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MEDITATION
Aus Nr. 10 - 2007

„Auch der Glaube bittet“


So sagt Augustinus – „…et fides orat“ – in einer Stelle des Enchiridion de fide, spe et caritate (2, 7). Lesen Sie hier die Meditation von Don Giacomo Tantardini bei den geistlichen Exerzitien im November 2006 in Vitorchiano für die Priester und Diakone der suburbikarischen Diözese Porto-Santa Rufina.


von Don Giacomo Tantardini


Die Heilung der blutenden Frau, Katakombe der Heiligen Petrus und Marcellinus in Rom.

Die Heilung der blutenden Frau, Katakombe der Heiligen Petrus und Marcellinus in Rom.

Heute Nachmittag möchte ich über das Gebet sprechen. Nach dem Gebet der Hora Media war es mir ein Trost, als Seine Exzellenz das Ave Maria anstimmte, das wir gemeinsam gesungen haben. Denn das, was ich heute sagen will, ist in dem Satz konzentriert „bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ In dieser Anrufung der Muttergottes, in dieser Anrufung „bitte für uns“ konzentriert sich im Grunde unsere ganze Teilnahme, die Teilnahme unserer Freiheit am Geheimnis der Gnade. „Bitte für uns.“ Das Gebet ist unsere Teilnahme am Geheimnis der Wahl Gottes.
Vergeben Sie mir diese kurze Anmerkung noch vor der Prämisse. Mir liegt sehr viel an diesem kleinen Büchlein, Chi prega si salva. Entstanden ist es in den 1980er-Jahren, weil viele junge Menschen – überwiegend aus außerparlamentarischen linken Kreisen – , die in den 1970er/1980er-Jahren dem Christentum begegnet waren und dann – als sie begonnen hatten, das christliche Leben kennen zu lernen, wissen wollten, wie man beichtet, weil das viele seit ihrer Erstkommunion nicht mehr getan hatten. Wie so oft heute, hatten nämlich viele das Sakrament der Firmung nicht empfangen. Wir haben dieses Büchlein in Rom aus dem einfachen Grund gemacht, Menschen zu einer guten Beichte zu verhelfen, die keinerlei Kenntnis der christlichen Lehre hatten, nicht einmal der Zehn Gebote. So ist dieses Büchlein also zustande gekommen. Enthalten sind darin die einfachsten Gebete, einige grundlegende Wahrheiten des christlichen Lebens, die Zehn Gebote, die Sünden gegen den Heiligen Geist, die himmelschreienden Sünden und ein Leitfaden zur guten Beichte. Dass wir uns dabei auf den Katechismus des hl. Pius X. stützen wollten, hatte keine dialektischen oder nostalgischen Gründe – wir haben es einfach nur getan, weil uns einige Antworten, die der Katechismus des hl. Pius X. gibt, die einfachste Hilfe für all jene zu sein schienen, die keinerlei Kontakt zur christlichen Praxis hatten. So ist dieses Büchlein also zustande gekommen. Dann wurde es dicker, wir haben ein paar Gebete angefügt: die Gebete der heiligen Messe, den Rosenkranz, die Litaneien... Im Januar/Februar 2005 trug sich 30Giorni mit dem Gedanken einer Neuauflage, und da kam mir spontan der Einfall, Kardinal Ratzinger zu bitten, ein Vorwort für uns zu schreiben. So als würde man dieses Büchlein – in dem der gesamte Katechismus enthalten war, den ich als kleines Kind gelernt habe – der Autorität der Kirche unterbreiten (Kardinal Ratzinger war damals Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre). Wir schickten dem Kardinal also das Büchlein. Und als wir nach zwei Wochen noch nichts gehört hatten, rief ein Journalist von 30Giorni den Sekretär an, der ihm bestätigte, dass der Kardinal dabei wäre, die Einleitung zu schreiben, ja das Büchlein Chi prega si salva griffbereit bei ihm auf dem Schreibtisch in der Kongregation für die Glaubenslehre liege. Am 18. Februar 2005 schickte uns Kardinal Ratzinger dann eine schlichte und schöne Einleitung. Sie beginnt mit den Worten: „Seit es Menschen gibt, wird gebetet.“ Weil das Gebet, also die Bitte, der Struktur des menschlichen Herzens entspricht. „Immer und allerorten hat der Mensch gewusst, dass er nicht allein ist in der Welt, dass es jemanden gibt, der ihm zuhört. Immer hat er gewusst, dass er dieses Anderen, Größeren bedarf und dass er sich dorthin ausstrecken muss, damit sein Leben recht wird. Aber immer auch war das Antlitz Gottes verdunkelt...“. Seit es Menschen gibt, wird gebetet... aber das Antlitz dieses Anderen, Größeren, war immer auch verdunkelt.
