Startseite > Archiv > 09 - 2003 > DIE RELIGION DES „LICHTS“. Heil durch Gnostizismus
DIE AKTUALITÄT DES...
Aus Nr. 09 - 2003

DIE RELIGION DES „LICHTS“. Heil durch Gnostizismus


„Bald zwanzig Jahrhunderte seit Auftreten des Christentums ist der Manichäismus sicher das Wunderbarste, was in der Geistesgeschichte der Menschheit auf dem Erdball hervorgebracht wurde.“ Diese Behauptung von Simone Weil läßt uns die von der manichäischen Position noch heute ausgeübte Anziehungskraft verstehen, die mehr als andere vorgibt, die Befindlichkeit des gefallenen Menschen und seinen Wunsch nach Heil zu interpretieren.


von Massimo Borghesi


Links und Seite gegenüber, Ausschnitte aus Ascesa all´Empireo, Teil des Triptychons Visioni dell´Aldilà, 1500-1504, Hieronymus Bosch, Palazzo Ducale, Venedig.

Links und Seite gegenüber, Ausschnitte aus Ascesa all´Empireo, Teil des Triptychons Visioni dell´Aldilà, 1500-1504, Hieronymus Bosch, Palazzo Ducale, Venedig.

Der gefallene Gott und das Dasein als Böses
„Bald zwanzig Jahrhunderte seit Auftreten des Christentums ist der Manichäismus sicher das Wunderbarste, was in der Geistesgeschichte der Menschheit auf dem Erdball hervorgebracht wurde“1.
Diese Behauptung von Simone Weil läßt uns die von der manichäischen Position noch heute ausgeübte Anziehungskraft verstehen, die mehr als andere vorgibt, die Befindlichkeit des gefallenen Menschen und seinen Wunsch nach Heil zu interpretieren. Wie Hans Jonas in seinen Schriften zum Gnostizismus2 präzise darlegt, weist der Manichäismus in seinem kosmischen Pessimismus überraschende Ähnlichkeiten mit dem zeitgenössischen Nihilismus auf. Die in einer entarteten, von Chaos und Zerstörung geprägten Welt gefangene Seele sucht dem Gefängnis ihres Leibes zu entfliehen, will ihre verlorene Heimat wiederfinden, das der Finsternis der Materie entgegengesetzte göttliche Reich des Lichts, aus dem sie stammt. Der Mensch ist ein „Fremder“ auf der Welt, ein „verbannter Gott“, beherrscht vom Gefühl des Aufbegehrens und der Abscheu dem gegenwärtigen Dasein gegenüber, von der Sehnsucht nach dem, was er war, nach dem verlorenen Paradies, das ihn der Gnostizismus wiedererlangen lassen wird. Im Fragment eines alten Textes heißt es: „Geboren im Licht der Götter, / da bin ich jetzt, im Exil, weit von ihnen entfernt. / Die Feinde, die sich auf mich stürzten / schleppten mich unter die Toten. / Gesegnet sei und Befreiung erlange der, / der meine Seele von der Angst befreit! / Ich bin ein Gott und geboren von den Göttern, / brillant, licht, schillernd, / strahlend, duftend und schön, / doch jetzt zum Leiden verdammt“3.
Der „verlorene“ Gott, die Seele des Lichts, muß feststellen, an die Materie gekettet, zur geknechteten Befindlichkeit verdammt zu sein; Mensch der Schmerzen, auf die Erde „gekreuzigt“, Werk der dämonischen Mächte. Er ist der Iesus Patibilis der manichäischen Tradition.
