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REPORTAGE AUS CHINA
Aus Nr. 10 - 2008

Nach dem Brief des Papstes

Die offenen Wege des Reichs der Mitte


Eine Reise zur Kirche in Peking und Shanghai. Wo auch die Christen mit den neuen Szenarien eines Landes konfrontiert werden, das der Zukunft entgegeneilt und dabei der weltweiten Rezession Rechnung tragen muss. Zwischen Ungewissheit, neuen Gelegenheiten und unerwarteten Zufällen.


von Gianni Valente


Eine Frau betet mit ihrem Kind in einer katholischen Kirche.  [© Reuters/Contrasto]

Eine Frau betet mit ihrem Kind in einer katholischen Kirche. [© Reuters/Contrasto]

Es ist schon lange Abend in der Stadt, als sich die Straßen und Kreuzungen rund um die Zhengyi Road fast unmerklich mit Wachen, Polizisten, Polizeiautos mit Blaulicht und Männern in Zivil füllen, die sich mit ernsten Mienen mit ihren Walkie-Talkies positionieren. Um acht Uhr abends herrscht Ausnahmezustand: ein paar Minuten lang ist der ganze Verkehr lahmgelegt. Eine kleine Gruppe von Neugierigen wohnt dem nur wenige Momente dauernden täglichen Ritus der Heimkehr Wen Jiabaos bei, Ministerpräsident der Volksrepublik China und folglich von Amts wegen einer der mächtigsten Männer der Welt. Gleich in der Nähe schwelgt das glamouröse Peking der Wang Fu Jing Avenue immer noch ungestört im Nach-Olympia-Rausch. Im Schatten des Beijing Hotels, denkwürdiges Markenzeichen der maoistischen Nomenklatur – dank restyling als Hotel der Superluxusklasse wieder salonfähig gemacht – bummelt die Menge zwischen Einkaufstempeln, die keine Ladenschlusszeiten kennen und gut besuchten Restaurants, wo man fröhliche und zufriedene Menschen beobachten kann, die so gar keinen verzweifelten Eindruck machen.
Unweit des Premierministers wohnt auch Pater John. Die Kirche von Saint Michael, wo er Pfarrer ist, ist nur wenige Hausnummern von dem compound seines berühmten Nachbarn entfernt. Auch Pater John muss sich auf dem Heimweg dann und wann zwischen Fahrrädern und Polizisten durchschlängeln: Einer von vielen in der Anonymität des allabendlichen Kommens und Gehens. Und doch waren eines schönen Tages – es ist erst ein paar Monate her – wenige Augenblicke lang die Augen ganz Chinas auf ihn gerichtet. Das Olympische Feuer war in der chinesischen Hauptstadt angekommen, und er war einer der Fackelträger, die das Olympische Feuer wenige Dutzend Meter durch die Straßen Pekings trugen. Als er an der Reihe war, hat er die Gelegenheit beim Schopf gepackt: Er hat die Fackel vor der Stadt in Feststimmung gen Himmel gehoben und mit diesem Symbol der neuen chinesischen Größe das Kreuzzeichen in die Luft gezeichnet. Schnell und wie selbstverständlich. Es war die einfachste Geste, die ihm in den Sinn gekommen war, um seine Sympathie für die Menschenmenge zum Ausdruck zu bringen, die sich am Straßenrand seines kurzen Weges zusammengedrängt hatte.
Vor 400 Jahren war der große Jesuit Matteo Ricci von der menschlichen Größe des politischen Plans beeindruckt gewesen, auf dem das Reich der Mitte aufgebaut war. Auch er hatte, das China seiner Zeit betrachtend, einen Ansatzpunkt gesucht, eine minimale Affinität, ein ihm wenn auch nur entfernt bekannt vorkommendes Echo, von dem man ausgehen konnte, um den christlichen Samen in der ganzen Welt gedeihen zu lassen, ohne dass er sofort wie ein Fremdkörper abgestoßen werden würde.
Wie damals führt das Abenteuer der Christen in diesem immensen Land auch heute, in dem großen Wandel, den China gerade durchmacht, über Zufälligkeiten. Unentgeltliche Sympathiebezeugungen, die der liebe Gott bei den Bauern von Sichuan und den Managern von Shanghai auslösen kann, bei den Studenten in teurer Designerkleidung und den Fischern von Fuzhou. Und auch bei den Mächtigen.