Ich entnehme meine Prämisse diesen beiden Betrachtungen Kardinal Ratzingers. Erste Betrachtung: das menschliche Herz ist als Bitte geschaffen und das Bild Gottes bleibt, auch nach der Sünde1. Der Mensch ist, auch nach der Sünde, capax Dei. Auch nach der Erbsünde ist das Herz des Menschen, die Machart des Menschenwesens, eine Bitte. Augustinus sagt, dass jedes Geschöpf von der Weisheit geschaffen ist, das vernunftbegabte Geschöpf aber (Engel und der Mensch) ist dergestalt von der Weisheit geschaffen, dass sein Schicksal die Weisheit selbst ist2. Der Mensch ist nicht nur vom Wort geschaffen, sondern er ist für das Ewige Wort geschaffen. Geschaffen ist er nicht nur von Gott, sondern ad Deum, ad Te. So ist das Herz des Menschen. Auch Augustinus, der mit großem Nachdruck gegen die pelagianische Häresie die Erbsünde hervorhebt – die Wunde der Erbsünde – sagt, dass es keine Sünde gibt (nicht nur die Erbsünde, sondern keine Sünde, die der Mensch begehen kann), die dieses limen naturae zerstört/ diese Schwelle der Natur3, diese Öffnung zum Geheimnis. Das Bild Gottes, das verwundet ist, bleibt als Öffnung zum Geheimnis. Sonst könnte der arme Sünder dem Herrn nicht begegnen, wenn Er ihm unentgeltlich entgegen kommt. Wenn das Herz nicht als Möglichkeit der Begegnung offen bliebe, könnte Er ihm nicht entgegen kommen. Das ist die erste Betrachtung. Die zweite Betrachtung (es wäre nämlich nicht realistisch, also nicht wahr, wenn nur das gesagt würde): diese Bitte, dieses Herz, ist verwundet. Diese Bitte, dieses Herz, ist verschleiert. Das Antlitz des Geheimnisses ist verdunkelt. Es gibt da ein Gebet der alten ambrosianischen Liturgie, das mir sehr gefällt, weil es diese natürliche Bitte des Menschen in seiner historischen Befindlichkeit beschreibt: „... oratio captiva peccatis / ... die Bitte, Gefangene der Sünden / quae inimico impediente fuscatur / die vom Feind [vom Teufel] behindert und getrübt wird...“4. Die Bitte des Herzens, Sklave des Teufels, wird behindert und getrübt. Das ist die Befindlichkeit des menschlichen Herzens. Augustinus (ich habe ihn heute Morgen zitiert) sagt das durch ein sehr einprägsames Bild: „Fugitivus cordis sui / Der Mensch ist auf der Flucht vor seinem Herzen, fern von ihm“5. Heute Morgen haben wir auch den Kommentar des Augustinus zum Wunder der beiden Blinden gelesen. Wenn der Herr nicht vorbei gegangen wäre, hätten die Blinden nicht gerufen. „Clausi sunt oculi cordis: / Die Augen des Herzens sind geschlossen: / transit Iesus / Jesus kommt vorbei / ut clamemus / damit wir bitten können“6.
Ich will euch zu meinem und eurem Trost eine Textstelle aus dem Credo des Gottesvolkes von Papst Paul VI. über die Erbsünde vorlesen. Wenn man sich nicht die Erbsünde vor Augen hält, wird man erst Idealist, dann Zyniker. Wenn man sich nicht die konkrete Befindlichkeit vor Augen hält, Folge der Erbsünde, gibt es keinen realistischen Blick, keinen Blick des Glaubens, auf unsere Befindlichkeit, die Befindlichkeit des Menschen, die Befindlichkeit der Welt. Die Passage über die Erbsünde und die über die Realpräsenz des Herrn in der Eucharistie sind die ausführlichsten Passagen des Credos des Gottesvolkes, weil es sich um die beiden Glaubenswahrheiten handelt, die damals – aber nicht nur damals – am meisten in Frage gestellt wurden. „Wir glauben, dass in Adam alle gesündigt haben, was besagen will, dass die Erbschuld, die Adam beging, die menschliche Natur, die allen Menschen gemeinsam ist, in einen Zustand fallen ließ, in dem sie die Folgen dieser Schuld zu tragen hat. Und dass dieser Zustand nicht jener ist, in dem unsere Stammeltern sich zuerst befanden, da sie in Heiligkeit und Gerechtigkeit geschaffen waren und der Mensch weder das Böse noch den Tod kannte. Die menschliche Natur ist also eine gefallene Natur: beraubt der Gnade, die sie bekleidete, verwundet in ihren eigenen natürlichen Kräften [verwundet also in ihrem Verstand und ihrer Freiheit] und dem Das bisher Gesagte war als große Prämisse gedacht: Dass also die Bitte, das Gebet, das proprium des Menschen ist, aber dieses proprium, dieses Herz, diese Bitte getrübt ist, dieses Herz, diese Bitte behindert wird, dieses Herz, diese Bitte, Gefangene ist. Und schließlich gibt sich der Mensch zufrieden und hört früher oder später auf, zu bitten. Gibt sich mit dem wenigen oder vielen zufrieden, was ihm in seinen Besitz zu bringen gelingt. Das ist die Befindlichkeit des Menschen.
Wenn das die Befindlichkeit des Herzens ist, muss man, wenn man vom Gebet (nicht abstrakt) spricht, sehen, wie Jesus dieser Befindlichkeit des Menschen, der aufgrund seiner Sünden Sklave ist („daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn“, Gal 4, 7) entgegen kam, wie Jesus diesem Herzen, das Ihn erwartet, aber am Bitten gehindert wird, entgegen kam. Diesem Herzen, das Ihn als Geschöpf erwartet, das als Geschöpf die Begegnung mit Ihm erwartet. Aber diese Erwartung des Herzens wird behindert, diese Erwartung des Herzens ist getrübt. So endet das Gebet der alten ambrosianischen Liturgie mit der Bitte: „... vultus tui candore purgetur / sie [die Bitte] möge vom Glanz Deines Antlitzes geläutert sein.“ In welcher Weise erleuchtet uns das Antlitz Gottes (vgl. 2Kor 4, 6), damit die Bitte von Herzen kommen kann? Wie kommt Jesus unserem armen Herzen entgegen?