Der Mensch leidet, weil seine Seele, der göttliche Teil in ihm, mit der Materie „vermengt“ ist, die, im Manichäismus wie im Gnostizismus, das Böse ist. „Die Materie machte den ersten Menschen blind und taub, so erkenntnislos und verloren, daß er weder seine Herkunft noch seine Abstammung [seine göttliche Familie] kannte. Sie hat den Körper und das Gefängnis geschaffen; sie legte die Seele in Ketten, die die Erkenntnis verloren hat. – Abscheu empfinde ich, ein Gefangener, für die Dämonen, die Teufelinnen und alle Hexen! – Az [die Lust, die Materie] hat die Seele fest an den verfluchten Leib gebunden. Hat sie verabscheuungswürdig und böse gemacht, voller Wut und Rachelust“4. Das vergängliche Dasein ist eine Fehlgeburt. In der manichäischen Mythologie ist es Frucht einer entarteten Nachkommenschaft, die nicht von Gott geschaffen wurde, sondern von einem Dämonen-Paar, das, nachdem es seinen eigenen Nachwuchs verschlungen hat, die ersten beiden Menschen zeugt: Adam und Eva. Am Beginn der menschlichen Spezies steht das doppelte Siegel der satanischen Erbschaft von Kannibalismus und Sexualität. Ein Siegel, das sich selbst im Zeugungsakt verewigt, der Generation der Lebenden, durch die die Welt, das düstere Gefängnis, weitergeht. Weiterhin die Seelen in Ketten legt, das „Licht“ einsperrt. „Daraus folgt, daß die Sünde vor allem daher rührt, daß die Seele der ‚Vermischung‘ innewohnt: Das Dasein – könnten wir sagen – ist von sich aus Sünde. Die Seele ist nicht von sich aus sündig, ist im Grunde nicht für die Sünde verantwortlich: sie erliegt ihr nicht aus ihrem eigenen Wunsch heraus, sondern wird von der Vermischung mit dem Fleisch dazu verführt. […] Die einzige Ursache der Sünde ist die Materie, deren Wesen im Bösen besteht und deren natürlicher, spontaner Ausdruck die ‚Begierde‘ ist“5.
Ausgehend von dieser dualistischen Behauptung – die Seele ist unschuldig, die Materie böse – nimmt der Manichäismus, als „Religion des Heils“, die Form eines anderen Weges an – im Vergleich zu dem vom Christentum behaupteten. Das Dasein wird nicht durch das Zugeständnis der Freiheit schlecht, sondern ist es ganz einfach. Eine Schlechtigkeit, die nur mit der Reinigung vom Leib gesühnt werden kann und mit einer, mehr oder weniger qualvollen Wanderung der Seele von Leib zu Leib, von deren Kette nur die Electi, die „Reinen“ letztendlich losgelöst werden. Eine Perspektive, die sich auch in der buddhistischen Tradition findet, in der das Heil in einer Art „Ent-Schöpfung“ liegt, Nichtig-Machung, Ablösung, Heimholung. Wenn das Böse in der „Vermischung“ der Seele mit dem Körper liegt, des Lichts mit der Materie, wird die Rettung durch die Scheidung, das Wegnehmen des einen aus dem anderen gegeben sein. Sich retten heißt sich trennen. Die manichäische Moral ist eine negative Moral. „Sie führt nämlich zu einer Ablehnung, einer Verwerfung, ja, einer Verleugnung der Welt, die uns unterdrückt, der bösartigen Wesen, die sie beherrschen, also der Befindlichkeit der Sklaverei, und unter diesem Aspekt kann sie mit der Haltung des Aufbegehrens, ja sogar mit dem Nihilismus verglichen werden, der mehr als einem gnostischen System zugrundeliegt“6.

Ein gnostisch-zoroastrisches Christentum
Wie kommt die manichäische „Weltanschauung“, die Anschauung ihres Stifters Mani, zustande? Auf diese Frage zu antworten, über die Ströme von Tinte vergossen wurden, ist heute insoweit möglich, als uns der 1969 in Ägypten entdeckte sogenannte Mani-Kodex von Köln eine zuverlässige Biographie Manis liefert, die wahrscheinlich auf das 5. Jahrhundert zurückgeht. Der 216 n.C. im Norden Babyloniens geborene Mani begann sein Predigen im Jahr 240. Seine Wanderschaft führte ihn bis nach Indien und, auf dem Rückweg, an den Hof des Königs von Persien, Schapur I. (240-272), jenem Herrscher, der drei römische Kaiser demütigte (Jordanus III., Philipp, den Araber, Valerian) und bei dem Mani Aufnahme und Schutz fand. So konnte sich die manichäische „Kirche“ entwickeln und verbreiten. Mani schickte Missionare nach Syrien, Ägypten, Armenien, Palmyra. „Ich hoffe aber“ sollte er sagen, „daß sie bis zum Westen und auch zum Osten vordringen wird. Und ihre Botschaft wird erschallen in allen Sprachen, und in allen Städten. Meine Kirche ist in diesem Punkt allen vorherigen Kirchen überlegen, denn diese vorherigen Kirchen waren in einzelnen Ländern und in einzelnen Städten erwählt. Meine Kirche jedoch wird sich in allen Städten ausbreiten, mein Evangelium jedes Land erreichen“7.
