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DER BISCHOFSSYNODE ENTGEGEN
Aus Nr. 06/07 - 2008

Wort Gottes: vergossenes Blut, das spricht


„Wenn man sagt: Wort Gottes, kann diese Formel ein intellektuelles Konzept vermitteln. Wenn man aber sagt, dass es Blut ist, das spricht, versteht sich, dass es hier nicht um eine Rede, einen Gedankengang geht.“ Interview mit dem Jesuiten Albert Kardinal Vanhoye.


Interview mit Kardinal Albert Vanhoye von Gianni Valente


Kardinal Albert Vanhoye.

Kardinal Albert Vanhoye.

Die Bischofssynode über das Wort Gottes rückt näher. Welche Erwartungen hat ein so großer Bibelforscher wie Sie?
ALBERT VANHOYE: Vor 15 Jahren, als ich noch Präsident der Päpstlichen Bibelkommission war, befassten wir uns mit der Auslegung der Bibel in der Kirche. Wir nahmen alle Methoden der Annäherung an den Bibel-Text unter die Lupe. Eine Arbeit, die aber allein unter dem Gesichtspunkt der Exegese ausgeführt wurde.
Die Synode hat eine andere Perspektive. Sie wird Raum für viele Reflexionen lassen, beispielsweise darüber, wie das Leben und die Sendung der Kirche im Wort Gottes Stütze und Speise finden.
Was kann eine Synode dieser Art Ihrer Meinung nach der Kirche in ihrer Gesamtheit vorschlagen?
VANHOYE: Das instrumentum laboris besagt das sehr deutlich: das Wort Gottes darf man nicht mit der Bibel identifizieren. Zu Zeiten des Paulus war vom Neuen Testament noch nichts geschrieben. Aber Paulus war sich dessen bewusst, das Wort Gottes zu predigen, und er lobte die Thessalonicher, seine Verkündigung nicht als Menschenwort empfangen, sondern als Gottes Wort angenommen zu haben, weshalb es nun in ihnen, den Gläubigen wirksam sei.
Das Wort Gottes ist etwas Lebendiges, die Bibel ein geschriebener Text. Ein Text zwar, dem eine besondere Bedeutung zukommt, weil es sich um einen inspirierten Text handelt. Unser Glaube aber ist keine Religion des Buches, keine Bibel-Religion. Unser Glaube ist eine Religion des lebendigen Wortes Gottes; des Wortes, das angenommen wird, uns in persönliche Beziehung zu Jesus Christus stellt und durch ihn wiederum zu Gott, dem Vater.
„Jesus Christus ist das letzte und definitive Wort Gottes“, heißt es im ersten Teil des instrumentum laboris der Synode. Da kommen einem unweigerlich gewisse Aussagen Ihres Mitbruders Henri de Lubac in den Sinn...
VANHOYE: De Lubac hat geschrieben, dass Gott in Jesus Christus sein Wort kurz gemacht, es gekürzt hat. Das Wort hat sich kurz gemacht. Die Bibel ist keine Sammlung philosophisch-theologischer Traktate, keine Methode, die auf didaktisch-symbolischem Weg zur Erlangung ewiger Religionswahrheiten führt. Die Bibel erzählt von der Initiative Gottes, in unserer Geschichte mit den Menschen in Kontakt zu treten. Daher ist die Menschwerdung Christi das „Resümee“ des ganzen Wortes Gottes. Was andere inspirierte Worte nicht unnötig macht, sondern ihren präzisen Sinn definiert. Das Wort des Alten Testamentes erlangt seinen präzisen Sinn dank seiner Beziehung zu Jesus Christus. So lesen wir das Alte Testament ja auch erleuchtet vom Kommen Christi und von dem, was er gewirkt hat. Wie sagt Jesus im Johannes-Evangelium: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab.“ Das sieht man bei der Erscheinung vor den Jüngern in Emmaus: Jesus erklärt alles, was im Alten Testament seine Person und sein Geheimnis betrifft. Interessant ist auch der Brief an die Hebräer, wo die Rede ist vom „Blut, das mächtiger ruft als das Blut Abels.“ Das Wort Gottes ist vergossenes Blut geworden. Und spricht von einem Liebesopfer, das alle Hindernisse überwindet, die sich der Liebe in den Weg stellen. Wenn man sagt „Wort Gottes“, kann diese Formel ein intellektuelles Konzept vermitteln. Wenn man aber sagt, dass es Blut ist, das spricht, versteht sich, dass es hier nicht um eine Rede, einen Gedankengang geht.