Betender, Priscilla-Katakomben, Rom.

Betender, Priscilla-Katakomben, Rom.

Als erstes möchte ich anmerken, dass die Quelle dieser Begegnung im Geheimnis der Wahl Gottes liegt. Diese Begegnung an sich ist also keine Belohnung, die der Mensch für seine Bitte erhält. Diese Begegnung ist reine Gnade. Sie ist das Geheimnis der Gnade der Wahl. Denn Zachäus hatte vielleicht eine gute Erwartung, gewiss eine Neugier (vgl. Lk 19, 1-10), Matthäus aber erwartete nichts, als ihn Jesus rief. Der Zöllner Matthäus erwartete nichts (vgl. Mt 9, 9). In dem Gemälde des Caravaggio in der römischen Kirche San Luigi dei Francesi wird diese absolute Unentgeltlichkeit, diese absolut unentgeltliche Wahl, auf beeindruckende Weise herausgestellt. Das ist die erste Anmerkung. Es gibt ein Warum der Begegnung, und es liegt im Geheimnis Gottes, im Geheimnis der Wahl Gottes.
Zweite Anmerkung: diese Begegnung ist das Wahrnehmen einer Präsenz. Es ist, um einen lateinischen Ausdruck zu gebrauchen, confessio / Anerkennung. Und diese Anerkennung ist – in ihrem Innersten – bereits Bitte. Die Glaubensanerkennung ist bereits, in ihrem Kern, eine Bitte. Das Gebet beginnt bereits im Moment der Glaubensanerkennung. Die Formel, die wir in der lateinischen Liturgie immer in allen Messen vor dem Sanctus sprachen: „... supplici confessione / ... mit bittender Anerkennung“, verweist auf das proprium des Aktes des Glaubens. Die Glaubensanerkennung ist stets, in ihrem Kern, eine Anerkennung / confessio /, die bittet / supplex. Wenn das Kind „Mama“ sagt, beweist es damit nicht die Existenz der Mutter. Es erkennt ihre Präsenz, bittet darum, geliebt zu werden, darum, dass die Mutter bei ihm bleibt. Das ist das proprium der Glaubensanerkennung. Die Glaubensanerkennung ist immer supplex confessio. Confessio: eine Anerkennung durch den Verstand. Augustinus sagt das mit definitiven Worten: „Fides si non cogitetur nulla est / Wenn der Glaube nicht Gedanke ist [Verstand, der erkennt], ist er nichts“7. Der Glaube ist der Verstand, der erkennt und zustimmt. Und die Anerkennung durch den Verstand ist – gerade als Erkenntnis einer Präsenz, die anzieht – in ihrem Innersten Anerkennung, die bittet. Es rührt mich, an die erste Begegnung Jesu mit Johannes und Andreas zu denken, den beiden Jüngern von Johannes dem Täufer, die Jesus nachfolgen, nachdem der Täufer auf Jesus als das Lamm Gottes hingewiesen hat. Jesus dreht sich um und fragt sie: „Was wollt ihr?“ (Joh 1, 38), und sie antworten nicht, oder besser, sie antworten, indem sie wiederum Ihn fragen: „Meister, wo wohnst du?“ (Joh 1, 38). Was sie suchten, hatten sie vor ihren Augen. Sie antworten nicht mit einer Definition, sie antworten mit einer Frage: „Meister, wo ist deine Bleibe?“, was auch soviel heisst wie: „Wo, wie können wir bei Dir bleiben?“. Das, was sie erwarteten, hatten sie vor ihren Augen, und da sie es so erkannten, baten sie, bei Ihm bleiben zu dürfen. Die Glaubensanerkennung ist bereits Gebet, der Glaube ist bereits Bitte. Wie schon Augustinus sagte: „... et fides orat / auch der Glaube bittet“8. Das Credo ist ein Gebet. Wie schön ist es doch, dass wir es in der heiligen Messe beten! Der Glaube ist eine Anerkennung durch den Verstand, ausgelöst von der Gnade, ausgelöst von Seiner Anziehungskraft, von Seiner Präsenz, von Ihm, der vorbeigeht, von Seiner Geste. Es ist ein Akt des Verstandes, der erkennt, und der Freiheit, die zustimmt. Mit seiner Definition, dass „der Glaube eine übernatürliche, ohne die Erleuchtung und Inspiration des Heiligen Geistes unmögliche Tugend ist“ prägte das 1. Ökumenische Vatikanische Konzil einen wunderschönen Begriff: „Qui dat omnibus suavitatem in consentiendo et credendo veritati / Der Heilige Geist verleiht allen die Freude, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben“9. Wie schön ist doch das Wort suavitas! Man erkennt eine Präsenz nur dann, stimmt ihr nur dann zu, weil es eine Freude, anziehend ist, sie zu erkennen und ihr zuzustimmen. Um erkannt werden zu können, ist die Wahrheit menschliche Präsenz geworden, ist das Wort Fleisch geworden (vgl. Joh 1, 14). Das ist kein Theorem, das eines Beweises bedürfig wäre. Was ich hier ansprechen wollte ist der Umstand, dass der Kern der Glaubensanerkennung bereits Gebet ist.
Eine dritte Anmerkung. Nach der Begegnung, nachdem er im Haus des Zachäus zu Gast war, sagt Jesus zu ihm: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden“ (Lk 19, 9). Die Begegnung mit Jesus rettet den Menschen wirklich. Die Anerkennung Jesu ist der Beginn des Heils. Die Taufe schenkt uns wirklich das Heil. „Jetzt sind wir Kinder Gottes“ (1Joh 3, 2). So schreibt Johannes in seinem ersten Brief. Aber wie sind wir jetzt Kinder Gottes? Wie sind wir jetzt gerettet? Wie sind wir jetzt glücklich? Der Widerschein des Heils (siehe Zachäus, Lk 19, 6), die zweite Frucht des Geistes (vgl. Gal 5, 22), ist die Freude. Das Heil hat diesen menschlichen Widerschein, der die Freude ist. Nun gut, wie sind wir jetzt froh? Der Apostel Paulus und die gesamte Überlieferung sagen, dass wir jetzt gerettet, froh sind „in spe / in der Hoffnung“ (Röm 8, 24). Kardinal Ratzinger hat einmal, in einem auch von 30Giorni veröffentlichten Interview10 betont, dass die Hoffnung eine ständige Dimension des christlichen Lebens ist. Offensichtlich ist unsere Erwartung nicht wie die Erwartung im Alten Testament. Der Herr ist nämlich gekommen, und aus Gnade sind wir Ihm begegnet. Aber die Hoffnung bleibt im christlichen Leben, weil auch wir, gerade kraft der suavitas / Wonne der Freundschaft mit Ihm, in Erwartung Seiner ausharren („in Erwartung Deines Kommens“), und weil die Begegnung mit Ihm, der Glaube, das Heil, nicht unser Besitz ist. Unser Heil ist nicht unser Besitz. In einem jeden Moment ist es eine Gabe.
