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ARGENTINIEN
Aus Nr. 08 - 2008

Reportage. Priester und Arme in Buenos Aires

Die Freunde von Pater Bergoglio


In den 1960er Jahren ziehen einige Priester zu den Immigranten in die Barackenstädte der argentinischen Hauptstadt, um sie bei ihren politischen und sozialen Kämpfen zu unterstützen. Sie werden von der einfachen Frömmigkeit derer verändert, deren Lehrer sie sein wollten. Die Geschichte eines christlichen Abenteuers, das weiter geht. Mit Hilfe der Jungfrau Maria und der Heiligen.


von Gianni Valente


Die Prozession zu Ehren des hl. Pantaleon setzt sich bei der Pfarrei Nuestra Señora de Caacupé, in Villa 21, in Bewegung.

Die Prozession zu Ehren des hl. Pantaleon setzt sich bei der Pfarrei Nuestra Señora de Caacupé, in Villa 21, in Bewegung.

Treffpunkt: Sonntag, 12 Uhr, bei Nuestra Señora von Caacupé. „Prozession mit Heilungs- und Befreiungsgottesdienst“, wie ein Flugblatt versprach, das sich auch bis in die ärmlichsten Hütten von Villa 21 verirrt hat. Am Anfang sind es mehr als zweihundert Gläubige, doch während sich die kleine, von Bischof Oscar angeführte Prozession durch das Gewirr der engen, schlammbedeckten Gässchen drängt – verstopft mit provisorisch anmutenden Wasserrohren, herabhängenden Stromkabeln und ausgebrannten Autowracks –, werden es immer mehr. Am Festtag des hl. Pantaleon, Arzt und Märtyrer, der in den argentinischen Winter fällt, erbittet man Schutz vor Grippe, Lungenentzündung und den anderen Krankheiten der kalten Jahreszeit. Aber nicht nur das. „Ein jeder soll in sich gehen und sehen, wie es um ihn steht,“ lautet die Aufforderung Pater Pepes bei der Messe auf dem kleinen Platz, der dort inzwischen zum Bersten mit Menschen gefüllt ist. „Lasst uns erkennen, dass wir alle Sünder sind; dass wir den Herrn brauchen, um geheilt zu werden. Wenn wir krank sind an Körper und Seele; betrübt, weil uns Sorgen plagen… Bitten wir unsere Mutter, die Virgen de Caacupé, uns jene Gesundheit erlangen zu lassen, derer wir hier in unserem barrio [Viertel, Anm.d.Red.] so dringend bedürfen.“ Am Ende der Messe stellen sich die Ältesten zur Krankensalbung an. Auf dass „uns der Heilige Geist der Vergebung heile und von jeder Krankheit befreie… Wie schon der hl. Jakobus sagte, wird das gläubig gesprochene Gebet den Kranken retten.“
Der Dichter Charles Péguy hat einmal geschrieben – und vielleicht dachte er dabei an das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner – dass der Reiche, wenn er betet, spricht, der Arme aber Dinge erbittet, die dem Leben dienlich sind: den Frieden in der Familie und in der Welt, die Heilung eines uns nahe stehenden Kranken, die Gesundheit von Körper und Seele. In den villas miserias – den argentinischen favelas, einer Art Mittelding zwischen Slum und Arbeiterviertel – ist es nicht schwer, krank zu werden. Hier, in Villa 21, fließt auch der Riachuelo vorbei, der „widerliche Fluss mit dem schmutzigsten Wasser der Welt“ – wie sie hier sagen –, und verpestet mit seinem Gestank die Luft. Ein Teil der Villa ist auf den Abfallbergen der illegalen Müllhalden entstanden: Gott allein weiß, was da unten alles liegt! Wenn die Güterzüge mehrmals am Tag respektlos durch dieses Gewirr von Schotterwegen donnern, erzittern die Mauern der Hütten als wären sie aus Karton, und es kann auch vorkommen, dass jemandem die Beine abgefahren werden – meist trifft es Kinder, die beim Spielen auf der Straße überrascht werden. Natürlich gibt es hier auch die vielen anderen Krankheitsbilder, die so typisch sind für die Peripheriezonen des Südens der Welt: Kinder, die die aus Abfällen der Kokainherstellung fabrizierte Droge der Armen – paco – zu körperlichen Wracks gemacht hat; niños de la calle [Straßenkinder, Anm.d.Red.], Trinker, die ihre Frauen schlagen; unzählige Geschichten gescheiterter Existenzen und zerstörter Familien; die Hoffnungslosigkeit vieler, die verarmt sind und sich aufgegeben haben. Wie die obdachlos gewordenen Opfer der Wirtschaftskrise von 2001, die vom Wucherzins der Banken um Haus und Hof gebracht wurden.
Hier gibt es viele, die der Heilung bedürfen. Aber es gibt es auch einen Strom guten Lebens, eine „Heilungskurve“, die sich inmitten der mühseligen Tage der villeros immer mehr ausbreiten kann.
„Das haben wir Pater Pepe zu verdanken,“ sagen sie und berichten, dass sich die Leute auf der Straße nicht mehr gegenseitig umbringen: Seit Pater José „Pepe“ di Paola, seine Freunde Pater Facundo, Don Charly, Diakon Juan und all die anderen in Caacupé sind, gehören die Messerstechereien zwischen Paraguayanern und Bolivianern der Vergangenheit an. Darauf angesprochen, winkt Pater Pedro mit einem lauten, ansteckenden Lachen ab: „Wir haben nichts Großartiges getan,“ meint er, „wir sind einfach nur dem Beispiel der Guaraní, die heute in der Villa wohnen, und der Heiligen gefolgt, die sie aus ihren Dörfern in die Stadt mitgebracht haben.“ Auch von ihnen hat Pepe gelernt, dass man nicht viel erreicht, wenn man sich mit der Jungfrau und den Heiligen nicht gut stellt. Und vor ihm hatte das auch Pater Daniel gelernt.