Eine Prozession vor einer Statue 
Matteo Riccis in Peking. [© Associated Press/LaPresse]

Eine Prozession vor einer Statue Matteo Riccis in Peking. [© Associated Press/LaPresse]

Nach dem Brief
Das Pergament mit dem Segen Benedikts XVI. hängt im nationalen Seminar von Peking an der Wand – ein wenig abseits zwar, aber doch an einem strategischen Punkt. Man sieht es nur, wenn man die Treppe hinuntersteigt, die von der Kirche in die Krypta führt. Aber wenigstens einmal am Tag kommen alle dort vorbei. Die fast 80 Seminaristen, ca. 40 Priester und 15 Nonnen hier führen ein Leben mit dem Stundenplan und der Disziplin eines Muster-Seminars: Aufstehen um halb sechs Uhr morgens, eine Stunde Gebet, Messe, Frühstück, morgendliches Studium, Gymnastik, spirituelle Lesungen während der Mahlzeiten – bis zur stillen, abendlichen Meditation über das Evangelium und die Kirchenväter, zu der sich alle in der Kirche einfinden. Das Leben hier im Seminar ist ein Konzentrat aller Paradoxa, von denen die anomale Situation der chinesischen Katholizität geprägt ist. In den Informationsbroschüren kann man lesen, dass das Seminar von der Regierung finanziert wird und unter Schirmherrschaft der Patriotischen Vereinigung der chinesischen Katholiken steht, jenem Instrument, mit dem sich das Regime die vollkommene Unterwerfung der Kirche unter das Diktat ihres politischen Leaderships sichern will – und das gilt auch für die Auswahl der Bischöfe. Dann aber studieren die Priester und die Seminaristen wieder ohne Zensur den Codex des kanonischen Rechtes, einschließlich jener Kanones, die besagen, dass nur der Papst „die Bischöfe frei ernennt oder die rechtmäßig Gewählten bestätigt“ (Can. 376). Und wenn einer der wenigen chinesischen Bischöfe, die ohne päpstliches Mandat geweiht wurden, auf Besuch ins Seminar kommt, stößt er auf Ablehnung, und keiner der Priester steigt in die Kapelle hinab, um mit ihm gemeinsam die Messe zu feiern.
Mehr als ein Jahr nach seiner Veröffentlichung ruft der Brief des Papstes bei den chinesischen Katholiken ambivalente und paradoxe Reaktionen hervor. „Wir alle sind der Meinung, dass der Papst ein definitives Wort zu vielen Fragen gesprochen hat, die seit Jahrzehnten umstritten waren,“ sagt Pater Giuseppe Jinde Lin, einer der geistlichen Assistenten des Seminars. „Der Brief sagt uns, dass es nicht notwendig ist, sich gegen die zu stellen, die uns regieren: Jetzt kann keiner mehr sagen, dass man kein guter Christ ist, wenn man mit der Regierung im Dialog steht.“ Die Seminaristen, die aus nicht bei den Regierungsorganen registrierten Gemeinschaften kommen und am nationalen Seminar in Peking ausgebildet werden wollen, sind schon mehr als ein Dutzend – und derartige Anfragen werden immer mehr. Ein Weg, diese mehr oder weniger tolerierte Untergrund-Situation hinter sich zu lassen, in der ihre Priesterberufung gereift war – und eines der vielen Zeichen der stillschweigenden Aussöhnung, die innerhalb der chinesischen Katholizität langsam die Wunden zu heilen und die Unstimmigkeiten auszuräumen beginnt: Unstimmigkeiten zwischen denen, die sich bereit erklärt hatten, die Religionspolitik des Regimes zu unterstützen und jenen, die eine Kontrolle des Lebens der Kirche durch das Regime ablehnten. Die weniger enthusiastischen Reaktionen auf die in dem Brief des Papstes enthaltenen Hinweise und Vorschläge kamen gerade – wieder ein Paradox– von Seiten einiger Individuen aus dem Untergrundbereich, die den Gehorsam zum Papst womöglich Jahrzehnte lang zum Aushängeschild ihrer kompromisslosen Treue zum Apostolischen Stuhl gemacht hatten. Eine Verschärfung der Positionen, hinter der nicht immer edle Ideale stehen. Einige der so genannten „Untergrund“-Priester genießen paradoxer Weise so manches Privileg: sie verwalten ohne Kontrolle die Spenden der Messbesucher; sie profitieren von den Subventionen der amerikanischen Organisationen, die gegen die chinesische Regierung sind; sie ziehen von Diözese zu Diözese, ohne dabei von ihren Oberen im Mindesten eingeschränkt zu werden. Aber es handelt sich hierbei – wie man auch am Pekinger Seminar betont – um Ausnahmen, um Einzelfälle, die nur deshalb für Aufruhr sorgen, weil diese Personen ihre Ansichten in ungehöriger Weise dem Internet anvertrauen. Dort schreiben sie z.B. auch, dass sich der Papst getäuscht hat oder getäuscht worden ist. „Die Aussöhnung der Herzen – die, auf die es ankommt – hat bereits begonnen,“ versichert Pater John Tian von der Shanghaier Kirche St. Peter. „Auch die Gläubigen im Untergrund erkennen nun die volle Glaubensgemeinschaft mit den Katholiken an, die die ‚offenen‘ Kirchen frequentieren. Der Großteil dieser Menschen hat sicher kein Interesse daran, im Internet zu chatten, um den Papst zu kritisieren, dem sie sehr ergeben sind. Auch ihnen gegenüber sind Verständnis
Das nationale Seminar von Peking.