Ich möchte euch die alten Kanones über die Gnade vorlesen, denn sie sind von einer einfachen und leuchtenden Klarheit. Vor allem zwei Kanones der Synode von Karthago des Jahres 418, die nach der – nach anfänglichem Zögern erfolgten – Anerkennung durch Papst Zosimus sozusagen die lehrmäßigen Dokumente über die Gnade wurden, auf die alle Konzilien, besonders das Konzil von Trient, Bezug nahmen. Danach folgt ein Satz aus dem Indiculus. Das Indiculus ist ein kleiner Katechismus, in dem die Kirche von Rom nach den Polemiken des Pelagius die Glaubenslehre über die Gnade zusammen gefasst hat. Ich lese diese Dokumente der Tradition vor, weil sie klar stellen, dass das Heil wirklich ist, aber nicht unser Besitz. Es ist wirklich und zugleich auch – um es mit einem von Péguy gern gebrauchten Ausdruck zu sagen – prekär11. So dass die Beziehung des Christen zum Heil immer eine Beziehung des Bittens ist, eine Gebets-Beziehung, nicht eine Besitz-Beziehung.
Der dritte Kanon der Synode von Karthago besagt: „Ebenso haben sie beschlossen: Wer sagt, die Gnade Gottes, kraft derer der Mensch durch unseren Herrn Jesus Christus gerechtfertigt wird, tauge allein zur Vergebung der Sünden, die schon begangen wurden, nicht auch zur Hilfe, so dass sie nicht begangen werden, der sei mit dem Anathema belegt“12. Die Gnade ist nicht nur für die Vergebung der Sünden notwendig, die schon begangen wurden, sondern als Hilfe, sie in Zukunft nicht mehr zu begehen. Weil das Heil, die Gnade, nicht unser Besitz ist. Das Heil, die Gnade, ist prekär. Das Staunen des Johannes und des Andreas an jenem Tag konnte nicht eindeutiger sein: „Es war um die zehnte Stunde“ (Joh 1, 39). Mehr als eindeutig, und doch war es nicht ihr Besitz. Mehr als eindeutig war ihre Bitte, und doch war sie nicht ihr Besitz. Die Gewissheit des Christen – nach einem von Don Giussani gebrauchten Bild, das mir in seiner Einfachheit definitiv erscheint – ist wie das Vertrauen eines Kindes. Wenn ein Kind vollkommenes Vertrauen hat (wie es in dem bei der gestrigen Messe verlesenen Psalm 130 heisst), schläft es ruhig im Arm seiner Mutter ein. Dieses Vertrauen ist nicht sein Besitz. Das christliche Vertrauen ist ein solches vollkommenes Vertrauen, das Vertrauen eines Kindes.
Im fünften Kanon der Synode von Karthago heisst es: „Ebenso haben sie beschlossen: Wer sagt, die Gnade der Rechtfertigung werde uns deshalb gewährt, damit wir, was wir durch den freien Willen zu tun geheißen werden, durch die Gnade leichter erfüllen können, so als ob wir, auch wenn die Gnade nicht gewährt würde, zwar nicht leicht, aber dennoch auch ohne sie die göttlichen Gebote erfüllen könnten, der sei mit dem Anathema belegt“13. Wer sagt, dass wir, zwar nicht leicht, auch dennoch auch ohne die Gnade die göttlichen Gebote erfüllen können, der sei mit dem Anathema belegt. Dann die abschließende, wunderschöne Feststellung: „Von den Früchten der Gebote [also davon, das in die Tat umzusetzen, was die Zehn Gebote vorschreiben] redete der Herr nämlich, wo er nicht sagt: Ohne mich könnt ihr [es] nur schwerlich tun, sondern sagt: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun‘ (Joh 15, 5)14.“ Ein wunderschöner Satz. Jesus hat nicht gesagt: „Ohne mich könnt ihr [es] nur schwerlich tun.“ Nein, er hat gesagt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Diese Schlichtheit des Evangeliums ist tröstlich, befreiend. Befreiend für uns und für unsere Gläubigen.
Drittes Kapitel des Indiculus. Hier wird Papst Innozenz (401-417) zitiert. Papst Innozenz, Vorgänger von Papst Zosimus, hatte die ersten Verurteilungen der pelagianischen Häresie durch die afrikanischen Konzilien prompt und bereitwillig akzeptiert. Das Indiculus sagt: „Niemand, auch wenn er durch die Gnade der Taufe erneuert wurde, ist fähig, die Nachstellungen des Teufels zu überwinden und die Begehrlichkeiten des Fleisches zu besiegen“15. Auch das Konzil von Trient stellte später heraus, dass es mit der Gnade möglich ist, die Gebote Gottes zu befolgen und dass es eine gewagte und von allen Vätern verurteilte Behauptung ist, es sei mit der Gnade nicht möglich, die Gebote zu befolgen16. Aber das Konzil von Trient fügte noch an, dass man, auch wenn man in der Gnade Gottes steht, ohne eine besondere Hilfe der Gnade nicht im Stand der Gnade bleibt17. Um im Stand der Gnade zu bleiben, bedarf es einer besonderen Hilfe der Gnade. So heisst es im Indiculus weiter: „Dies bestätigt die Lehre desselben Bischofs [Innozenz] auf denselben Seiten, die lautet: ‚Denn auch wenn er den Menschen von den vergangenen Sünden erlöst hat, so hat er sich doch im Wissen, dass er wiederum sündigen kann, vieles zur Wiederherstellung – wie er ihn (nämlich) auch danach zurechtbringen könnte – aufbewahrt und gewährt ihm tägliche Heilmittel [tägliche Gnaden]; wenn wir uns nicht im festen Vertrauen auf sie stützen, werden wir die menschlichen Irrtümer in keiner Weise besiegen können [wie wir mit Seiner Hilfe bei der Taufe gesiegt haben, wie wir mit Seiner Hilfe im Sakrament der Beichte siegen]. Denn mit wessen Hilfe wir siegen, ohne dessen Hilfe werden wir andererseits notwendigerweise besiegt‘“18. Ebenso wie wir mit Seiner Hilfe gesiegt haben, sind wir „eo iterum non adiuvante / wenn Er uns nicht wieder hilft / vincamur / besiegt“. Mit diesen alten Lehren, die ich eben vorgelesen habe, will ich sagen, dass das Gebet, die Bitte, die Lebensweise der Christen ist. Die Lebensweise derer, die aus Gnade dem Heil begegnet sind. Derer, die in der Hoffnung gerettet wurden. Derer, die eine unentgeltliche Antwort auf die Erwartung ihres Herzens in der Freundschaft mit Jesus gefunden haben. Die Art und Weise, diese Freundschaft zu leben, die Art und Weise, diese Gnade zu leben, die Art und Weise, diese beginnende Glückseligkeit zu leben, ist das Gebet.
Jungfrau mit Kind und der Prophet Balaam, Priscilla-Katakomben, Rom.