Pater Charly und Pater Pepe bei 
der misa de sanación zu Ehren Pantaleons, Arzt und Märtyrer. Bischof Oscar Ojea spendet die Krankensalbung.

Pater Charly und Pater Pepe bei der misa de sanación zu Ehren Pantaleons, Arzt und Märtyrer. Bischof Oscar Ojea spendet die Krankensalbung.

Freunde im Paradies
Die Volkslieder des barrio besingen ihn als „el angel de la bicicleta“, den Engel auf dem Fahrrad. Und auf eben diesem Fahrrad soll er Anfang der 1990er Jahre von einem Bus überfahren worden sein. Auf den naiven murales, den Wandmalereien der Villa, stellt er sich dagegen mit ausgebreiteten Armen den Planierraupen in den Weg, die die Baracken der villeros dem Erdboden gleichmachen wollen. Man schrieb das Jahr 1978: das Regime hatte beschlossen, die Stadt noch vor der Fußballweltmeisterschaft zu „säubern“. Plan de erradicación nannte sich das. Pater Daniel de la Sierra, der Claretiner, der die Kirche Nuestra Señora de Caacupé in Villa 21 errichtet hat, stellte sich der Wucht der topadoras, der Planierraupen, unbewaffnet entgegen. Ein passiver Widerstand, bei dem es ihm viele andere Priester des equipo de los curas de la villa gleichtaten. Jene nämlich, die schon zur Zeit des Konzils beschlossen hatten, sich in den Elendsvierteln von Buenos Aires niederzulassen, die sich immer mehr mit Menschen füllten: Einwanderern aus Paraguay, Bolivien und den armen Provinzen im Norden Argentiniens (Tucumán, Santiago del Estero, Jujuy, Salta, Missiones, Corrientes). Hier, unter den cabecitas negras, wollten sie die Liebe Christi verkünden, das Leben dieser Menschen teilen, mit denen der Rest der Stadt nichts zu tun haben will, weil er sie als gente mala – als Abschaum – betrachtet, als gefährliche Landstreicher, zwielichtige Gestalten, von denen man sich besser fern hält.
Die curas villeros, die in den Elendsvierteln tätigen Priester, waren Dritt-Welt-Priester. Daran gibt es nichts zu rütteln. Sie gingen in die Villa, um Zeugnis dafür abzulegen, dass Christus auf der Seite der Armen ist und waren entschlossen, dem Volk bei seinen sozialen Schlachten jener Jahre beizustehen. Als sie aber einmal da waren und den Leuten klar geworden war, dass sie Priester waren, begannen die Fragen: „Olà Pater, ich habe zwei chicos, die getauft werden müssten“; „Wann beginnt der Katechismus?“; „Ist nächsten Sonntag Messe?