Das nationale Seminar von Peking.

Ein Traum in Gefahr
Die Gurus des Internationalen Währungsfonds, die zu Besuch nach Hongkong kommen, wollen die Gemüter beruhigen. Sie sagen den Menschen, dass China mit seinen stattlichen Finanzreserven für die ganze Welt ein Anker der Stabilität sein wird im Wirbelsturm der weltweiten Rezession, der uns in den nächsten zwei Jahren mitreißen wird. Aber in Peking traut man diesen Finanz-Alchimisten aus Übersee nicht. Im Guangdong hat schon Ende Oktober die Schließung der Spielzeugfabriken begonnen. Dutzende haben zugemacht, eine nach der anderen, die Arbeiter wurden nach Haus geschickt. „Die Faktoren, die die soziale Stabilität bedrohen, werden zunehmen,“ lautete die düstere Prognose Wen Jiabaos schon Anfang November.
China ist eine Lokomotive, die mit Vollgas der Zukunft entgegen prescht. In den letzten Jahren bewegten sich die Wirtschaftswachstumszahlen des Landes immer im zweistelligen Bereich. Wenn diese Lokomotive gerade jetzt, bei Vollgas, entgleisen würde, wären die Folgen – und das wissen alle – auf der ganzen Welt katastrophal. Die chinesischen Regierenden haben einen wahren Berg von Problemen zu bewältigen. Und dessen sollte man sich besser bewusst sein, auch wenn man an die kleine Herde chinesischer Katholiken denkt – zwischen 10 und 12 Millionen, ein verschwindend kleiner Tropfen in einem Meer von 1 Milliarde 300 Tausend Seelen.
In den letzten zwei Jahren hat die chinesische Regierung – mit der für sie typischen schrittweisen Vorgehensweise – interessante theoretische Schritte in der Religionsfrage unternommen. 2007, beim letzten Kongress der kommunistischen Partei Chinas, wurde das Wort „Religion“ in das Statut der PCC [kommunistische Partei Chinas] eingefügt. Zum ersten Mal in der Geschichte des kommunistischen China wurden auch in der theoretischen Planung der politischen Strategien praktizierende Anhänger einer Religion als soziale Komponente anerkannt, die mit dem Entwicklungsmodell des Landes vereinbar ist, gleich den ethnischen Minderheiten. Dann, Ende 2007, hatte Hu Jintao den höchsten Behördenvertretern gegenüber den Gedanken rehabilitieren können, dass die Religionen für den Bau einer harmonischen Gesellschaft nützlich sein können, Schlüsselwort im neuen Lexikon der chinesischen Macht: „Wir müssen die Gläubigen und die religiösen Persönlichkeiten im Entourage der Partei und der Regierung vereinen und mit ihnen gemeinsam kämpfen, damit wir um sie herum eine gedeihende Gesellschaft bauen können, während wir in einem immer schnelleren Tempo auf die Modernisierung des Sozialismus zusteuern,“ hatte der chinesische Präsident zum Abschluss einer Studiensitzung des Politbüros gesagt, die der Religionsfrage gewidmet war. Daher schien es vor den Olympischen Spielen auch, dass das neue, in den Chefetagen der chinesischen Nomenklatur ausgearbeitete theoretische Szenario den mühsamen Marsch in Richtung Normalisierung der Beziehungen zwischen kommunistischem Regime, katholischer Kirche Chinas und Hl. Stuhl um ein paar wichtige Schritte voranbringen könnte. Sozusagen in einer Art Dominoeffekt. Als die Olympia-Hektik abgeklungen war, wurden die von jenseits der Chinesischen Mauer kommenden Signale aber wieder seltener und rätselhaft (siehe Kasten). Die bisher ungelösten Probleme kamen wieder an die Oberfläche, wie der von den Regierungsorganen gestellte Anspruch, die Bischofsernennungen zu lenken. Aber der Kontext hat sich geändert, und das sollten sich alle vor Augen halten, wenn sie wirklich sehen wollen, wie die Dinge stehen.
