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BEILAGE
Aus Nr. 12 - 2007

Das Herz und die Gnade bei Augustinus. Unterscheidung und Entsprechung



von Pietro Calogero


Pietro Calogero.

Pietro Calogero.

Dass man mich eingeladen hat, heute Abend über Augustinus zu sprechen, ist für mich ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung. Denn das werde ich ja nicht nur in Anwesenheit so namhafter Persönlichkeiten tun wie Seiner Eminenz Kardinal Scola, Patriarch von Venedig, dem Rector magnificus unserer Universität, Prof. Vincenzo Milanesi, und Mons. Giacomo Tantardini, der ja inzwischen zum unersetzlichen Führer jeder unserer Reisen ins augustinische Universum geworden ist, sondern sogar gemeinsam mit ihnen. Herzlichen Dank auch den Organisatoren, vor allem den vielen jungen Menschen, die sich von Begegnungen wie dieser dazu anspornen lassen, mit noch größerem Engagement am Bau ihrer Zukunft zu arbeiten.

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Das Thema, das ich heute ausführen möchte, ist sozusagen die Fortsetzung meiner beiden früheren Vorträge hier in dieser Aula, bei denen es um die Analyse der konstitutiven Elemente der Augustin’schen Vorstellung von irdischer Gerechtigkeit ging.
Bei der zweiten dieser Begegnungen – im März vergangenen Jahres – kam ich zu dem Schluss, wie außergewöhnlich modern doch diese Vorstellung des Augustinus ist. Sie basiert nämlich auf der Anerkennung des „ius suum unicuique tribuendum“, also auf dem subjektiven Recht, das einem jeden zugestanden werden muss. Und zwar nicht durch einen unilateralen Akt des Willens (voluntas oder auctoritas) des Staates – wie das in der klassischen römischen Vorstellung von Gerechtigkeit der Fall ist, die uns der Jurist Ulpianus überliefert hat –, sondern durch den Willen nach einem Pakt oder einer rechtlichen Einvernahme (iuris consensus), die für die Individuen und den Staat bindend ist und deren Anerkennung und Respektierung der Staat auch gewaltsam auferlegen kann.
Dass die Rechte auf einem Pakt gründen, wie schon der Begriff iuris consensus sagt, ist für Augustinus nicht nur ein konstitutives Element des Gerechtigkeitsbegriffes, sondern auch des Begriffes von Volk und Staat. Daraus ergeben sich zwei wichtige Elemente. Erstens: wenn der Gründungspakt der Rechte fehlt, gibt es nicht nur keine Gerechtigkeit, sondern auch kein Volk als Pluralität von Personen, die dieselben vom Staat anerkannten und garantierten Rechte haben. Und auch den Staat gibt es dann nicht, weil dieser nur existiert, wenn er auf der Anerkennung der individuellen Rechte und folglich auf der Gerechtigkeit basiert.
Der Grundgedanke, der diese drei Elemente wie ein starker gedanklicher Klebstoff zusammen hält, ist überraschend fruchtbar – immerhin wurde er auch in den nachfolgenden Jahrhunderten immer wieder vertieft, besonders vom Denken der Aufklärung und des modernen Konstitutionalismus.
Zu sagen, dass der Staat zum Scheitern verurteilt ist, wenn die Politik die Personenrechte nicht anerkennt – wenn also der iuris consensus daraus ausgeschlossen wird –, bedeutet nämlich nur eines: dass diese Rechte unantastbar und unverletzlich sind, dass sie der Staat also nicht leugnen kann, wenn er nicht den Systembruch auslösen will. Und genau dazu würde es laut den Verfassungen der liberalen Regime Europas des 19. und 20. Jahrhunderts (einschließlich der derzeit gültigen Verfassung Italiens) kommen, sobald die Normen, die die Freiheit und die grundlegenden Personenrechte proklamieren, Gegenstand einer Revision würden.