Jungfrau mit Kind und der Prophet Balaam, Priscilla-Katakomben, Rom.

Ich möchte hier auch darauf zu sprechen kommen, was Thomas von Aquin über die Hoffnung sagt, weil Thomas von Aquin die Hoffnung mit dem Gebet zusammenfallen läßt. Mitte der 1980er-Jahre habe ich in Collevalenza an den geistlichen Exerzitien teilgenommen, die von Kardinal Ratzinger gepredigt wurden. Davon ist mir eines ganz besonders im Gedächtnis geblieben: als Kardinal Ratzinger in der Meditation über die Hoffnung Thomas von Aquin zitierte, der gesagt hat: „Das Gebet ist die Interpretation der Hoffnung / Petitio est interpretativa spei19. Das Gebet ist die Stimme der Hoffnung, der Ausdruck der Hoffnung, die Art und Weise, wie die Hoffnung zum Ausdruck kommt. Gerettetsein in der Hoffnung heisst beten. Glücklichsein in der Hoffnung heisst bitten. Darum bitten, dass dieses Staunen, dieser wirkliche und prekäre Beginn der Glückseligkeit, erneuert werde. Wir können das nicht besitzen. Wenn der Herr es nicht erneuert, bleibt man nicht in Seiner Gnade (vgl. Joh 15, 5).
Im Compendium theologiae20, jenem unvollendeten Werk, das gerade am Anfang des zweiten Teils, dem zum Thema Hoffnung, endet, begründet Thomas von Aquin den Umstand, dass die Hoffnung mit dem Gebet zusammenfällt – Jesus hat uns ja das Vaterunser-Gebet geschenkt, um uns in der Hoffnung leben zu lassen –, mit den nachfolgenden Argumenten.
Erstes Argument: „Spes desiderium praesupponit / Die Hoffnung setzt das Verlangen voraus“21. Wie schön! Voraussetzung der Hoffnung ist es, angezogen zu sein von dem, was man erwartet. Wenn uns das, was wir erhoffen, nicht anzieht, können wir nicht hoffen. Voraussetzung der Hoffnung ist die Anziehung der Gnade, die Anziehungskraft Jesus. Die Tatsache, dass sie uns anzieht, bedeutet, dass wir auch ihre anfängliche Erfahrung gemacht haben. Das ist meiner Meinung nach von grundlegender Bedeutung. Das ewige Leben, das Paradies, kann man nur ersehnen, wenn man bereits eine anfängliche Erfahrung davon gemacht hat. Man kann nicht etwas ersehnen, dessen Anziehungskraft man nicht bereits erfahren hat. Augustinus’ Anmerkungen zum Gebet, die wir vor ein paar Wochen im Brevier gelesen haben, sagt das in der einfachsten Weise: „Der Geist Gottes bewegt die Heiligen also dazu, mit unbeschreiblichen Seufzern zu bitten, und flösst ihnen den Wunsch [schließlich entspringt das Verlangen der Anziehung der Gnade] nach etwas sehr Großem, aber noch Unbekanntem ein [der Glückseligkeit des Paradieses], das wir durch die Hoffnung erwarten. [...] Wenn es aber wirklich vollkommen unbekannt wäre, wäre es nicht Objekt unseres Verlangens; und wenn man es andererseits als etwas betrachten würde, das man bereits besessen hat, wäre es nicht ersehnt und mit Seufzern erbeten“22. Wenn diese Glückseligkeit, wenn dieses ewige Leben vollkommen unbekannt wäre, könnte man es gar nicht erst ersehnen, und wenn es unser Besitz wäre, würden wir nie darum bitten. „Spes desiderium praesupponit.“ Die erste Voraussetzung ist, dass das, was wir hoffen, ersehnt ist, dass die immerwährende Glückseligkeit ersehnt ist. Um sie zu ersehnen, müssen wir von ihr angezogen sein. Nicht aus uns kommt das Verlangen. Das Verlangen kommt zwar aus unserem Herzen, ausgelöst aber wird es von einer Anziehung. Einer Anziehung, von der wir eine anfängliche Erfahrung gemacht haben.
Zweitens: was wir ersehnen muss „erkannt sein als etwas, das zu erreichen möglich ist/ possibile esse aestimetur ad consequendum23. Auch das ist schön! Möglich, weil die ersehnte Glückseligkeit – wäre sie nicht als möglich erkannt – eine Illusion, ein Traum wäre; sie wäre dann keine Hoffnung. Eine als möglich erkannte Glückseligkeit also. Wie schön ist doch dieses „aestimetur“, also „als vernünftig erkannt.“ Augustinus schreibt in den Confessiones: „Merito mihi spes valida in illo est / Rechtens baue ich auf Ihn meine starke Hoffnung“24.