Die Beziehung zwischen Kirche und Reich der Mitte war schon immer eine Beziehung der besonderen Art. Schon lange vor Mao hatten die Regierenden in China ihre Probleme damit, anzuerkennen, dass der Bischof von Rom nicht eine Art universaler spiritueller Herrscher war und die in der ganzen Welt eingesetzten Bischöfe nicht seine Mandarin. Und nun wird die „katholische Frage“ – ein weiterer Komplikationsfaktor – von den chinesischen Funktionären in dem vielförmigen, das ganze Land durchziehenden Religions-Revival angesiedelt. Dieses facettenreiche Phänomen wird vom Regime kontrolliert, das sein Augenmerk in den letzten Jahren nicht nur auf die traditionellen „Problemzonen“ gerichtet hat. Nicht nur die Tibet-Frage oder die der Uiguren, der aufrührerischen muslimischen Bevölkerung von Xinjiang stehen also im Vordergrund, sondern auch die beeindruckend schnelle Verbreitung der Galaxie der Evangelikalen und Protestanten. Die militanten evangelischen Gemeinschaften, die in mehr oder weniger direkter Weise mit den freien Kirchen nordamerikanischer Prägung verbunden sind, haben es mit ihrem emotionalen Wunderglauben und nur schwer durchschaubaren Methoden geschafft, ihre „Hauskirchen“-Netzwerke immer mehr auszuweiten. Ihre Zahl hat sicher schon weit die 16 Millionen Gläubigen überstiegen, die laut Regime-Statistiken die „historischen“ protestantischen Gemeinschaften ausmachen (Lutheraner, Calvinisten, Reformierte). Ein exponentielles Wachstum, das von den Informationszentralen der Vereinigten Staaten wie ein Sieg gefeiert wird – beispielsweise der China Aid Association, die die Zahl der Chinesen, die in den militanten house churches bereits „neugeborene Christen“ geworden sind, bei unglaublichen 130 Millionen ansetzt. Und präsentiert werden sie als potentielle Aktivisten in den im Namen der Religionsfreiheit und der Menschenrechte gegen die Regierung geführten Schlachten.
Im Moment wird die Rückkehr zur religiösen Dimension als soziologisch wichtiges Phänomen in den „Chefetagen“ der chinesischen Macht mit Vorsicht analysiert. Die regierungsfreundlichen kulturellen Organismen, beispielsweise die Akademie der Sozialwissenschaften, haben von oben deutliche Order bekommen, sich mit dem Phänomen auseinander zu setzen. Wenn die Hauptkriterien der Regierung politische Stabilität und soziale Kohäsion sind, werden die Alarmlichter beim geringsten Versuch einer religiösen Gruppe, auf einen soziopolitischen Impakt abzuzielen aufleuchten, der nicht mit den neuen Schlagwörtern über die „harmonische Gesellschaft“ in Einklang gebracht werden kann und als Gegenkraft wahrgenommen wird. Und die Alarmbereitschaft kann angesichts der weltweiten, nun auch das Wirtschaftswunder China bedrohenden Rezession nur größer werden.
Es ist kein Zufall, wenn das schwer überschaubare Netz der evangelikalen Hauskirchen inzwischen auch den Polizeiapparaten aufgefallen ist. Und die derzeitigen Ungewissheiten könnten zum Teil auch die zeitweiligen Kommunikationsschwierigkeiten in den Beziehungen zwischen China und Vatikan erklären, deren Hauptzankapfel immer noch die Bischofsernennungen sind. In der Zwischenzeit versuchen die chinesischen Funktionäre, Zeit zu gewinnen und vermeiden es sichtlich, Lösungsvorschläge zu finden, die der Hl. Stuhl akzeptieren könnte. „Wenn das Regime nicht nachgibt,“ gibt der junge chinesische Priester 30Tage gegenüber zu verstehen, „dann auch, weil man daran gewöhnt ist, im Bischof einen Mann zu sehen, der Macht hat und den anderen Getauften den politischen Kurs vorgeben kann.“ So wirkt sich die Versteifung auf das Problem der Bischofsernennungen auf lange Sicht also auch in einer so anomalen und komplexen Situation wie der Chinas negativ aus: junge, von einem paradoxen Karrierestreben besessene Priester, „die ihre Zeit damit verbringen, Seilschaften zu knüpfen und nach den richtigen kirchlichen und politischen Adressen zu suchen, um Bischof zu werden. Alles andere verlieren sie vollkommen aus den Augen.“