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Aber kommen wir nun zu unserem heutigen Thema: Ich kann feststellen, dass die Modernität in den Werken des Augustinus immer dann besonders deutlich wird, wenn er Probleme anspricht, die die Gerechtigkeit seiner Zeit betreffen: Das Fällen von Urteilen z.B., die an den Richter gestellten moralischen und kulturellen Anforderungen, das Auferlegen von Strafen und die Behandlung der Straftäter, die Todesstrafe und die Folter. In den Mittelpunkt dieser Probleme stellt er stets die Person mit ihrer Würde (die sie als Abbild Gottes trotz aller begangenen Fehler und Verbrechen hat) und mit der absoluten Notwendigkeit der Besserung bereits im Weltstaat, also noch bevor sich die zeitliche Dauer ihrer Existenz ihrem Ende zuneigt.
Angesichts der unausweichlichen Verderbtheit der menschlichen Gesellschaft kommt Augustinus zu dem Schluss, dass Prozesse, Richter und Strafen nicht nur notwendig sind, um Ordnung und Frieden in der Gesellschaft zu bewahren, sondern auch, um die Besserung des Straftäters zu gewährleisten.
Unter diesem letzten Aspekt empfindet er es als grausam („disciplinam qui negat crudelis est“), den Schuldigen ungestraft zu lassen, weil das dem, der einen Fehler begangen hat, die Möglichkeit nimmt, sich zu bessern. In ähnlicher Weise ist es für ihn auch kein wahrer Akt der Barmherzigkeit, einen Straftäter zu begünstigen, weil er arm ist, da die Straffreiheit den bedauernswerten Häftling in seiner Bosheit gefangen hält.
Unter ersterem Aspekt schien ihm das Ziel der Bewahrung der Gesellschaft derart grundlegend, dass selbst Justizfehler und Gesetzesmissbrauch keine Schmälerung der Arbeit der Richter oder Abwertung der Rechtsorganisation der menschlichen Gesellschaft rechtfertigten.
Aber kommen wir nun zu unserem heutigen Thema: Ich kann feststellen, dass die Modernität in den Werken des Augustinus immer dann besonders deutlich wird, wenn er Probleme anspricht, die die Gerechtigkeit seiner Zeit betreffen: Das Fällen von Urteilen z.B., die an den Richter gestellten moralischen und kulturellen Anforderungen, das Auferlegen von Strafen und die Behandlung der Straftäter, die Todesstrafe und die Folter.
In der unverrückbaren Ordnung der Dinge liegt es, dass das menschliche Urteil relativ, ja manchmal sogar falsch ist: aber das rechtfertigt noch lange keinen Widerspruch dem Richter gegenüber und nimmt auch seiner Arbeit nicht ihre Legitimität. Einer Arbeit, die der Mensch und die Gesellschaft brauchen für ihre eigene Besserung (der Mensch) und für ihre Bewahrung (die Gesellschaft). Wenn es also zu solchen Fällen kommen sollte, muss man nur nach Mitteln suchen, mit denen die Qualität der Richter verbessert und eine Garantie für die Prozesse gegeben werden kann, damit weniger Raum für Missbrauch und Irrtum bleibt.
Zum Thema Strafe meint Augustinus, dass diese zwar ein reprehenderes iniquitatem nisi videndo iustitiam / Du kannst die Bosheit nur dann korrigieren, wenn du der Gerechtigkeit folgst.“ Und weiter: „Reprehensor iniquitatis esse non potest qui non cernit iustitiam, cui comparatam reprehendat iniquitatem / Wer nicht die Gerechtigkeit klar zu erkennen und sie auf die Züchtigung der Bosheit anzuwenden versteht, kann die Bosheit nicht züchtigen.“
Gerechte und menschliche Urteile zu fällen, ist Pflicht des Richters, und dafür muss gegeben sein:
• dass der Richter in der Lage ist, in aller Demut zunächst einmal über sich selbst zu richten, bevor er über andere richtet, immer treu seinem Gewissen zu folgen: ja, laut Augustinus ist die Fähigkeit, über sich selbst zu richten und dem eigenen Gewissen treu zu bleiben, die Grundbedingung der Redlichkeit eines jeden menschlichen Urteils;
• dass er über gesunden Menschenverstand verfügt (ratio);
• dass er Rechtswissen hat (eruditio);
• dass er unabhängig ist (libertas);
• und dass er sich schließlich auch der ihm von der Gesellschaft anvertrauten Aufgabe bewusst ist, die Augustinus in der Ermahnung zum Ausdruck bringt: „Peccata persequatur, non peccantem / er [der Richter] muss die Sünden verfolgen, nicht die Sünder!“.
Und damit wären wir beim Kern der Augustin’schen Vorstellung von Urteil und Strafe angelangt, der sich dem Menschen nicht nur mit nie gekannter Kraft eröffnet, sondern alles der Notwendigkeit seiner [des Menschen] Erlösung im Leben unterordnet, was die absolute Notwendigkeit der gerechten Bestrafung nicht ausschließt, sondern – wie wir gesehen haben – sogar impliziert.
Die Humanisierung der Strafe und des Urteils ist meiner Meinung nach eine der bedeutendsten Botschaften, die die christianisierte Welt des Altertums im Laufe der Jahrhunderte in Bewusstsein und Kultur der Gesellschaft einfließen ließ. Ein besonderes Verdienst kommt hier dem Denken der Aufklärung im 18. Jahrhundert zu. Besagte Botschaft wurde nicht nur zum unantastbaren Erbe der Bürgerrechtslehre, sondern auch zur Grundlage feierlicher Erklärungen in internationalen Konventionen und so mancher liberal geprägter Verfassung – beispielsweise der derzeit gültigen republikanischen Verfassung Italiens.
Augustinus hat dafür eine rationale Erklärung parat – die nämlich, dass die Verurteilung nicht den Sünder vernichten, sondern die Sünde auslöschen soll. Ersteres ist nämlich Werk Gottes, zweites das des Menschen. Daraus folgt, dass die Verurteilung bewirken muss, dass „pereat quod fecit homo, liberetur quod fecit Deus / das stirbt, was der Mensch gemacht hat, und befreit – oder gerettet – wird, was Gott gemacht hat.“
Er geht sogar soweit, an den Geist der christlichen Nächstenliebe appellierend, zu sagen, dass „man die Schuld auslöschen und den Menschen lieben soll / diligite homines, interficite errores“. „Non est igitur,“ erklärt er, „iniquitatis sed potius humanitatis societate devinctus, qui propterea est criminis persecutor, ut sit hominis liberator / Keine Bosheit ist es, wenn man die Sünde verfolgt mit dem Zweck, den Menschen zu befreien [retten], sondern vielmehr ein Vorbild an Menschlichkeit.“

