Das große Europa
Giulio Andreotti
Während sich die Union anschickt, fast kontinentweite Ausmaße anzunehmen, verlangt man von den sechs Ländern, die 1957 den ersten Kern der Gemeinschaft bildeten, eine gemeinsame Rückbesinnung auf den Geist der Anfangsjahre. Sich über – bereits abgeschlossene oder befürchtete – deutsch-französische Sonderabkommen zu beklagen,
ist nicht nur irreführend, sondern könnte auch negative Folgen haben.
Ohne hier ein Loblied auf unsere Nation singen zu wollen, muß doch gesagt werden, daß wir stolz sein können auf die positiven Resultate, die der italienische Einsatz für Europa erbracht hat. Ich möchte hier zwei Aspekte betonen.Während sich die Union anschickt, fast kontinentweite Ausmaße anzunehmen, verlangt man von den sechs Ländern, die 1957 den ersten Kern der Gemeinschaft bildeten, eine gemeinsame Rückbesinnung auf den Geist der Anfangsjahre. Sich über – bereits abgeschlossene oder befürchtete – deutsch-französische Sonderabkommen zu beklagen, ist nicht nur irreführend, sondern könnte auch negative Folgen haben. Der Geist von Messina (an dieser Stelle sei an Gaetano Martino und seine Bemühungen erinnert) schloß jegliche Vorzugsachse aus und war auch nicht gegen andere Länder, angefangen bei Großbritannien, das damals keinerlei Disponibilität zeigte. Das Gegengift zu dem historischen Konflikt zwischen Paris und Berlin bestand in der Solidarität zwischen den beiden Staaten, unter Teilnahme sowohl Italiens als auch der drei Beneluxstaaten, mit der für sie typischen Rolle als Verbindungsglied zu Nordeuropa. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war das große Versprechen dieser so grundlegend neuen Politik.
In 46 Jahren konnten wir eine Entwicklung miterleben, die selbst die rosigsten Vorhersagen übertraf und von den alles andere als seltenen Episoden des sogenannten Euro-Pessimismus nie wirklich bedroht war. Zum derzeitigen Moment wird alles daran gesetzt, der vor sich gehenden Ausweitung einen globalen Inhalt zu geben, der über Statutsnormen und Beitritts-Protokolle hinausgeht.
Auch im Ausland wurde darauf verwiesen, daß die Semester des italienischen Vorsitzes weit mehr als die übliche Abwicklung der Geschäfte auf der Tagesordnung hatten. Ganz besonders drei Erfolge hat man herausstellen wollen: die Ermöglichung der Ausweitung auf Spanien und Portugal; die Ankurbelung der historischen Entscheidung in Luxemburg; und schließlich den Rat von Rom, der den Maastrichter Entscheidungen Gestalt verlieh.
Der Präsident des Europäischen Konvents, Valéry Giscard d´Estaing, übergibt dem italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi und Ministerpräsident Silvio Berlusconi den Entwurf für eine europäische Verfassung (18. Juli 2003).
Italien hat nun die Aufgabe, die Regierungskonferenz zu leiten, die der Arbeit des Konvents operative Konkretheit verleihen muß. Jenes Konvents unter dem einsatzbereiten und intelligenten Vorsitz von Präsident Giscard d’Estaing, und unter der wertvollen Mitarbeit Italiens.
Zu hoffen, daß der Text, den Giscard Präsident Ciampi feierlich überreichte, ohne Modifizierungen angenommen werde, hat nichts mit Respekt vor der Unantastbarkeit aufgesetzter Normen zu tun. Auch wenn mich die einmal von Luigi Luzzati gegebene Definition von Politik nicht überzeugt („gerechte Verteilung der Unzufriedenheit“), ist in diesem Fall kein Land vollkommen zufrieden mit dem Modell, auf das man sich geeinigt hat, es enthält aber keine Normen, die die unerbittliche Reaktion eines oder mehrerer Staaten rechtfertigen würde.
Ich persönlich war mit der Verteufelung der einstimmigen Beschlüsse noch nie einverstanden; und in der Tat hat sich dann doch noch im rechten Moment immer ein operativer Konsens gefunden. Dennoch finde ich, daß es höchste Zeit ist, das Vetorecht zu überwinden, wie es in dem Text Giscards klugerweise heißt.
Indem man sich – und zwar noch viel schneller als das auch die Optimistischsten hoffen – den alten Staaten Osteuropas öffnet, den einstigen politischen Feinden, kann die Union ein neues Gleichgewicht finden und der Harmonie und dem Frieden den Weg ebnen. Eine komplexe und sicher mit vielen Schwierigkeiten verbundene Anstrengung zwar, aber doch eine in die richtige Richtung.
Gleichzeitig werden wir Zeugen der Ausweitung der Nato, nachdem sich nun ein modus vivendi im Dialog mit der Russischen Föderation gefunden hat und eine Zusammenarbeit mit Moskau nicht mehr in den Bereich des Unmöglichen gehört. Ich will hier nicht auf die Notwendigkeit eingehen, die Normen auszuarbeiten, mit denen der Pakt juridisch gültig auf den neuesten Stand gebracht werden kann; oder die der Definition des ihm zugrundeliegenden Objektivs: wie sollte man sich ein militärisches Verteidigungsbündnis vorstellen können, ohne abzustecken, wovor es sich zu verteidigen gilt? Sicher vor dem Gespenst des Terrorismus, aber das einmal dahingestellt, muß man hier doch klarer und präziser sein, um zu vermeiden, daß der ein oder andere allzu voreilig als „Schurke“ abgestempelt wird.
An dieser Stelle möchte ich auch an ein internationales, sozusagen paralleles Werkzeug erinnern, das 1975 in Helsinki geboren wurde (europäische Organisation) und das 1990 mit dem Abkommen von Paris feierlich abgesegnet wurde. Es handelt sich überdies um ein funktionierendes Modell, das Europa mit den USA und Kanada verbindet. Wie wichtig eine solche Kollaboration ist, muß hier nicht eigens betont werden – in einem Moment, in dem die sogenannten interatlantischen Beziehungen fast schon vollständig zum Erliegen gekommen sind.
»ch komme hier auch nicht umhin, abschließend noch eine Bemerkung zu den Debatten zu machen, die um die Erwähnung der christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassung entstanden sind.
Mir scheint jedoch – etwaige Anschauungs- und Inspirationsunterschiede einmal beiseite gelassen –, daß der Text, den wir vor uns haben, ein Datum trägt: 2003, Jahr des Herrn. Das ist nicht viel, aber immerhin beginnen wir damit, diesem grundlegenden Ereignis den gebührenden Platz zu geben.