“. „Unsere Überraschung war nicht weniger groß als unser fehlendes Wissen um das tatsächliche Empfinden der Leute hier,“ schrieb der 1997 verstorbene Jorge Vernazza in dem Buch, das die Geschichte dieser Pionier-Priester erzählt. „…Manchmal sprachen wir davon, einen ‚authentischen Glauben‘ zu suchen, erwarteten uns aber mehr von den ‚Gruppen evangelischer Ausrichtung‘ Ende der 1970er Jahre als von den traditionellen Methoden der Glaubensverbreitung… die Realität der Leute der villas, der wir uns uneigennützig und vorurteilslos stellten, öffnete uns letztendlich aber die Augen für den Reichtum an Volksfrömmigkeit, den dieses Volk besaß.“ So machten sich die curas villeros daran, Kapellen zu bauen, denen sie unverkennbare Namen gaben (Santa María Madre del Pueblo in zeug, das Perón 1972 nach Argentinien zurückbrachte – seine letzte, kurze Rückkehr an die Macht – waren auch Pater Vernazza und Carlos Mugica, der Märtyrer-Priester von Villa de Retiro, der am 11. Mai 1974 auf dem Heimweg von der Meßfeier von Paramilitärs erschossen wurde (siehe Kasten). Aber die Teilnahme dieser Priester am Alltag der villas wurde von vielen auch mit Unverständnis und Mißtrauen betrachtet. Manch einer hielt sie für Revolutionäre im Talar, Priester, die von der marxistischen Propaganda vergiftet worden waren. An der anderen Front machten auch die Intellektuellen der mit dem Ausland sympathisierenden Linken, einschließlich jene kirchlicher Prägung, keinen Hehl aus der Verachtung, die sie, die „Erleuchteten“, für diese villeros empfanden, die vor lauter Sorge um die Deckung ihrer Grundbedürfnisse keine Zeit für den Aufstand fanden, und für deren rückständige Seelsorger, die sich noch immer mit Rosenkränzen und Madonnen, Messen und Beichten aufhielten. „Sie glauben, Revolution zu machen, wenn sie zu Unserer Lieben Frau von Luján pilgern,“ lautete der ironische Kommentar, als die curas villeros Ende der 1970er Jahre – auf eine von einer Mutter in der Kapelle Bajo Flores gegebene Anregung hin – die erste Jahreswallfahrt der villas zu dem Nationalmarienheiligtum organisierten, das 50km von der Hauptstadt entfernt ist. „In jenen Jahren war das der Punkt, in dem die curas von Buenos Aires mit dem falsch verstandenen Progressismus einiger Kirchenmänner am meisten auf Kollisionskurs gingen. Dem jener ‚erleuchteten‘ Kirchenmänner nämlich, die aus Europa kamen,“ erzählt Pepe. „Auf der einen Seite standen also die, die erlebt hatten, wie das Volk seinen Glauben lebte und zum Ausdruck brachte. Auf der anderen stand der Hochmut der Fremden, die gekommen waren, um Lektionen zu erteilen.“

Die Köche des <I>barrio</I> bereiten in der <I>villa miseria</I> im Viertel Mataderos die Maisfleischsuppe zu, die beim Pfarrfest der hl. Maria del Carmen, in Ciudad Oculta, serviert wird. Auch  Kardinal Bergoglio ist mit von der Partie.