Das „Evangelium“ Manis war also eine Art „universales“ Evangelium, und das Schicksal des Stifters, das seine Jünger mit dem Christi verglichen, sollte ihn der Feindseligkeit der Zoroastrischen Priester aussetzen und in der Gefangenschaft enden. Von König Bahram I. (273-277) eingekerkert, starb Mani 277 im Alter von 60 Jahren in Ketten. Dank des Mani-Kodex (der dank des Buches Il manicheismo von Lorenzo Valla8 auch in italienischer (Teil-)Übersetzung vorliegt) kennen wir die Jugendjahre Manis, jene Zeit, von vier bis vierundzwanzig Jahren, die er in einer jüdisch-christlichen Taufsekte verbrachte, die den Lehren eines Lehrers namens Elkasai folgte. Die Entdeckung, daß Mani in einem solchen Ambiente aufgewachsen ist, ist von grundlegender Bedeutung, weil es, wie Sfameni Gasparro schreibt, „entscheidend dazu beigetragen hat, die Forschung auf die jüdisch-christliche Dimension des gesamten manichäischen Phänomens zu lenken“9. Der Mani-Kodex redimensioniert also die anderen Interpretationsfäden über die Ursprünge des Manichäismus – die „orientalischen“ buddhistisch-iranischen (F.C. Baur, R.Reitzenstein) –, die ihre Gültigkeit behalten, wenn auch nur in untergeordneter Weise. Der Kodex, und das ist keineswegs zweitrangig, bestätigt voll und ganz die Gültigkeit des Zeugnisses von Augustinus über den Manichäismus, nachdem dieses, ausgehend von der Arbeit Isaac de Beausobres, Histoire critique de Manichée et du Manichéisme (Amsterdam 1734-1739) entschieden widerlegt worden war10.
Er erlaubt uns außerdem, die, auf den ersten Blick verblüffende, Aussage zu verstehen: „Ich, Mani, Apostel Jesu Christi“11, wie auch die zahlreichen anderen, in denen sich Mani als Manifestation des Paraklet bezeichnet, und dann schließlich soweit geht, sich mit dem Geist der Wahrheit zu identifizieren, und folglich mit der Fülle der Offenbarung. Behauptungen, die nicht, wie in der Vergangenheit häufig angenommen, den Zweck verfolgen, sich christlichen Kreisen anzupassen, sondern vielmehr den der „Verpflanzung“ der christlichen Lehre in eine offenkundig gnostische Anschauung. In seiner Jugend und durch seine Vorgänger hat Mani natürlich viele religiöse Strömungen kennengelernt – kann A. Böhlig feststellen – und als junger Mann war er von einem jüdisch-christlichen Ambiente gnostischer Art umgeben. Dank seiner Abstammung könnte persisches Gedankengut in ihn eingeflossen sein. Auf seinen Reisen in den Osten Persiens und nach Indien begegnete er der Welt des Buddhismus. Sein radikaler Dualismus wurde vielleicht vom persischen Gedankengut beeinflußt […]. Die grundlegende Tendenz des Mythos, die den zentralen Gedanken seines Glaubens ausdrückt, ist […] ein gnostisches Christentum, das in einer breiten Perspektive den Weg des Sohnes Gottes, verschiedentlich als Schöpfer und Erlöser inkarniert, repräsentiert, mit dem Ziel, durch seine Gnosis und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, dem Vater vorgestellt zu werden“12.
Dieses gnostische Christentum zeigte sich bei Mani nicht nur in seiner Zugehörigkeit zur „tendentiell gnostischen jüdisch-christlichen Gemeinde der elkasaitischen Tradition”“13 in Babylonien, sondern auch in einer Radikalisierung, die ihn veranlaßte, mit ihr zu brechen. Ein Bruch, der in der Läuterung vollzogen wird. Für die Taufsekte macht sie eine ständige, tägliche „Taufe“ der Leiber und der Speisen notwendig. Für Mani dagegen kann die einzig mögliche Läuterung durch die Gnosis erzielt werden: „Die Taufe, mit der ihr euere Speise reinigt, ist zu nichts nutze; dieser Leib nämlich ist unrein und wurde von einer unreinen Schöpfung geformt. […] Die Läuterung also, wie es geschrieben steht, ist die, die durch die Gnosis zustandekommt: die Scheidung des Lichts von der Finsternis, des Todes vom Leben, des Quellwassers vom trüben Wasser“14.