Augustinus sagt: „Die Schrift kommt vom Herrn. Aber sie hat kein menschliches Interesse, einzig, dass man darin Christus erkennt.“ Es hat aber vielmehr den Anschein, dass gerade das Lesen der Schrift die Quelle für den Anfang des Glaubens ist. Wird man Christ, wenn man die Bibel liest?
VANHOYE: Es kann durchaus sein, dass die Bibellektüre zum Auslöser für den Glauben wird. Ich denke dabei an die Kirche in Korea, wohin der christliche Glaube durch einige an der Bibel interessierte Intellektuelle gekommen war, die dann das Geschenk des Glaubens erhalten hatten, ohne dass das Wirken von Missionaren notwendig gewesen wäre. Diese Menschen haben den christlichen Glauben durch den Kontakt mit der Heiligen Schrift kennen gelernt und sich dann Missionare kommen lassen, um ihre Kirche aufzubauen. Aber es ist klar, dass am Anfang des Glaubenslebens weder die Lektüre der Bibel noch das Werk der Missionare steht, sondern das Wirken des Geistes, der sich alles zunutze machen kann: die Missionare, das Lesen des Wortes Gottes, und auch die Werkzeuge und Gelegenheiten, die am unwahrscheinlichsten zu sein scheinen. Normalerweise ist es das Zeugnis des Lebens, das zum Glauben führt. Dann ist da noch das Bedürfnis nach dem lebendigen Wort als Erklärung dafür, dass Er durch das Zeugnis zur Anziehungskraft wird.
Jene, die die Bedeutung des Wortes Gottes herausstellen, scheinen oft alles davon abhängig zu machen, wie kompetent man beim Umgang mit der Heiligen Schrift ist. So als müssten alle Gläubigen Exegeten, Bibelforscher sein.
VANHOYE: Die Kirche verfolgt sicher nicht den Zweck, aus jedem Christen einen Wissenschaftler des Wortes zu machen. Es muss aber auch Leute geben, die sich damit beschäftigen, weil die Bibel auf eine Weise studiert werden sollte, die auf dem kulturellen Stand der jeweiligen Zeit ist. Was sich allerdings auf die nächste Synode positiv auswirken würde - und das hoffentlich auch tut -, ist der persönliche Kontakt mit biblischen Texten. Und dieser Kontakt sollte so objektiv wie möglich sein und nicht der Phantasie des Einzelnen überlassen bleiben.
Ihr beruflicher Werdegang fällt in die Zeit des „Ressourcements“, der Rückkehr zu den biblisch-patristischen Quellen. Jene Jahre also, in denen auch in katholischen Kreisen eine Erneuerungsphase eingeleitet wurde, die zum II. Vatikanischen Konzil führte. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
VANHOYE: Für mich persönlich wurde der Kontakt mit der Bibel durch den Umstand erleichtert, dass ich als junger Ordensmann Altgriechisch unterrichtet habe. Das hat mich mit dem Neuen Testament in Berührung gebracht. Ich habe mich sofort für das Johannes-Evangelium begeistert, das die Person Christi offenbart. Das war die Erfahrung, die einschneidend für mich war – mehr als der Kontakt zu anderen Exegeten. Damals gab es noch eine gewisse Ferne vom Bibeltext, aus verschiedenen Gründen. Man riet insbesondere von der Lektüre des Alten Testaments ab, weil sich darin sehr realistische Erzählungen finden, die bisweilen skandalös sind. Heute ist der Kontakt zur Bibel viel einfacher. Es gibt Ausgaben, die für Leser gemacht sind, die keine besonderen Kenntnisse haben. Werkzeuge, die helfen, sich Zugang zum Text zu verschaffen. Und dann gibt es auch noch Bibel-Gruppen, den ein oder anderen, der Hebräisch lernt, um einen direkteren Kontakt zum Originaltext zu haben… Kurzum: wir haben heute eine ganz andere Situation.
Details der Apsisfresken der Kirche San Silvestro in Tivoli, Rom. Unten, auf dem mittleren Tambur ist das menschgewordene Wort im Arm der Jungfrau Maria zu sehen; oben kann man das Lamm mit Nimbus mit Kreuz erkennen, aus dessen Seite Blut fließt, Sinnbild für das Kreuzesopfer; links, Johannes der Täufer, der auf das Lamm zeigt; rechts, Johannes der Evangelist mit der Schriftrolle mit den Anfangsworten des Prologs seines Evangeliums.