Die Köche des barrio bereiten in der villa miseria im Viertel Mataderos die Maisfleischsuppe zu, die beim Pfarrfest der hl. Maria del Carmen, in Ciudad Oculta, serviert wird. Auch Kardinal Bergoglio ist mit von der Partie.

Die neuen Freunde
Mitte der 1980er Jahre änderten sich auch in Lateinamerika die Slogans, mit denen man in der Kirche Karriere machte. Angesehen war man nun, wenn man die Befreiungstheologie kritisierte. Für die neuen kirchlichen Konferenziers à la page, einschließlich derer, die mit dem aufstrebenden Freihandel liebäugelten, waren auch die curas villeros nichts weiter als der lokale Ausdruck eines Drittweltbekenntnisses der katholischen Welt, das inzwischen passé war.
Aber die villas gab es auch weiterhin, in Buenos Aires ebenso wie in allen anderen argentinischen Metropolen. Als die blutigen Jahre der Diktatur vorüber waren, füllten sie sich erneut mit Armen – den neuen Armen, Opfer des Freihandelsblendwerks der 1990er Jahre. Die curas villeros nahmen auch weiterhin Anteil am Schicksal und an der Mühsal dieses ihnen so sehr am Herzen liegenden Volkes. In ihren off-limits-Vierteln, wohin sich freiwillig kein Taxifahrer, ja nicht einmal die Polizei verirrt, blieben sie den einfachen Gesten des Glaubens ihres Volkes treu, beteten den Rosenkranz, bauten Kapellen und feierten die Feste der Jungfrau Maria. Fast ohne es zu wollen, behüteten sie die Schätze der Frömmigkeit, die andere verloren zu haben schienen, zwischen einem Programm der Bewußtseinsbildung und einer Strategie der kulturellen Hegemonie.
„In jedem Haus ein Heiligenbild, an jeder Straßenkreuzung ein Bildstock“: das war es, was Rodolfo Ricciardelli für seine Villa im Sinn hatte. Er war nicht nur einer der Gründer der Bewegung der Priester für die Dritte Welt, sondern auch eines der ersten Mitglieder des equipo de los curas villeros, jener Gruppe von Priestern also, die die Menschen in den Elendsvierteln betreute. Als er am 14. Juli dieses Jahres nach zweijähriger Krankheit verstarb, zelebrierte Kardinal Bergoglio in der Kirche von Bajo Flores den Trauergottesdienst vor den Bewohnern des barrio: Kindern, alten Frauen, Arbeitern, den alten und neuen Kollegen, jene Gruppe junger, 30/40jähriger Priester, die heute in den villas arbeiten und den Weg weitergehen, den Mugica, Vernazza, Ricciardelli, Pater Daniel de la Sierra eingeschlagen haben. Und sie scheinen alles andere zu sein als nostalgische Epigone einer der Vergangenheit angehörenden Jahreszeit der Kirche. „Mit der Zeit wird alles klarer,“ sagt Guglielmo, Pfarrer in Villa Retiro, in der Kirche Cristo Obrero, wo Mugica die letzte Ruhe fand. „Man erkennt besser, dass auch für die ersten Priester das einzige Kriterium das Evangelium war. Die Armen zu lieben, indem man unter ihnen lebt, wie es Jesus getan hat. Für einige von ihnen bedeutete das in jener schwierigen Zeit auch, sich an den politischen Kämpfen zu beteiligen. Aber das hatte mit den damaligen Umständen zu tun.“ Jetzt, wo sich der Nebel des ideologischen Blendwerks gelichtet hat, werden auch die um die Arbeit der curas villeros entstandenen Missverständnisse ausgeräumt. Und es erblühen providentielle Ähnlichkeiten. „Wir arbeiten mit demselben Geist, den schon unsere Vorgänger hatten,“ erklärt Pater Gustavo, Pfarrer in Villa Fatima: „Die Situationen und Probleme sind zwar anders, aber uns vereint doch das, was das Wichtigste ist: die Bewunderung für den Glauben und die Frömmigkeit dieses Volkes.“ Nach vielen, auch innerkirchlichen Verständigungsschwierigkeiten, haben sie nun den Bischof an ihrer Seite. „An Pater Bergoglios Stil kann man deutlich die Vorzugsoption für die Armen erkennen,“ erzählt Gustavo. „Er hat in den Arbeitervierteln viele neue Pfarreien errichtet. Er war es auch, der mir vorgeschlagen hat, als Priester in eine villa zu gehen, und er hat auch andere, frisch vom Seminar kommende Priester darum gebeten.“ Vor drei Jahren waren die Priester des equipo delle villas miserias nicht einmal zu zehnt, heute sind sie schon mehr als zwanzig, fast alle junge Priester. Manchmal verlässt der Erzbischof die Kurie an der Plaza de Mayo und fährt mit der U-Bahn und dem Bus in eine der villas, um neue Kantinen zur Armenspeisung zu segnen, Taufen und Firmungen zu spenden, neue Kapellen zu weihen oder das Fest eines Heiligen oder der Jungfrau Maria zu feiern – je nachdem, wem die Pfarrei gewidmet ist. Und manchmal kommt es auch vor, dass er zum Essen bleibt. Dann isst er mit den anderen zusammen el locro, die Maisfleischsuppe, die sie hier in riesigen Töpfen im Freien kochen. Und freut sich dabei wie ein Vater, der seinen Kindern beim Spielen zusieht, „weil es der Seele gut tut zu sehen, was der Herr unter seinen Lieblingskindern wirkt.“