Betende chinesische Kinder. [© Associated Press/LaPresse]

Betende chinesische Kinder. [© Associated Press/LaPresse]

Die an der Schwelle
Joseph Xing muss müde sein: Auf der kurzen Fahrt nach Jiading, 40km von Shanghai entfernt, ist er einfach eingenickt. Der Jetlag macht sich bemerkbar: Er ist gerade erst aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, wohin er mit den Beamten des Büros für religiöse Angelegenheiten gepilgert war. Aber in der kleinen Stadt im Shanghaier Hinterland erwartet man ihn schon: Mehr als hundert Firmungen sind angesagt – ein Termin, den er um nichts in der Welt versäumen würde. Vom Alter gebeugte Großmütter, herausgeputzte 50Jährige im Sonntagsgewand, Mütter mit Kleinkindern im Arm: Sie alle stehen Schlange, um sich das Kreuz auf die Stirn zeichnen und sich mit Öl salben zu lassen. Und viele Jungen und Mädchen, die sich dem Altar nähern voller Freude und mit einem Herzen, das so jung ist wie das des urbanen China, dessen Kinder sie sind.
Niemand hier nimmt die phantastischen Theorien irgendwelcher nordamerikanischer Intellektueller ernst, die voraussehen, dass sich schon bald die Hälfte des chinesischen Volkes „auf kulturellem Weg“ zum Christentum bekehrt haben wird. Aber es ist eine Tatsache, dass in Peking, Shanghai und in manch anderer chinesischen Großstadt jedes Jahr Tausende Jugendliche und Erwachsene in den katholischen Kirchen getauft werden. Manche davon nähern sich zufällig dem christlichen Leben, angezogen oft von den am wenigsten erwarteten, augenscheinlichsten Dingen: den Lichtern, mit denen die Kirchen zu Weihnachten geschmückt sind, der Orgelmusik und den liturgischen Gesängen, die sie vernehmen, wenn sie zufällig an einer Pfarrei vorbei kommen; oder einfach nur der Neugier, beispielsweise verstehen zu wollen, wer denn nun eigentlich dieser hl. Valentin war, dessen Festtag die Verliebten auf der ganzen Welt am 14. Februar begehen.
Sie reden nicht viel darüber, können nicht erklären, wovon sie sich angezogen fühlen. Für viele ist es am Anfang nur das emotionale Erlebnis, Worte der Verheißung und der Hoffnung gehört zu haben. Worte, die ins Herz treffen, dasselbe Herz, an das die Import-Evangelikalen appellieren. „Wenn man einmal in die Kirche eingetreten ist,“ erklärt Pater John, „gibt es andere Dinge, die auf geheimnisvolle Weise wirken: die Liturgie, die Geschichte Jesu, die man bei der Messe hört, der Anblick zufriedener, still ins Gebet versunkener Menschen.