sei traurig, dass mir keine derartigen Ideen kämen, antwortete sie: „Jemand, der sich ganz Gott schenkt, muss auch nicht ausdrücklich diese Absicht haben. Das kleine Kind auf dem Schoß der Mutter ernährt sich sozusagen mechanisch, ohne die Nützlichkeit seines Tuns zu ahnen. Dabei lebt es und entwickelt sich, und doch hatte es nicht diese Absicht.“ „Ein Maler, der für seinen Meister arbeitet, muss nicht bei jedem Pinselstrich wiederholen: Das ist für Herrn Soundso, das ist für Herrn Soundso… Es genügt, dass er sich mit dem Willen ans Werk macht, für seinen Meister zu arbeiten.“
„Es ist gut, häufig seine Gedanken wieder zu sammeln und seine Absichten neu auszurichten, aber ohne inneren Zwang. Gott weiß um die guten Gedanken und die richtigen Absichten, die wir gerne haben möchten. Er ist ein Vater, und wir sind kleine Kinder.“

Jesus kann nicht darüber traurig sein, wie wir unser Leben einrichten
Ich sagte zu ihr: „Ich muss arbeiten, sonst ist Jesus traurig…“
„O nein, du wärest traurig. Er kann nicht traurig sein über die Art, wie wir unser Leben einrichten12. Aber welch ein Schmerz ist es für ihn, wenn wir ihm nicht soviel geben, wie wir geben können!“.

Heilig sein, ohne groß zu werden...
Da sie zutiefst demütig war, fühlte sich Schwester Therese vom Kinde Jesus unfähig, „den steilen Weg der Vollkommenheit“ zu erklimmen. Deshalb bemühte sie sich, immer kleiner zu werden, damit Gott sich voll und ganz um ihre Belange kümmere und sie in seinen Armen trage, wie man es in den Familien mit den ganz kleinen Kindern macht. Sie wollte heilig sein, ohne aber dabei groß zu werden; denn wie die kleinen Ungeschicklichkeiten der Kinder die Eltern nicht betrüben, so können auch die Unvollkommenheiten demütiger Menschen Gott nicht schwer beleidigen. Ihre Fehler zählen nicht schwer nach dem Wort der Heiligen Schrift: „Der Geringe erfährt Nachsicht und Erbarmen“13. Folglich hütete sie sich wohl vor dem Wunsch, sich vollkommen zu fühlen und von den anderen dafür gehalten zu werden, denn dadurch wäre sie groß geworden und Gott hätte sie den Weg allein gehen gelassen.
„Kinder arbeiten nicht, um sich eine Position zu erobern,“ sagte sie. „Wenn sie brav sind, dann sind sie es ihren Eltern zuliebe; ebenso muss man sich auch nicht mühen, um heilig zu werden, sondern um dem lieben Gott eine Freude zu machen.“

Die Mesnerinnen des Karmels von Lisieux auf einem Foto vom November 1896.

Die Mesnerinnen des Karmels von Lisieux auf einem Foto vom November 1896.

Wie man das Kruzifix küsst
Während ihrer Krankheit, als ich mir einmal etwas zuschulden kommen ließ, das ich sehr bereute, sagte sie: „Küsse das Kreuz, jetzt sofort!“ Ich küsste es auf die Füße. „Küsst ein Kind so seinen Vater? Schnell, schnell, man küsst das Gesicht!“ Ich küsste es. „Und jetzt lässt man sich (von ihm) küssen.“ Ich musste das Kreuz auf meine Wange drücken, dann sagte sie: „Jetzt ist es gut, alles ist vergessen.“

Der Anteil der kleinen Kinder
„Einst gab der Herr der Mutter der Zebedäussöhne zur Antwort: ‚Der Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linken wird denen zuteil, für die er von meinem Vater bestimmt ist‘“14.
„Ich stelle mir vor, dass diese Plätze, die den großen Heiligen, den Märtyrern verweigert werden, den kleinen Kindern vorbehalten werden. Hat nicht schon David das vorhergesagt und prophezeit, der kleine Benjamin werde vor den Scharen (der Heiligen) einher ziehen?“15.
Man fragte sie, unter welchem Namen wir sie im Himmel rufen sollten. „Nennt mich: ‚kleine Therese‘“, antwortete sie demütig.


Anmerkungen

1 Abs. 2341, S. 799.
2 Bossuet, am Ende seines Büchleins über die Manière courte et facile pour faire oraison.
3 Zitiert von Joseph Wu Ching-Hioung, ehemaliger Minister Chinas beim Hl. Stuhl, in dem Büchlein Dom Lou. Sa vie spirituelle; un grand témoignage, Desclée de Brouwer, Paris-Tournai 1949, S. 41.
4 Joseph Wu Ching-Hioung, La science de l’amour, S. 29.
5 Vgl.: Mt 19, 14; Mk 10, 14; Lk 18, 16; Mt 18, 10 und 4; Mk 10, 16.
6 Vgl.: Röm 4, 4-6; Jes 40, 11.
7 Botschaft vom 11. Juli 1954 bei der feierlichen Weihe der Basilika von Lisieux.
8 Spr 1, 4.
9 Joh 14, 2.
10 Gemeint ist die siebenjährige Therese Lehoux, gleichaltrig mit Céline.
11 Mit diesen Worten gab die Heilige den Novizinnen den Rat, nicht unnötig über mögliche Schwierigkeiten nachzugrübeln.
12 Mit der „Art, wie wir unser Leben einrichten“ meinte Schwester Therese vom Kinde Jesus den Geist der Kindschaft. Jesus kann nicht traurig sein über unfreiwillige Fehler, die der Schwäche und Zerbrechlichkeit demütiger, liebender Seelen zuzuschreiben sind, die sich ihm anvertrauen.
13 Weish 6, 6.
14 Mt 20, 23; Mk 10, 40.
15 Ps 67, 28.


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