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Aus dieser Betrachtungsweise ergeben sich zwei überaus wichtige Folgen, die sich Augustinus zueigen machte und auch öffentlich vertrat – was ihm nicht nur scharfe Kritik einbrachte, sondern auch Misstrauen und Feindseligkeit.
Die erste Folge ist, dass die Todesstrafe inkompatibel ist mit dem von der menschlichen Gerechtigkeit verfolgten Ziel.
Wenn es nämlich deren Zweck ist, den Straftäter zu bestrafen, damit sich dieser bessern kann, und wenn diese Besserung nur in diesem Leben möglich ist, dann nimmt die Todesstrafe dem Schuldigen diese Möglichkeit und gibt ihn unausweichlich der ewigen Verdammnis preis. Die Todesstrafe ist folglich nicht nur illegitim, sondern auch boshaft, da sie die korrigierende Rolle hinweg nimmt, die die Strafe doch stets besitzen soll.
Seine Ablehnung der Todesstrafe betont Augustinus aber nicht nur in Epistola 153, sondern auch in Kapitel 8 von Sermone XIII, und zwar mit folgendem leidenschaftlichen Appell: „Noli ergo usque ad mortem, ne cum persequeris peccatum, perdas hominem / Lass’ nicht zu, dass die Verurteilung des Menschen zum Tode führt, damit es nicht passiert, dass Du den Menschen zugrunde gehen lässt, um seine Sünde zu bestrafen“; „Noli usque ad mortem, ut sit quem poeniteat: homo non necetur, ut sit qui emendetur / Keine Strafe bis zum Tod [...]: der Mensch darf nicht getötet werden, damit er sich bessern kann.“
Die zweite Folge des von Augustinus herausgestellten Aspekts einer humanen, Besserung bewirkenden Strafe ist die strikte Ablehnung der Folter. Jener physischen und psychischen Pein also, der man Personen „ad eruendam veritatem“ gewollt aussetzt, um im Rahmen von Ermittlungen über wahre oder vermeintliche Straftaten Informationen oder Geständnisse zu erpressen.
An besagter Stelle klärt Augustinus auch, dass der Tod des Sünders die Besserung des Schuldigen sinnlos macht und den Zweck auslöscht, den die menschliche Gerechtigkeit verfolgen muss.
Wie bei einem Arzt etwa, der beschließt, seinen Patienten zu töten, um ihn zu heilen. Der Zweck der Heilkunst aber ist die Gesundheit des Kranken, und nicht sein Tod – und ebenso ist der Zweck unseres menschlichen Gerichts auch nicht das Ende des Menschen, sondern das Ende der Sünde.
Die zweite Folge des von Augustinus herausgestellten Aspekts einer humanen, Besserung bewirkenden Strafe ist die strikte Ablehnung der Folter. Jener physischen und psychischen Pein also, der man Personen „ad eruendam veritatem“ gewollt aussetzt, um im Rahmen von Ermittlungen über wahre oder vermeintliche Straftaten Informationen oder Geständnisse zu erpressen. Solche Handlungen gegen die Menschenwürde und gegen die Annahme der Unschuld des Angeklagten waren fester Bestandteil des Strafrechts im Altertum und konnten ein derartiges Ausmaß an Grausamkeit annehmen, „was man mit einem Strom von Tränen beweinen musste / rigandum… fontibus lacrimarum“. Für Augustinus trugen diese Handlungen den infamen Makel der Unmenschlichkeit und des Verstoßes gegen die Gerechtigkeit.
Neben Pietro Verri (Osservazioni sulla tortura, 1777) zitiert auch der deutsche Philosoph und Jurist Christian Thomasius, ein anderer bekannter Vertreter der Aufklärungsepoche (Dissertatio de tortura, 1705) das De civitate Dei des Augustinus. Jenen Satz nämlich, den er (19. Buch, 6. Kapitel) mit dem kummervollen Betrübnis des Menschen und Christen sagt über das „torquere… accusatum / das Quälen [von Leib und Seele] des Angeklagten“, von dem man zwar nicht weiß, ob er schuldig oder unschuldig ist, den man aber dennoch wegen eines „zweifelhaften Verbrechens“ einer „ganz unzweifelhaften Pein“ aussetzt. Und das alles nur, weil man jenen Raum des Zweifels, der einen Schuldspruch unmöglich macht, nicht mit Beweisen füllen kann. „Cum quaeritur utrum sit innocens cruciatur, et innocens luit pro incerto scelere certissimas poenas, non quia illud commisisse detegitur, sed quia commisisse nescitur, ac per hoc ignorantia iudicis plerumque est calamitas innocentis.“
Wie notwendig diese Gedanken des Augustinus auch für die Gewissen und den Weg unserer Zeitgenossen sind, zeigt die erst jüngst entbrannte internationale Debatte, auf die wir hier nur kurz hinweisen können. Entbrannt ist sie einerseits um die Aufschiebung aller Hinrichtungen im Hinblick auf deren definitive Abschaffung in den 192 UNO-Mitgliedsländern, die vor zwei Wochen mit überwältigender Mehrheit von der Menschenrechtskommission dieser Organisation verabschiedet wurde – auch dank der lobenswerten Initiative Italiens und der anderen Länder der Europäischen Union. Andererseits um die Legalisierung der Folter, die in fast allen Ländern der internationalen Gemeinschaft seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts formal verboten ist und die nach den Ereignissen des 11. September im Rahmen der extremen Verteidigung gegen den vom Terrorismus ausgelösten asymmetrischen Krieg in den USA wieder auftritt.