So ist der Manichäismus entstanden. Geboren als Religion der „Scheidung“, als Erkenntnis (Gnosis) des Heils durch die Unterscheidung zwischen Reinem und Unreinem. Zwei Dogmen sind das Zentrum der manichäischen Kosmos-Theologie; das der „Zwei Prinzipien“ und das der „Drei Zeiten“. Laut ersterem sind Gut und Böse, Licht und Finsternis, Geist und Materie, zwei gegensätzliche, einander entgegenstehende Substanzen. Ein Dualismus, der nicht nur das Echo des Zoroastrismus wieder erschallen läßt, sondern – wahrscheinlich – auch das Markions. Für das zweite Dogma gilt der Dualismus zwischen den beiden Prinzipien für den Anfang und das Ende der Welt, nicht aber für die „mittlere“ Zeit, in der sie sich zu einer Vermischung verflechten, die die gegenwärtige Befindlichkeit des Daseins entstehen läßt. Unsere Welt ist eine „Mischung“, eine Vermischung von Gut und Böse gemäß einem Band, das die Seele an den Körper „kettet“ und ihr die Erinnerung an ihre göttliche Herkunft unmöglich macht. Dieser „Fall“ der Seele in die Welt ist nicht mehr als ein Moment in dem kosmischen Kampf zwischen dem Reich des Lichts und dem Reich der Materie, wo am Beginn erlebt wird, wie der „Urmensch“, Personifizierung des Vaters, den Dämonen zum Opfer fällt, die seine Seele verschlingen. Die Materie verschluckt so einen Teil der göttlichen Seele: es ist die Seele der Welt, die überall festgehalten wird – in den Pflanzen, den Tieren, im menschlichen Leib –, über ihr Gefangensein stöhnt und sich danach sehnt, ins Reich des Lichts zurückzukehren. Wenn dem so ist, kann der Manichäismus als eine „Religion des Heils“ erscheinen, und zwar insofern, als er, indem er die Seele von ihren Fesseln befreit, die Rückkehr zur ursprünglichen Dualität, zur absoluten Trennung der beiden Welten, erlaubt. Das Heil ist „Regeneration“, „Wiedergeburt“, in dem Sinn, der, für das Spirituelle, im „Sammeln“ (syllegein) der eigenen lichtgeschaffenen und göttlichen Substanz besteht, darin, das eigene Ich wiederzuerlangen, zu seinem früheren Sein und seinem früheren Ort zurückzukehren “15. Das Heil liegt im „Sammeln“ der Lichtsubstanz, die im Leib der Welt verborgen und begraben ist, in der „Wiederherstellung“ des verlorenen, ent-vereinigten Göttlichen, in der Rückkehr zur ursprünglichen Dualität. Bei diesem Heil spielt auch Jesus, das „göttliche Nous“ eine Rolle. Eine Rolle, die Mani, „Apostel Jesu Christi“ zur Vollendung führen will.

Der „erlöste Erlöser“. Rettung der Seele und Rettung Gottes
Ebenso wie für Ugo Bianchi16 ist auch für Henri Charles Puech der „Manichäismus eine Religion des Nous“17. Das Problem des Heils wird also zum Problem der Erkenntnis, in dem Ruf, der durch den Intellekt (Nous) an die schlafende Seele (psykhe) ergeht, die vom Schlaf der Materie eingelullt ist. Diese Erkenntnis, Anamnese, Reminiszenz der eigenen Herkunft, Erinnerung an die göttliche Heimat, kann erst dann stattfinden, wenn da eine Botschaft ist, ein göttlicher Gesandter, der, von Mal zu Mal, die Macht des Lichts verkörpert. In dieser Perspektive kommt es dazu, daß der Manichäismus eine Reihe von „Erlösern“ postuliert, göttlichen Gesandten, die die Seele aus dem Schlaf wecken, die Menschheit zum Scheiden auffordern, zur Flucht vor der Welt, zur Ablehnung der Dämonen und des Umgangs mit der Speise und der Fortpflanzung. Diese ganze Reihe von „Fackeln“, „Erleuchteten“, „Aufklärern“, die von Adam, Seth, Enos, Henoch, Nikoteus, Noah, Shem, Abraham bis zu Buddha, Zarathustra, Jesus, Mani geht, repräsentiert in Wahrheit einen einzigen Helden. „Die viele Namen tragenden Persönlichkeiten, die in die Kosmologie und in die Soteriologie eingreifen, werden im Grunde, zum größten Teil, nichts anderes sein als die Inkarnationen oder nachfolgenden Manifestationen dieser einen Einheit oder die hypostatisierten Funktionen der göttlichen Aktivität“18.
Das letzte Abendmahl, Salvador Dalí, 1955, National Gallery of Art, Washington.