Drittens: das, was erhofft ist „sit aliquid arduum / ist etwas Beschwerliches“25. Beschwerlich bedeutet schwierig. Aber meiner Meinung nach ist es einfacher zu sagen, dass es sich um eine Realität handelt, die nicht wir geschaffen haben, die nicht wir besitzen können. Beschwerlich heisst, dass wir nicht verlangen können, dass wir nicht verstehen können. Wir können nicht erreichen, und wir können nicht erfassen. „Si comprehendis non est Deus / wenn du es verstehst, ist es nicht Gott“26. Augustinus sagt das auf eine noch schönere Weise.„Si comprehendere potuisti / wenn Du es verstehen konntest / aliud pro Deo comprehendisti / hast Du etwas anderes als Gott verstanden“27.
Von der Entfremdung haben nicht erst Marx und Nietzsche gesprochen, sondern lange zuvor schon Augustinus. Wenn Du das, was Du Gott nennst, verstehst, dann ist es etwas anderes als Gott, und du bist daher entfremdet. Auf Gott hat man weder einen Anspruch, noch kann man ihn verstehen. Im Brief an die Philipper, den wir in der heiligen Messe gelesen haben, schreibt Paulus, dass der Sohn Gottes „nicht daran fest hielt, wie Gott zu sein“ (Phil 2, 6). Er hielt nicht daran fest, wie Gott zu sein, hat es nicht als einen Raub [also eine durch ihn selbst erreichte Eroberung] betrachtet – heisst es in dem lateinischen Text –, wie Gott zu sein. Es ist eine immerwährende Gabe des Vaters im Genuss des Heiligen Geistes. Die Hoffnung setzt also eine Realität voraus, die ersehnt, die möglich ist, auf die wir aber keinen Anpruch haben und die wir nicht verstehen können. In diesem Sinne ist sie beschwerlich.
Und hier tun sich zwei Wege auf: der erste ist der des Menschen, der alles daran setzt, dieses ersehnte, mögliche, beschwerliche Gut zu bekommen; der zweite ist der des Menschen, der darum bittet, und das ist die Art und Weise, wie die Tugend der Hoffnung zum Ausdruck kommt. Thomas von Aquin schließt mit einem herrlichen Satz: „Sic igitur ea quae Dominus / So zeigen sich also die Dinge, die der Herr / in sua oratione petenda esse docuit / in seinem Gebet [dem Vaterunser] zu erbitten gelehrt hat / ostenduntur homini esse consideranda possibilia / dergestalt, dass sie als dem Menschen möglich / et tamen ardua / und dennoch beschwerlich betrachtet werden müssen / ut ad ea non humana virtute sed divino auxilio perveniatur / so dass man sie nicht durch menschliche Fähigkeit erlangt, sondern durch die Gnade Gottes“28. Das ist alles, was ich sagen wollte. Dass also das Gebet zum Kern des christlichen Glaubens gehört, dass das Gebet zum Kern des christlichen Lebens gehört. Zum Kern des Glaubens, weil die Glaubensanerkennung bereits Bitte um diese Präsenz ist: supplex confessio. So dass im Glauben die Einheit von Herz und Verstand bekräftigt wird. Das Gebet gehört zum Kern des christlichen Lebens, weil das Heil, das der Glaube schenkt, wirklich und zugleich prekär ist. „Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung“ (Röm 8, 24). Es ist wirklicher Beginn der Glückseligkeit, so dass man ja auch, wenn man keine anfängliche Erfahrung davon hätte, diese gar nicht erst ersehnen könnte. Es ist wirklich, aber nicht unser Besitz. Augustinus sagt an einer Stelle, die wir im Brevier am letzten Tag des Kirchenjahres, vor dem Beginn des Advents, lesen: „Quotidie petitores, quotidie debitores / Täglich sind wir Bittsteller, täglich sind wir Schuldner“29. Täglich müssen wir das Vaterunser beten. Täglich petitores / Menschen, die bitten. Täglich debitores / Menschen, die Schuldner sind.