Details der Apsisfresken der Kirche San Silvestro in Tivoli, Rom. Unten, auf dem mittleren Tambur ist das menschgewordene Wort im Arm der Jungfrau Maria zu sehen; oben kann man das Lamm mit Nimbus mit Kreuz erkennen, aus dessen Seite Blut fließt, Sinnbild für das Kreuzesopfer; links, Johannes der Täufer, der auf das Lamm zeigt; rechts, Johannes der Evangelist mit der Schriftrolle mit den Anfangsworten des Prologs seines Evangeliums.

Sie waren Präsident der Bibelkommission in den Jahren, in denen ein wichtiges Dokument über die Auslegung der Bibel im Gebrauch der historisch-kritischen Methode manchmal Tendenzen herauskristallisieren, die den Text in einer gewissen Weise „steril“ werden lassen.
Wie meinen Sie das?
VANHOYE: 1988 hielt Kardinal Ratzinger in New York einen Vortrag, in dem er gewisse Theorien Bultmanns und Dibelius‘ kritisierte – ja die historisch-kritische Methode allgemein. Dann nämlich, wenn sie den Text in einen goldenen Käfig sperren will, ihn verflacht, ein reines Produkt der Bedingungen und Umstände der jeweiligen Zeit aus ihm macht. Das ist es, was ich mit „steril werden lassen“ meine. Dasselbe kann auch mit dem Studium der Quellen oder genauer gesagt mit den so genannten „Schichten“ passieren. Es hat den Anschein, dass die Exegese für einige Gelehrte darin besteht, verschiedene aufeinander folgende Schichten zu unterscheiden: sie nehmen zwei Verse her und ordnen sie der entsprechenden Quelle zu, dann nehmen sie zwei andere und machen wieder genau dasselbe, usw. Bei einigen Texten kann das nützlich sein. Manchmal aber bringt es keinen lebendigen Kontakt zum Text mit sich, sondern ist wie eine Art Sezieren, wie man das bei Leichen tut. Jeder Kontakt mit dem in dem Text pulsierenden Leben geht dabei verloren. Man kann also sagen, dass die historisch-kritische Methode zwar notwendig ist, aber nicht im allzu engen Sinn verstanden werden darf. Wenn wir einen Text vor uns haben, müssen wir ihn als das sehen und interpretieren, was er ist.
Hat die historisch-kritische Methode vielleicht gerade wegen dieser latenten „Aridität“ inzwischen auch bei den Gelehrten abgepunktet?
VANHOYE: Die Deutschen haben die Tendenz, alles von einem historischen Standpunkt aus zu betrachten ... Um die Wahrheit zu sagen, hat sich die historisch-kritische Methode in den letzten Jahren in eine Richtung entwickelt, die eigentlich ihrem Hauptanliegen zuwiderläuft. Die letzte Etappe ist die Wirkungsgeschichte. Man beschränkt sich nicht länger auf den Text, der im Moment seiner Entstehung betrachtet wird, sondern analysiert ihn auch im Zusammenhang mit der Auswirkung, die dieser Text gehabt hat. Z.B. die Beziehung, die zwischen einigen Texten des Paulus – mit ihrer Betonung der vom Glauben kommenden Rechtfertigung – und dem Aufkommen der Reformation besteht. Andere Texte wieder – beispielsweise das Hohelied – haben sich auf das mystische und geistliche Leben ausgewirkt. Das zeigt, dass ein Text durchaus die Fähigkeit hat, zum Denken anzuregen, Emotionen auszulösen. Im Licht dieser Auswirkungen wird auch der Text besser verstanden.
Die Gegner der historisch-kritischen Methode heben oft den spirituellen Wert der Schrift hervor. Läuft man da in dem derzeitigen kulturellen Kontext nicht Gefahr, zu weit zu gehen und aus der Bibel das große Symbol des religiösen Weges der Menschheit zu machen?
VANHOYE: Auch instrumentum laboris berichtet von der Entstehung „gnostischer und esoterischer Formen der Auslegung der Heiligen Schrift sowie unabhängiger religiöser Gruppen innerhalb der Katholischen Kirche“… Es besteht die Gefahr, den Text als Vorwand für Ideen, Reflexionen, Emotionen, Gedanken zu nehmen, ohne den gebotenen Respekt vor dem Faktum der Schrift. Kardinal Martini sagt immer, dass jeder lectio divina eine sorgfältige, präzise Lektüre vorausgehen muss: ich lese den Text und halte mich an den Text, gehe nicht darüber hinaus. Dieser Respekt vor dem Text ist die einzige Grundlage einer jeden Meditation, jeder Betrachtung, aller nachfolgenden praktischen Anwendungen. Das Wort Gottes will als autoritäres Wort angenommen werden, das uns etwas bringt, es ist kein einfacher Vorwand für jede mögliche Art von Abweichungen.