Pater Gustavo Carrara beim Aufsperren der kleinen Kapelle 
„Santa Teresita del Niño Gesù“ in Villa 3.

Pater Gustavo Carrara beim Aufsperren der kleinen Kapelle „Santa Teresita del Niño Gesù“ in Villa 3.

Bittet den hl. Kajetan
Am letzten Festtag des hl. Kajetan richtete Pater Bergoglio bei seiner Predigt an die Anwesenden eine Frage: diesen Teil der Hunderttausenden von Argentiniern, der wie jedes Jahr in Scharen in das Peripherieviertel gekommen ist, wo sich das Marienheiligtum befindet, um vom Heiligen des Brotes und der Arbeit Gnaden zu erbitten oder ihm für bereits erhaltene zu danken. „Ich möchte euch eine Frage stellen,“ sagte er. „Steht die Kirche nur den Guten offen?“; und alle antworteten im Chor: „Nein!“. Da hakte der Kardinal nach: „Ist da auch Platz für die Schlechten?“; und wieder kam die Antwort im Chor, ein lautes: „Jaaa!!!“. „Wird hier jemand weggejagt, weil er schlecht ist? Nein, im Gegenteil, er wird noch herzlicher aufgenommen. Und wer hat uns das gelehrt? Jesus hat es uns gelehrt. Ihr könnt euch also vorstellen, wie viel Geduld das Herz Gottes mit einem jeden von uns hat.“
In der Pfarrei von Pater Pepe sieht man das genauso. Das einzige, was getan werden muss ist, die Türen offen zu halten, die Dinge einfacher zu machen. „Alle hier wissen, dass man das ganze Jahr über in die Pfarrei kommen und nach ein paar Katechismus-Stunden die Erstkommunion oder die Firmung empfangen kann. Für die Taufen genügt es sogar, wenn man eine Viertelstunde vor der Messe da ist.“ Beim letzten Mal, am Fest Johannes des Täufers, haben sich mehr als 150 Erwachsene taufen lassen. „Die Leute hier arbeiten desde lunes hasta sábado: von Montag bis Samstag. Eines muss uns klar sein: man darf ihnen keine Last aufbürden. Wir vertrauen mehr auf die Arbeit der Gnade als auf lange Vorbereitungskurse.“
Sei es nun wegen dieses Vertrauen auf die Gnade, oder wegen der ständigen „Sippschaft“ mit der Jungfrau Maria und den Heiligen: es ist eine Tatsache, dass um die Arbeit Pepes und der anderen jungen curas villeros ein überraschender, mitreißender Strudel von Fakten und Initiativen entstanden ist. Allein in Villa 21 kommen tausend Kinder und Jugendliche zum Katechismus. Sie gehören zum „movimiento Exploradores“ (einer Art „hausgebackener“ salesianischer Pfadfinder). Es gibt acht comedores, Kantinen, wo jeden Tag 800 Menschen ein Essen bekommen; 650 chicos erhalten jeden Tag Schulunterricht; es gibt Fußballschulen, Schulen für Musik- und Nähunterricht; Aufnahmezentren für drogensüchtige Jugendliche und Straßenkinder. Und für die „rebellischsten chicos“, jene, die nicht in den Katechismus gehen, gibt es die murga, eine Tanz- und Tamburingruppe („wir beginnen aber immer mit einem Ave Maria, und die Uniform ist weiß-blau: die Farben des Umhangs der Jungfrau Maria“). Dann gibt es noch die Einkehrtage für Männer und Frauen, Familien… Ein fast schon übersprudelndes Wohltätigkeitsnetz, wo es immer etwas zu tun gibt, um diesen Menschen hier dabei zu helfen, sich nicht zu verirren oder dort wieder Hoffnung zu geben, wo sie auf immer verloren scheint. Und leiten lässt man sich dabei von dem, was kommt.