Das letzte Abendmahl, Salvador Dalí, 1955, National Gallery of Art, Washington.

In einem Kreise ziehenden Prozess, der sehr an den Hegelschen erinnert, rettet diese „Aktivität“, indem sie die in der Materie verlorenen Lichtelemente „rettet“, auch sich selbst. „Ein- und dieselbe Substanz – Licht, Gott selbst– ist es, die mit einer in Welt und Leib verwandelten Materie vermengt ist, und folglich wird auch das Unterfangen, diese Lichtsubstanz vom Universum zu befreien und im menschlichen Organismus zu retten, ein- und dasselbe sein. Kurzum: immer und überall ist es Gott selbst, der, zum Teil, von der Finsternis veschluckt wird und sich befreit; es ist ein- und dieselbe Einheit, die, auf kosmologischer und anthropologischer Ebene, gleichzeitig das zu rettende und das rettende Wesen ist. Hier […] begegnen wir wieder der Figur, von der Reitzenstein meinte, sie liege einem jeden Gnostizismus zugrunde: dem „erlösten Erlöser“19.
Die mythische Einheit der Manichäer, der Gott des Lichts, rettet sich in dem Maße, in dem die „pneumatischen“ Menschen gerettet werden. „In der Tat repräsentieren die ‚Spirituellen‘ die Gesamtheit der gefallenen und in der Materie zerstreuten Lichtsubstanz, und die Wiederlangung ihres wahren Ichs entspricht gleichzeitig der allmählichen ‚Wiedervereinigung‘ der ‚Parzellen‘ dieser Substanz, der ‚Glieder‘ dieser göttlichen Person, die, so zusammengefügt, nach und nach wieder zur Einheit zurückfinden, zu dem organischen Ganzen, das sie ursprünglich bildeten. Indem er die ‚Pneumatischen‘ rettete, rettet der mythische Held sich selbst, auf dieselbe Weise, in der die ‚Pneumatischen‘, indem sie sich selbst retten, zur Rettung des Wesens beitragen, dessen wesentlicher Teil sie sind. Das gnostische Drama des Heils könnte also letzten Endes, und nach diesem Ansatz, auf ein einziges Thema beschränkt werden: das des ‚erlösten Erlösers‘, des göttlichen Wesens, dessen Geschichte von einem Verfall zu einer Rettung reicht und das in einem gewissen Augenblick die Gestalt des Anthropus annehmen kann, des Menschen, dessen Fraktionierung die Menschen repräsentieren“20.
Im Laufe der Geschichte des Anthropus, des Urmenschen, der durch die Wiedervereinigung der Lichtelemente wiedergeboren wird, finden wir auch Jesus Christus. Mani, „Apostel Jesu Christi“, der als Heiliger Geist die Erfüllung der Offenbarung des Nous ist, versteht Jesus als den Retter, der erleuchtet, der die Seele aus dem Schlaf weckt, als den Moment des Erlösers und Erlösten. Der Gekreuzigte ist es, der die gekreuzigte und mit dem Leib vermischte Seele wiedererweckt. Das ist auch der Grund, warum „seine Passion keinen Heilswert besitzt außer dem, eine lehrreiche Lektion für den menschlichen Intellekt zu sein, also weniger als Opfer denn als Beispiel. In der Tat ist es für den Manichäismus nur bloßer Schein. Wenn Jesus von einer Frau geboren wordeý wäre, wenn sein Körper unserem gleich gewesen wäre, hätte dieser Gott zur Vergänglichkeit beigetragen; zum Schmutzigsein des Fleisches, sonst wäre letzteres frei von Sünde gewesen, was, aus dualistischer Sicht, widersprüchlich sein muß. Die Realität des am Kreuz erlittenen Leidens würde die Passion jeglichen göttlichen Charakters berauben: wie im docetistischen Gnostizismus ist es jedoch gerade weil Jesus ‚gleichmütig‘‚ geblieben ist, dazu gekommen, daß er die Seele die absolute Scheidung gelehrt hat, die diese zwischen Leib und Nous bewerkstelligen muß. Die Passion Christi ist überdies nichts anderes als eine Illustration der – nach der Legende – erlittenen kosmischen Kreuzigung des Iesus Patibilis: sie ist ein historischer Akt, der, auf fesselnde Art, die Lehre des ‚erlösten Erlösers‘ zum Ausdruck bringt. Wie Alexander von Licopolis schrieb, „hat das Nous [das Jesus ist] durch seine Kreuzigung am Ende deutlich werden lassen, daß es auf ganz ähnliche Weise geschieht, daß auch die göttliche Macht an die Materie gebunden und gekreuzigt wird.‘ Der Manichäer wird also nicht, wie das bei den Christen der Fall ist, in der Teilhabe am fleischgewordenen und gekreuzigten Jesus das Heil finden, sondern dank der Lehre und des Beispiels eines Jesus, der nur deshalb eine körperliche Gestalt angenommen hat, um sich der Welt in der Zeit zu zeigen, und dessen Sendung vor allem die war, die Seelen zu wecken und zu erleuchten“21.