Im Kielwasser der von Dan Brown verfassten Bestseller haben sich einige populärwissenschaftliche Werke wieder mit der Beziehung zwischen „historischem Jesus“ und „Jesus des Glaubens“ befasst. Macht es Ihrer Meinung nach Sinn, sich an einer „Rekonstruktion“ des historischen Jesus zu versuchen, ohne dabei in Betracht zu ziehen, wie sich Jesus in den Evangelien darstellt?
VANHOYE: Erst vor ein paar Tagen bin ich wieder auf ein Buch über Jesus gestoßen, in dem der spanische Verfasser erklärt, sich genau an wissenschaftliche Daten und Schlussfolgerungen zu halten, alles zu vermeiden, was mit der übernatürlichen Dimensionen zu tun hat. Wenn jemand das Phänomen Jesus allein vom geschichtswissenschaftlichen Standpunkt her analysieren will, kann er das durchaus tun. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist es immer möglich, innerhalb der Grenzen einer sehr eingeschränkten Perspektive zu arbeiten. Man muss sich dann aber von vornherein im Klaren darüber sein, dass auch die Schlussfolgerungen einseitig und eingeschränkt sein werden, weil das Phänomen, der Fakt, nicht als das erkannt wird, was er ist. Ein derartiger Ansatz darf niemals den Anspruch stellen festzustellen, ob Jesus der Sohn Gottes ist oder nicht.
Die Bibel der Tradition gemäß zu lesen, lässt erkennen, dass einige Dinge, die widersprüchlich scheinen mögen, in Wahrheit komplementär sind. Der Jakobusbrief z. B. scheint in Sachen Rechtfertigung im Gegensatz zu den Paulusbriefen zu stehen. Wenn wir die Texte aber gut lesen, der Tradition gemäß, dann erkennen wir, dass da gar kein Widerspruch ist, dass auch für Jakobus die Werke, die rechtfertigen, Werk des Glaubens sind. Die Bibel respektvoll innerhalb des Rahmens der Tradition zu lesen, hilft, diese Sachlichkeit, diese Weisheit zu erlangen.
Die Kirche hat die Historizität der Evangelien immer anerkannt, und die Katholiken haben den verschiedenen Indizien, die das bestätigen können, Wert beigemessen. Manchmal auch in naiver oder ideologischer Weise...
VANHOYE: In Frankreich habe ich meinen Studenten erklärt, dass uns die Evangelien keine Fotos, sondern Gemälde liefern. Ein Foto ist exakter. Aber es kann keinen allgemeinen Geist ausdrücken, wie es ein Gemälde tut. Die Bibel selbst lehrt uns, nicht am Buchstaben zu kleben: in wichtigen Fragen gibt sie uns verschiedene Versionen. Ein beeindruckendes Beispiel ist das Wort Jesu über den Kelch. Matthäus und Markus zufolge hat Jesus den Kelch genommen und gesagt: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“. Laut Lukas und Paulus hat er dagegen gesagt: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ Es sind verschiedene Formeln, wenn auch mit gemeinsamen Elementen. A fortiori gibt es bei vielen weniger wichtigen Dingen Unterschiede zwischen den Evangelien, die mit der Ausrichtung des jeweiligen Evangeliums zu tun haben. Und deshalb ist es auch falsch, dem einen oder anderen Evangelium Elemente entnehmen zu wollen, in der Meinung, eine „treuere“, vollständigere Erzählung zu schaffen. Jedes Evangelium hat seine Ausrichtung. Das des Matthäus ist ein kirchliches Evangelium, das große Reden Jesu bietet. Das des Markus ist das Evangelium des Ereignisses, des Impakts, den das Ereignis hat. Das Lukas-Evangelium ist das des Jüngers, der alles in persönlicher Beziehung zu Jesus sieht… Ein jedes Evangelium hat seine Inspiration, mit vielen Unterschieden in den Details. Es ist ein Reichtum, aber es ist klar, dass es uns von einem konkreten Gesichtspunkt in Verlegenheit bringt, wenn wir Schlachten führen, um mit über jeden Zweifel erhabener Sicherheit zu demonstrieren, dass alles, was in den Evangelien erzählt wird, historisch unumstößlich ist.