Die Anbetung der Könige, Kalixtus-Katakomben, Rom.

Die Anbetung der Könige, Kalixtus-Katakomben, Rom.

Hier noch einige kurze Anmerkungen dazu, wie das Kompendium des Katechismus das Gebet definiert30.
Erste Anmerkung. Das Kompendium definiert das Gebet nach zwei traditionellen Definitionen: „Elevatio mentis in Deum / Erhebung der Seele zu Gott“ oder „petitio decentium a Deo / an Gott gerichtete Bitte um Güter, die seinem Willen entsprechen“31. Und fügt etwas Wunderschönes an: „Es ist immer eine Gabe Gottes“32. Dieser Satz des Kompendiums fasst alles zusammen, was ich zu sagen versucht habe. Das Gebet ist immer eine Gabe Gottes. Das Gebet der Söhne (vgl. Gal 4, 6) entspringt stets Seinem Nahekommen, Seinem Begegnung-Werden, Seinem Vorbeigehen. „Transit Iesus ut clamemus33. „Es ist immer eine Gabe Gottes, der kommt, um dem Menschen zu begegnen.“ Soweit das Kompendium. Die knappe Antwort des Katechismus gebraucht das Wort begegnen. Das Gebet ist immer eine Gabe Gottes, die Begegnung wird. Wenn es nicht zur Begegnung kommt, bittet das Herz nicht. „Clausi sunt oculi cordis34. Das Herz folgt seinen Illusionen. Weil das Herz, also die Innerlichkeit, krank ist, ist die Innerlichkeit blind, ist die Innerlichkeit taub, ist die Innerlichkeit tot35.
Zweite Anmerkung. Das Gebet ist also elevatio mentis in Deum. Um zu verstehen, was dieses „die Seele zu Gott erheben“ bedeutet, eine Anmerkung zu einen Text des Augustinus im De civitate Dei36. Augustinus zitiert den Begriff sursum corda / erhebet [die] Herzen. Schon damals, wie heute, begann so das eucharistische Gebet. Augustinus schreibt: „Bonum est sursum habere cor, / Denn gut allerdings ist es, sein Herz hoch zu tragen, / non tamen ad se ipsum / aber nicht in der Richtung auf sich selbst [das ist sehr wichtig! Das Gebet ist keine Introspektion. Es ist etwas Gutes, das Herz erhoben zu haben, aber nicht auf sich selbst gerichtet], / quod est superbiae / wie es der Hochmut macht, / sed ad Dominum / sondern in der Richtung auf den Herrn, / quod est oboedientiae / was der Gehorsam tut,/ [das ist die schönste Feststellung!] quae nisi humilium non potest esse. / [Gehorsam] der sich nur bei den Demütigen findet./ Est igitur aliquid humilitatis / Es gibt also merkwürdigerweise eine Art Erniedrigung, / miro modo quod sursum faciat cor / die das Herz emporhebt, [elevatio mentis in Deum] / et est aliquid elationis / und eine Art Erhebung, / quod deorsum faciat cor. / die das Herz erniedrigt. / Hoc quidem quasi contrarium videtur, / Das klingt nun freilich wie ein Widerspruch, [dessen, was auch wir instinktiv denken]: / ut elatio sit deorsum / dass die Erhebung nach unten, / et humilitas sursum / die Erniedrigung nach oben führen soll.“ Augustinus sagt in dieser Passage lediglich das, was Jesus gesagt hat: „Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt“ (Lk 14, 11). Wie viele Male verwechseln auch wir die elevatio mentis in Deum (bzw. den Blick – oder einfach nur die Tränen – des Kindes, das bittet, in den Arm genommen zu werden) mit der elatio (bzw. dem Versuch des Menschen, Gott von uns aus zu erreichen). Es ist ein wunderbares Faktum („miro modo“), dass es die Demut ist, die zu Gott erhebt, weil Gott es ist, der erhebt. Wie bei dem Zöllner, der „nicht einmal wagte, seine Augen zum Himmel zu erheben“ (Lk 18, 13).
Dritte Anmerkung. Die Gebetsdefinition „petitio decentium a Deo / Bitte an Gott um Güter, die seinem Willen entsprechen“ legt nahe, dass das Gebet an ein gutes Leben gebunden ist. Das Gebet ist an die Erfüllung der Zehn Gebote gebunden. Wir sind arme Sünder, aber wir können nicht beten, wenn wir uns mit der Sünde im Kompromiss befinden. Man kann nicht zwei gegensätzliche Dinge gleichzeitig ersehnen. Einen Moment nachdem man der Versuchung erlegen ist, kann man aus Gnade bitten. Aber „ein Lügner ist“ (1Joh 2, 4) das Herz, wenn es „sagt“ (1Joh 2, 4), gleichzeitig zwei gegensätzliche Dinge zu ersehnen.
Vierte Anmerkung. Die beiden Worte elevatio und petitio, mit denen das Kompendium das Gebet definiert, deuten darauf hin, das es „immer und zugleich“ (wie Papst Benedikt 2005 in Köln sagte37) ein Schauen und ein Bitten ist, ein Staunen und eine Erwartung, „eine Wonne und ein Verlangen“38, ein anfängliches Seufzen39. Gerade wegen des Staunens über die Begegnung haben Johannes und Andreas gebeten (vgl. Joh 1, 38). Und da es immer eine Gabe Gottes ist, die begegnet, ist das Gebet, auch im unbeschreiblichen Seufzen, immer wegen eines weiteren Staunens möglich.
Die Taufe, Kalixtus-Katakomben, Rom.