Die Passion Jesu ist ein Beispiel für alle, die Manifestation des „gekreuzigten und mit der Materie vermischten Lichts, in einer kosmischen und a-zeitlichen Passion“22. Die Passion Jesu ist die Passion der an die Materie geketteten Seele. Die Seele der Welt, dieser „wesensgleiche Teil Gottes, vermischt in allen Körpern, und seltsam mit dem Gras verbunden, den Samen, den Stämmen und den Früchten der Bäume; diese ‚Lebendige Seele‘ wird oft, in einem grandiosen Symbol, mit der Gestalt des Iesus Patibilis in Zusammenhang gebracht. Sie ist das ‚pathetische‘ Antlitz des transzendenten Jesus, der schmerzliche, und zu errettende Teil des Yso ziwa, Retter, insofern als er das reine Licht ist. Dieser kosmische und a-zeitliche Jesus ist an die Materie gekreuzigt, mit der seine lichtgeschaffene Seele ‚vermischt‘ ist. Die ganze Welt ist das ‚Kreuz des Lichts.‘ Es sind insbesondere die Bäume, in denen ein Großteil der göttlichen Substanz konzentriert ist, die Christus als Galgen dienen werden: laut einem von Faustus, dem Manichäer, geprägten und von Augustinus aufgegriffenen Ausdruck, ‚hängt Jesus, das Leben und das Heil der Menschen, an jedem beliebigen Holz (patibilis Iesus, suspensus ex ligno)‘. Die Passion und die Kreuzigung des historischen Jesus nehmen das Ausmaß universaler und ewiger Ereignisse an und sind eine beispielhafte Lehre. ‚Wir sehen überall,‘ sagt Faustus, ‚die mystische Annagelung Jesu an sein Kreuz (crucis eius mystica fixio)‘. Sie ist Ausdruck der Wunden der Passion, die unsere Seele erleidet“23.

Auf dieselbe Weise wie bei Hegel die kenosis des Logos zum Symbol eines universalen Prozesses wird: das der an die Materie „gekreuzigten“ Seele, die sich danach sehnt, zum Vater zurückzukehren. „Das universale Werden ist so das Sich-Ereignen der Passion eines Gottes, der der Retter seiner selbst ist, und die Geschichte der Menschheit verschmilzt mit dem Drama unserer Passion und unserer Rettung, die in konsubstantieller Weise an jenes mythische Wesen und jenen mythischen Prozeß gebunden sind“24.
Das göttliche Leiden ist unser Leiden, da unsere Seele, das Lichtelement, Teil des Urmenschen ist, des zerteilten Gottes, aufgelöst in Tausende von Fragmenten und in der Materie „begraben“. Unsere Seele ist „ein Fragment, eine Parzelle, ein ‚Glied‘, ein organischer, substanzieller Teil von Gott. Noch genauer gesagt ist die menschliche Seele, insofern sie passiv und mit dem Dunkel vermischt ist, eins mit der dynamis pathetike des Erlösers, mit dem Iesus Patibilis, dessen kosmische Kreuzigung sie wiederholt oder verlängert“25.