Der Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft 2001 z. B. hatte katastrophale Auswirkungen auf die Menschen der villa. Und auch als man sich langsam wieder erholte, konnte niemand mehr Arbeit finden, nicht einmal in den Häusern der Reichen: „Die aus den villas wollte niemand haben.“ Pepe und seine Freunde erkannten, dass etwas getan werden musste. Sie baten die Diözese Como um Hilfe, und so konnte die Berufsschule der Villa Avenida Pepiri entstehen, wo 500 Jugendliche der Villa das Elektriker-, Marmorsteinmetz-, Mechaniker- oder Schreinerhandwerk lernen. Oder das der Bäcker, die die Kantinen für die Armenspeisung die ganze Woche über mit Brot versorgen. Jetzt wird alle Energie auf das Hilfsprogramm für die drogacitos verwendet: an den Wochenenden fährt die Männergruppe der Pfarrei aufs Land, wo sie – zwischen einer Messe und einem asado, einer „Grillpause“ – die Farm umbauen, wo drogensüchtige Jugendlichen eine Entziehungskur machen können. „Sie liegt auf dem Weg nach Luján, in der Nähe des Marienheiligtums,“ erklärt uns Pepe, „so kann auch die Jungfrau Maria Hand anlegen…“.
Der die Villa durchquerende Strom guten Lebens ist um die acht Kapellen mit ihren bunten Wandmalereien und die Dutzenden kleiner Kapellen angesiedelt, die Pepe und seine Freunde auf alle Winkel und Höfe der Siedlung verteilt haben: Dutzende von Stätten, wo man beten, die Messe feiern und den Rosenkranz beten kann. Und wo jede Gelegenheit gut genug ist, um jemanden, Kinder, Männer, Frauen, alte Menschen, der paraguyanischen Madonna von Caacupé zu weihen – oder vielleicht der bolivianischen, Unserer Lieben Frau von Copacabana; der Argentiniens, Unserer Lieben Frau von Luján; oder dem hl. Kajetan; dem hl. Blasius; dem hl. Johannes oder dem hl. Pantaleon. Das letzte Mal war das bei 30 Paaren von villeros der Fall, die Pepe zu einer zweitägigen Einkehr in die Santa Casa von Avenida Independencia eingeladen hatte: „Auch Bischof Oscar war da. Wir haben gebetet, die Messe gefeiert, über Freud und Leid gesprochen, und dann haben sich alle Paare der Virgen de Luján geweiht. Es war ergreifend. Danach sind einige von ihnen zu mir gekommen und haben mich gebeten, sie kirchlich zu trauen.“ Hier in der Villa gibt es nämlich viele, die schon seit Jahren zusammenleben und ihre Kinder groß ziehen, ohne verheiratet zu sein…“.