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Lassen Sie mich abschließend folgendes sagen.
Alle Elemente der Modernität, die wir bisher in der theoretischen Vorstellung und der praktischen Anwendung der irdischen Gerechtigkeit bei Augustinus erkennen konnten, haben den Menschen zum Gravitationszentrum, verstanden als Innerlichkeit; Bewusstsein seiner selbst; Abbild Gottes; Treffpunkt von Endlichem und Unendlichem; Immanenz und Transzendenz; Ort, an dem die Wahrheit wohnt, verstanden als Synthese aller positiven Werte, die der Wille und der Intellekt darin erkennen können.
Das Grundproblem unserer Gesellschaft ist heute die Krise der menschlichen Werte in fast allen Bereichen (dem der Moral, des Rechts, der Politik, der Wirtschaft, usw.). Und gerade deshalb kann der Appell des Augustinus vielleicht für den Menschen unserer Zeit einer der sichersten und wirksamsten Rettungsanker sein. Dieser Appell, von äußerlichen und flüchtigen Dingen abzulassen, uns wieder auf uns selbst zu besinnen, damit wir die Wahrheit wieder finden können, die in uns wohnt. Damit wir uns alle guten, authentischen und nicht transeunten Dinge wieder aneignen können, die wir größtenteils verloren haben und die doch tief in unserem Bewusstsein immer noch vorhanden sind. Mit anderen Worten: der Appell, der in dem berühmten Satz aus Kapitel 39 von De vera religione zum Ausdruck kommt: „Noli foras ire / Geh’ nicht hinaus, / in te ipsum redi, / kehr’ wieder in Dich selbst zurück, / in interiore homine habitat veritas / in Dir wohnt die Wahrheit.“
Wenn der Appell wenigstens in seinen wesentlichsten Punkten angenommen wird, und wenn sich ein jeder von uns sofort, Tag für Tag. für den Dialog engagiert; wenn er bereit ist, dafür zu kämpfen und zu leiden, in einem ehrlichen Dialog mit unserem Innersten, auf der Suche nach den dort vorhandenen Grundwerten, die – wohlgemerkt – nicht anders sind als die unserer Mitmenschen (von der Achtung der Freiheit, des Lebens und der Würde der Person – einer jeden Person – bis zur Anerkennung der Bedürfnisse der Armen, Ausgegrenzten und Wehrlosen und zur Übung der Solidarität, der Liebe, der Toleranz und der Annahme), dann muss das Leben eines jeden von uns und der gesamten Gesellschaft ganz einfach besser sein und voller Gewissheiten für den Frieden und die Zukunft.


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