In dieser absoluten Identität zwischen Gott und der Seele, seinem „Teil“, rettet Gott die Seele, indem er sie aus dem Schlaf weckt, und diese wiederum „rettet“ Gott, indem sie zum „Sammeln“ der zerstreuten Lichtsubstanz beiträgt. Eine „Ernte“, die hauptsächlich durch die „Mägen“ der Electi geht, die, im Unterschied zu den einfachen Auditoren, die Macht haben, zu „purgieren“, durch den Verdauungsprozess das Licht von der Materie zu „scheiden“. Der Magen wird so die „Werkstatt, in der die erlaubte Speise sublimiert wird und die beiden in ihr vermischten Naturen durch die Verdauung getrennt werden. Sein Mahl ist also ein Erlösungsakt und hat sakramentalen Wert. Weshalb es christliche Häresieforscher manchmal als Eucharistiefeier interpretiert haben“26. Darin „akzeptiert“ der Erwählte – der, der auf die Arbeit verzichtet hat, auf die Zeugung, auf die Zubreitung des Mahls – das ihm vom Auditor zubereitete Mahl, letzteren für seine Arbeit verfluchend, ihm aber dann Vergebung gewährend. Der Verzehr des Mahls kann zu einem heiligmachenden Akt werden. „Werk der Verdammnis, wird der Umstand, sich zu sättigen, so also, im Fall des Vollkommenen, ein heiliges Werk, eine Heilshandlung, die nicht nur erlaubt ist, sondern paradoxerweise empfehlenswert, der Vollzug dessen also, was Augustinus unter dem Namen ‚Purgatio‘ ins Lächerliche zieht, als ‚Heil durch die Zähne, den Bauch oder den Magen‘“27.

Das Erbe des Manichäismus
Die Geschichte der Religion Manis konnte nicht nur die ersten Jahrhunderte der christlichen Ära überdauern. Sie konnte auch ihr Erbe hinterlassen. Dieses „Ideal des Todes“28, gegründet auf die Untätigkeit, die Verachtung des Ackerbaus – der die Glieder Gottes der Folter unterwirft –, der Ehe und der Fortpflanzung, der gesamten physischen Welt, dessen Radikalisierung zur Vernichtung der Menschheit und der Welt führt, sollte auf unterirdischen Wegen fortwirken und die religiöse Vorstellungswelt entflammen. Wir begegnen ihm, wenngleich wir seinen Stammbaum nicht nachvollziehen können, in den großen Häresien des Mittelalters. In der im 7. Jahrhundert in Armenien entstandenen Sekte der Paulikaner; der der Bogomilen, die im 10. Jahrhundert in Bulgarien entstand, und dann auf dem Balkan, in Kleinasien und Rußland Verbreitung fand; bei den Katharern im Frankreich des 12. Jahrhunderts. Bei allen ist der Dualismus der Prinzipien vertreten, die Einteilung in „Vollkommene“ und „Gläubige“, die Verurteilung von Fleisch und Geschlechtsverkehr. Die „Häresie des Bösen“ tritt so in Widerstreit zur christlichen Auffassung von der Ursünde, tritt, in einem radikalen Nihilismus, in Widerstreit zur Schöpfung, die als Werk Satans betrachtet wird. Ein düsterer Pessimismus, der sich in einigen Strömungen der Reformation wiederfinden sollte und der den Calvinisten Pierre Bayle – keineswegs ein Zufall – veranlaßte, in seinem Dictionnaire historique et critique von 1697 den Manichäismus aufzuwerten, den er für die Erklärung des Problems des Bösen als einzige rationale Alternative zum Christentum sah. Eine Meinung, der es bestimmt war, in der Moderne mehr als einmal Zustimmung zu finden, angefangen bei der Zeit der Romantik, wie das Beispiel von Simone Weil, einer großen Bewunderin der Katharer zeigt. Und eine Meinung, die, wenngleich von Kritik und selbst von mit dem Phänomen des Manichäismus Befaßten nicht ausreichend in Betracht gezogen, in überraschend analogen Formen auch in der Qabbalà von Yitzchàq Luria (1534-1572) wieder auftaucht, die einen so großen Einfluß auf das moderne jüdische – und nicht nur jüdische – Denken haben sollte. Lurias Vorstellung von dem „Zubruchgehen des Gefäßes“ und vom tiqqùn erinnert sehr an das manichäische Denken. Das am Anfang des kosmischen Prozesses stehende Zubruchgehen der Gefäße beschwört den Mythos vom Fall der „Lichtelemente“ in die Materie wieder herauf, der „Vermischung“ vom Reinen mit dem Unreinen, das tiqqùn wiederum das „Sammeln“ der Lichtsubstanz. Alles ist im Exil. Das Licht des Geistes der Shekhinà fällt in die Finsternis der dämonischen Welt des