Kardinal Bergoglio begrüßt die Gläubigen vor dem Marienheiligtum 
St. Kajetan am Festtag  des Heiligen „des Brotes und der Arbeit“.

Kardinal Bergoglio begrüßt die Gläubigen vor dem Marienheiligtum St. Kajetan am Festtag des Heiligen „des Brotes und der Arbeit“.

Für ein Leben in Ruhe und Gelassenheit
„Gracias, san Expedito, por tu milagros“, steht auf einem Spruchband am Eingang der Villa im barrio von Zavaleta zu lesen. Der römische Soldat, der Heilige für dringliche Angelegenheiten, an den man sich wendet, wenn die Zeit drängt und es keinen Ausweg zu geben scheint, findet immer neue Freunde in den villas, ja, in ganz Buenos Aires. Das Wunder, das sie erbitten, ist nicht die Revolution, eine perfekte Welt, sondern ein sorgenfreies Leben: Gesundheit von Körper und Seele; eine Arbeit, für die es sich lohnt, morgens aufzustehen und dass sich die Jugendlichen nicht im Labyrinth der Drogen verirren, wo es nur noch Finsternis gibt. Deshalb lautet der Slogan der Pfarrei ja auch: „Caacupé calla, reza y trabaja por su barrio“: „Caacupé bleibt im Hintergrund, betet und arbeitet für sein Viertel.“ Ora et labora. Wie schon vor mehr als 300 Jahren in den reducciones der Guaraní, werden auch hier die Tage nicht vom Blendwerk eines Traumes erhellt, dem es hinterherzujagen gilt, sondern von den die Alltagsroutine benetzenden Tropfen einer täglich spürbar werdenden Nächstenliebe. Jener stillen und grenzenlosen Liebe, die Chula so selbstverständlich um sich verbreitet, die fünffache Mutter, die in ihrer auch zur Kapelle umfunktionierten Wohnung jeden Tag für 40 Kinder der Villa eine Brotzeit und ein Abendessen bereit stellt: „weil ich das dem hl. Kajetan versprochen habe, wenn mein Mann Arbeit findet.“ Oder die von Pablo Ramos, der in Paraguay gerade noch der Folter der Militärs entgehen konnte („aber sie irrten sich, wir waren von der franziskanischen Jugend und haben niemandem etwas zuleide getan“). Er wollte eigentlich Architekt werden, aber er bereut nichts, weil sie ihm in der Villa die Möglichkeit gegeben haben, die Kapelle San Blas zu bauen. Und dafür dankt er Gott – ebenso wie für seine „chicos flamantes“, seine prächtigen Kinder, „die mir jedes Mal, wenn ich sie ansehe, Kraft und Leben también geben.“
In der Zwischenzeit verteilen die Missionare und Missionarinnen der Pfarrei in den Hütten des barrio eine neue Statue. „El Cristo de la villa“, wie sie sie nennen. Entworfen haben sie die jungen Marmorsteinmetze und Bildhauer der Berufsschule der Villa Avenida Pepiri, „nachdem uns die Sektierer der Iglesia universal überall verleumdet haben und herumerzählten, dass wir einen toten Christus predigen,“ erzählt Pepe. Das Bild darf auch auf der Wandmalerei an der Kirche nicht fehlen. Es zeigt Jesus, wie er mit siegreichem und beruhigendem Lächeln den Kopf einer Schlange zertritt. Die segnende Hand ist gen Himmel erhoben, der Arm ausgestreckt wie bei den goleadores in den Stadien, wenn sie ein Tor geschossen haben. „Wenn er mit uns spielt, werden wir auch dieses Jahr die Meisterschaft gewinnen,“ meint Pepe lachend.


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