“ Sie wissen nichts von der großen Geschichte des Zeugnisses und des Martyriums, die das Geschenk des Glaubens auf chinesischem Boden bewahrt hat. Jenes Geschenk, das ohne eigenes Zutun und ohne Spannungen auch zu ihnen gelangen könnte. Und um die spontane Sympathie dieser „Anfänger“ nicht zu erschüttern, ist es an der Zeit – und das sagen alle –, die giftige Schlacke der kirchlichen Konflikte der Vergangenheit ebenso ad acta zu legen wie das Karrieredenken neuer Prägung, das von diesen Konflikten noch immer genährt wird.
Was den Rest angeht, weiß die Gilde junger Priester und Bischöfe in den Vierzigern, die sich anschickt, die Last der Verantwortung in der Kirche Chinas zu übernehmen, nicht so recht, wo sie anpacken soll. Und die Bedingungen, die für das Band der Gemeinschaft mit dem Papst ständig gestellt werden, sind nur ein Teil der verzwickten Situation, die sie vor sich haben. „Früher oder später, auf die ein oder andere Weise,“ meint Pater John, „wird es zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Peking und dem Vatikan kommen. Aber in der Zwischenzeit ändert sich hier alles viel zu schnell. Immer mehr der alten Zeugen verschwinden von der Bildfläche und vor uns liegt eine Welt in ständiger Bewegung. Wir wissen nicht mehr so recht, was wir tun sollen.“ Die chinesische Assimilierung der globalen Postmoderne ist dabei, alle sozialen und kulturellen Paradigmen der Vergangenheit zu verändern. Und die Aufgabe der Priester ist es, den Namen Christi in die immense Baustelle China hinaus zu tragen – zu einem Zeitpunkt, in dem sich der große Drache wieder häutet. Mit der Herausforderung, der Sache gewachsen zu sein und Strategien auszuarbeiten, die den jetzigen Anforderungen angepasst sind. Und mit dem Risiko, nicht zu erkennen, dass die Kirche auch jetzt – wie immer –, die Gelegenheit beim Schopf packen kann, wenn sie einfach nur sie selber ist.
Das ist es, was der alte Generalvikar Ai Zuzhang den jungen Priestern Shanghais auf seine Weise vorschlagen will. Und er tut es, während er mit ihnen die Messe zum 400. Jahrestag der Diözese Shanghai zelebriert: „Ich war reich,“ sagt er, „so reich, dass meine Familie meine Hausangestellten noch bezahlte, als ich schon Priester war. Ich hatte Gesundheitsprobleme, ich konnte nichts, wusste nicht, was Arbeit ist. Als ich ins Umerziehungslager kam, fragte ich mich: Wie soll ich das bloß aushalten? Und dabei war es das Geschenk, das mir Gott gemacht hatte! Auch mein Gesundheitszustand hat sich verbessert … Dasselbe könnte auch euch bei der Aufgabe passieren, die vor euch liegt. An die Zukunft, die vor euch liegt, wird der Herr Hand anlegen.“


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