Bösen. Daraus folgt die Vermischung von Gut und Böse, die mittels der Wiederaufnahme der Lichtelemente und deren Rückkehr an ihre vorherige Position wieder getrennt werden müssen29. Gersholm Scholem beobachtet: Hier zeigt sich eine seltsame Affinität mit den grundlegenden religiösen Gedanken der Manichäer: eine Affinität, deren Evidenz dem Religionswissenschaftler nicht entgehen kann. Elemente der Gnosis – die in der antiken Qabbalà fehlen oder außer Acht gelassen werden können – und besonders die Theorie der Elemente oder Parzellen des zerstreuten Lichts treten in dieser späten Phase der Entwicklung des kabbalistischen Denkens in den Vordergrund. Es handelt sich in diesem Fall keinesfalls um eine historische Verbindung zwischen Manichäismus und der neuen Schule von Safed, sondern nur um eine ähnliche Denkweise, die ähnliche Resultate und Gedanken hervorgebracht hat. Dennoch, ja, vielleicht gerade deshalb, wäre es überaus lohnenswert, das System Lurias genauer unter die Lupe zu nehmen, und zwar auch für den Gnostiker: dieses System kann nämlich – sowohl in seiner Ganzheit als auch im Detail – als Paradebeispiel eines typisch gnostischen Denkens betrachtet werden30. So kommt es, daß die Anschauung Manis, die unlösbare Verbindung von Nihilismus und Heil, Verachtung und Askese, Verteufelung der Leiber und Vergöttlichung der Seelen, auf verschiedenen Wegen, auch weiterhin in den rastlosen Tiefen der modernen Kultur und Spiritualität zu finden ist. Eine Präsenz, die auch heute – in einer Welt, an deren Horizont sich Nichts und Chaos abzeichnen – in dem Gedanken von einer Welt im Kriegszustand durchscheint, einer Welt, die geteilt ist von den Mächten des Guten und denen des Bösen, den Reinen und den Unreinen, Licht und Finsternis.

ANMERKUNGEN
1 S. Weil, Écrits historiques et politiques, Paris 1960, it.Ü. (teilweise), I catari e la civiltà mediterranea, Genua 1996, S. 42.
2 Vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Göttingen 1934, Bdl. I; Id., The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginning of Christianity, Boston 1974, it.Ü. , Lo gnosticismo,Turin 1991.
3 Zitiert in: H.C. Puech, Sur le manichéisme et autres essais, Paris 1979, S. 25.
4 Zitiert in op. cit., S. 45.
5 Op.cit., S. 61. Unsere Kursivsetzung.
6 Op.cit., S. 64.
7 Zitiert in op. cit., S. 89, Anm. 53.
8 Il manicheismo, Bd.I, Mani e il manicheismo, herausg. von G. Gnoli, Farigliano (Cn) 2003.
9 G. Sfameni Gasparro, Einleitung zu M. Tardieu, Il manicheismo, it.Ü., Cosenza 1996, S. 10.
10 Vgl. L. Koenen, Augustine and Manichaeism in Ligth of the Cologne Mani Codex, in ICS 3 (1978), SS.154-195.
11 La vita di Mani. Il codice greco di Colonia, it.Ü., in Il manicheismo, Bd. I, Mani e il manicheismo, op. cit., S. 77.
12 A. Böhlig, The New Testament and the Concept of the Manichaean Myth, in Aa.Vv., The New Testament and Gnosis: Essays in Honour of Robert McL. Wilson, Edinburgh 1983, S. 104.
13 L. Cirillo, Einleitung zu La vita di Mani. Il Codice greco di Colonia, op. cit., S. 27.
14 Op. cit., SS. 87 und 89.
15 H.C. Puech, Sur le manichéisme et autres essais, op. cit., S. 14.
16 U. Bianchi, The Contribution of the Cologne Mani Codex to the religio-historical Study of Manichaeism, in Acta Iranica, 25, S.II Hommages et Opera Minora X, Papers in Honour of Professor Mary Boyce, Bd. I, Leyde 1985, SS. 15-24.
17 H.C. Puech, Sur le manichéisme et autres essais, op. cit., S. 31.
18 Op.cit., S. 33.
19 Op.cit., SS. 32-33.
20 Op.cit., SS. 15-16.
21 Op.cit., SS. 90-91.
22 G.Gnoli, Einleitung zu Il manicheismo, Bd. I, Mani e il manicheismo, op. cit., S. XLI.
23 H.C. Puech, Sur le manichéisme et autres essais, op. cit., S. 49.
24 Ebd.
25 Op.cit., SS. 56-57.
26 G. Gnoli, Einleitung zu Il manicheismo, Bd. I, Mani e il manicheismo, op. cit., S. LVI.
27 H.C. Puech, Sur le manichéisme et autres essais, op. cit., S. 74.
28 Op.cit., SS. 69-70.
29 Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 1982. Le grandi correnti della mistica ebraica, Turin 1993, S. 287.
30 Ebd.






Italiano Español English Français Português