Die Taufe, Kalixtus-Katakomben, Rom.

So schreitet man also „proficiens / wachsend“ voran, sagt Augustinus dort, wo er von Petrus spricht: „Non praeveniendo sicut Petrus praesumens / Indem man nicht zuvor-kommen [nicht weiter gehen] will wie Petrus, als er meinte / sed sequendo et orando / sondern nachfolgend und bittend [Staunen und Bitte] sicut Petrus proficiens / wie Petrus, als er wachsend voranschritt“40. So wird man gut, hat ein gelungenes Leben. Wie Papst Benedikt bei der Begegnung mit den Erstkommunionkindern am 15. Oktober 2005 gesagt hat: „Der Herr hilft uns, dass unser Leben gelingt.“
Fünfte Anmerkung. Um beten zu lernen, muss man beten. Da es immer eine Gabe Gottes ist, der kommt, um dem Menschen zu begegnen, wird von uns einfach nur verlangt, zu wiederholen. Wieder-holen, bzw. Wieder-fragen. Die einfachsten Gebetsformeln wiederholen. Der Herr ist es, der kommt, um dem Menschen zu begegnen. „Den Demütigen aber schenkt er seine Gnade“ (Spr 3, 34; 1Pt 5, 5).
Nicht wir sind es, die dank von uns erfundener Worte den Herrn erreichen. Nehmen wir beispielswiese den Rosenkranz. Diese Worte wachsen mit dem Wachsen der Erfahrung des Glaubens. Wie bei den Kindern. Am Anfang mögen die Worte nur der Klang einer Stimme sein. Wenn man diese Worte jedoch wiederholt, erweist sich die von ihnen aufgezeigte Realität in ihrer so seltenen Schönheit als unentgeltlich: „Geliebte Schönheit“. Lest doch einmal – wenn möglich vor der Eucharistie – Kapitel 11, Vers 1-13, und Kapitel 18, Vers 1-14 des Evangeliums nach Lukas.
Ich schließe mit einem Satz aus dem De civitate Dei des Augustinus: „Denn das ist die ganze und die höchste Aufgabe, die der auf dieser Welt pilgernde Gottesstaat in dieser Vergänglichkeit hat: anzurufen den Namen Gottes des Herrn“41.
Wie schön ist doch dieser Ausspruch des Augustinus! „Ganze und höchste Aufgabe“ meint, dass das Gebet die Dimension einer jeden Geste ist. „Die Hoffnung auf das Gebet setzen“ meint beispielsweise, dass wenn wir die heilige Messe feiern, die Hoffnung im Gebet Jesu liegt, nicht in uns.


Anmerkungen
1 Vgl. Augustinus, De Trinitate XIV, 8, 11.
2 Vgl. Augustinus, De vera religione 44, 82.
3 Vgl. Augustinus, De civitate Dei XIX, 12, 2.
4 Altes Ambrosianisches Brevier, Sabbato ad Vesperas, oratio secunda.
5 Augustinus, Enarrationes in psalmos 57, 1.
6 Augustinus, Sermones 88, 10, 9.
7 Augustinus, De praedestinatione sanctorum 2, 5.
8 Augustinus, Enchiridion de fide, spe et charitate 2, 7.
9 I. Ökumenisches Vatikanisches Konzil, dogmatische Konstitution Dei Filius, Kap. III,De fide (Denzinger 3010).
10 Vgl. N.C. Hvidt, Das Christentum trägt ständig eine Hoffnungsstruktur in sich, 30Tage, 1. Januar 1999, S. 65-75.
11 Vgl. Ch. Péguy, Note conjointe sur M. Descartes et la philosophie cartésienne, in Oeuvres en prose complètes, Gallimard, Paris 1992, S. 1449-1450
12 Vgl. Denzinger 225.
13 Denzinger 227.
14 Ibid.
15 Denzinger 241.
16 Konzil von Trient, Dekret De iustificatione, Kap. XI, De observatione mandatorum, deque illius necessitate et possibilitate (Denzinger 1536-1539).


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