Beim Konzil, genau genommen in der Debatte um die Quellen der Offenbarung – einer Debatte, die zur Abfassung der Konzilskonstitution Dei Verbum führte – entbrannte eine heftige Diskussion über die Beziehung zwischen Schrift und Tradition. Was ist von diesen disputationes geblieben?
VANHOYE: Die Betonung liegt heute mehr auf der patristischen Exegese. Die Jerusalemer École biblique trägt sich mit dem Gedanken eines Großprojekts: einer Bibel mit wissenschaftlichen und patristischen Kommentaren… Daran sieht man, dass die Leute den rein wissenschaftlichen Ansatz als unzulänglich empfinden und glauben, dass man sich, wenn man die Bibel in ihrem ganzen Reichtum erfassen will, in die Strömung der Tradition vertiefen muss. Die vor allem von Einseitigkeit und einer falschen Dialektik befreit, wie jener, die wörtlichen und spirituellen Sinn einander gegenüberstellt. Die Bibel der Tradition gemäß zu lesen, lässt erkennen, dass einige Dinge, die widersprüchlich scheinen mögen, in Wahrheit komplementär sind. Der Jakobusbrief z.B. scheint in Sachen Rechtfertigung im Gegensatz zu den Paulusbriefen zu stehen. Wenn wir die Texte aber gut lesen, der Tradition gemäß, dann erkennen wir, dass da gar kein Widerspruch ist, dass auch für Jakobus die Werke, die rechtfertigen, Werk des Glaubens sind. Die Bibel respektvoll innerhalb des Rahmens der Tradition zu lesen, hilft, diese Sachlichkeit, diese Weisheit zu erlangen.
In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass man gut daran tut, der Versuchung zu widerstehen, auf den Bibeltext Schlußfolgerungen „abzustützen“, zu denen die Tradition zu einem späteren Zeitpunkt gelangt ist. Was genau haben Sie damit gemeint?
VANHOYE: Man muss immer unterscheiden. Das Wort Gottes ist lebendig, es befindet sich im Innern einer Strömung des Lebens. Aber es ist immer nützlich, zwischen dem zu unterscheiden, was von Anfang an im Text enthalten ist, und dem, was von der Überlieferung rechtmäßig hinzugefügt wurde. Nehmen wir das Thema des Priesteramtes. Im Neuen Testament wird kein Apostel „Priester“ genannt. Als Priester werden nur die levitischen oder heidnischen Priester bezeichnet. Schon ab dem 2. Jahrhundert hat die Kirche die Bischöfe jedoch mit dem Titel sacerdos bedacht. Das ist nicht direkt auf die Bibel gegründet, entspricht aber einer neuen Vorstellung vom Priesteramt, die in den Paulusbriefen zum Ausdruck kommt. Im Römerbrief definiert Paulus seinen Dienst auf eine Weise, die einer neuen Vorstellung vom Priesteramt entspricht. Er sagt, dass sein Amt das heilige Werk der Verkündigung ist, damit die Heiden ein Gott gefälliges, im Heiligen Geist geheiligtes Opfer werden. Diese Formel definiert das christliche Priesteramt. Und hier wächst auch eine zunehmende Abneigung gegen das Wort Priester. So will man nicht mehr von Priesterweihe sprechen, sondern von Presbyterweihe… Wir haben es also mit einer materiellen Treue zum Neuen Testament zu tun, die keine Treue des Geistes ist.
Die Fresken an der Apsis der Kirche San Silvestro in der schönen mittelalterlichen Altstadt von  Tivoli stammen mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem 
12. /13. Jahrhundert. Das auf der Apsiskuppel dargestellte Motiv passt ikonographisch zu dem verloren gegangenen Apsis-Mosaik der alten Vatikan-Basilika. Kritiker schreiben die Fresken von San Silvestro fast einhellig einer einzigen  Werkstatt (dem so genannten Ersten Meister oder Meister der Apokalypse) zu; 
der nämlich, die auch den Großteil der Fresken der Krypta der Kathedrale von Anagni geschaffen hat.

Die Fresken an der Apsis der Kirche San Silvestro in der schönen mittelalterlichen Altstadt von Tivoli stammen mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem 12. /13. Jahrhundert. Das auf der Apsiskuppel dargestellte Motiv passt ikonographisch zu dem verloren gegangenen Apsis-Mosaik der alten Vatikan-Basilika. Kritiker schreiben die Fresken von San Silvestro fast einhellig einer einzigen Werkstatt (dem so genannten Ersten Meister oder Meister der Apokalypse) zu; der nämlich, die auch den Großteil der Fresken der Krypta der Kathedrale von Anagni geschaffen hat.

Wie lässt sich diese Unterscheidung auf das Thema des Primats anwenden? Die Orthodoxen, auch jene, die mit dem ökumenischen Dialog befasst sind, wollen das Problem nicht von einem exegetischen Standpunkt aus angehen.
VANHOYE: In allen Evangelien und Paulusbriefen kann man erkennen, dass Petrus eine besondere Sendung übertragen wurde. Es ist wirklich beeindruckend, sich beispielsweise die Szene der Berufung des Petrus anzusehen. Eine Szene, in der außer Jesus noch mindestens vier Personen zugegen sind: Andreas und Petrus, Jakobus und Johannes. Jesus aber wendet sich allein an Petrus.
Der Streit zwischen „Kreationisten“ und „Evolutionisten“ in den USA hat das Thema der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift wieder aktuell gemacht. Was halten Sie davon?
VANHOYE: Das Thema der Irrtumslosigkeit wird von Dei Verbum definiert, und zwar mit dem Satz, in dem gesagt wird, dass sie für all das gilt, was Gott um unseres Heiles willen offenbaren wollte. Gott wollte nicht offenbaren, ob die Erde flach oder rund ist, und er wollte auch nicht offenbaren, ob sie sich um die Sonne dreht oder nicht. Die Bibel ist keine Schöpfungstheorie. Sie sagt, dass Gott Schöpfer ist und beschreibt dann die Schöpfung in bildhafter Weise. In der Bibel haben wir keine wissenschaftlichen Theorien über die Schöpfung. Mich hat stets beeindruckt, dass Dei Verbum die Aussage enthält, „dass die heiligen Schriften ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in ihnen aufgezeichnet haben wollte.“ Man hätte auch einfach nur von Heilswahrheit sprechen können. Eine solche Definition hätte aber an eine Reihe von religiösen Formeln denken lassen. Stattdessen sind die uns in der Heiligen Schrift für unser Heil vermittelten Wahrheiten auch Fakten, wie die Geburt Jesu, die Kreuzigung und die Erscheinungen des auferstandenen Christus.
Sie haben erzählt, dass Kardinal Ratzinger großen Respekt vor der Arbeit der Bibelkommission hatte, auch als diese in dem von Ihnen am Anfang zitierten Dokument die historisch-kritische Methode herausstellte, von der sich der Präfekt des ehemaligen Heiligen Offiziums öffentlich distanzierte.
VANHOYE: Die Mitglieder der Bibelkommission vertraten die Meinung, dass die historisch-kritische Methode nicht von den philosophisch-theoretischen Voraussetzungen Bultmanns und Dibelius‘ abhinge. Jeder Wissenschaftler schafft sich unweigerlich seine eigenen Voraussetzungen. Aber er darf Methode und Bedingungen nicht verwechseln. Die katholischen Exegeten können sehr wohl die Methode übernehmen, nicht aber die historistisch-naturalistischen Voraussetzungen der Begründer besagter Methode.
Joseph Ratzinger ist heute Papst Benedikt XVI. Und hat ein Buch über Jesus geschrieben, dessen erster Teil besonders die Studien von Bibelforschern und Exegeten auf den Plan ruft. Wird sich diese besondere Situation auf die Synode auswirken?
VANHOYE: Es ist offensichtlich, dass der Papst einen theologischen Bildungsweg hinter sich hat, der mit der historisch-kritischen Methode, so wie man sie in Deutschland anwendet, nicht viel anzufangen wusste. Seine Perspektive ist überaus positiv: die tiefe Strömung der Offenbarung suchen, sich auf das Leben Jesu konzentrieren und sich nicht auf nicht enden wollende Diskussionen über zweitrangige Details oder miteinander konkurrierende Interpretationen einlassen. Das ist eine viel „nahrhaftere“ Annäherung an den Glauben und das christliche Leben. Sein Buch ist das Buch eines Professors, der Papst geworden ist. Für die Bischofssynode werden sich daraus keine Probleme ergeben. Der Papst ist ein Bischof, der zum Leben der Kirche beiträgt. Mit all seinen intellektuellen und gemütsmäßigen Fähigkeiten.


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