Interview mit dem Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew.
Nursultan, der Multilaterale
Interview mit Nursultan Nasarbajew
von Gianni Valente
Der kasachische Präsident bei einer Pressekonferenz.
Auf geopolitischer Ebene bedeutet das den Versuch, konstruktive und fruchtbringende Kontakte zu 360 Grad anzuknüpfen. Das „Verlassen“ des russischen Bannkreises war hier weniger „traumatisch“ als anderswo. Der Machtverlust der russischen Minderheit hat die Kontakte zu Russland nicht beeinträchtigen können, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu China und insbesonders den Ländern des Arabischen Golfes konnten in den letzten Jahren sogar noch erheblich ausgebaut werden. So konnten nicht unbeträchtliche saudische Subventionen in die ehemalige Sowjetrepublik mit islamischer Mehrheit fließen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums war Kasachstan das erste Land, das sich seines Atomarsenals entledigte, viertgrößtes der Welt. Nasarbajew hat großes Interesse daran, die Partnerships mit westlichen Ländern, vor allem der Europäischen Union, auszubauen, ohne sich jedoch von Landesinteressen manipulieren zu lassen, wie man nicht nur bei der „Verteilung“ der mit den multinationalen Unternehmen abgeschlossenen Verträge zur Ausbeutung der Energievorkommen sehen konnte, sondern auch in der Strategie, das Landesterritorium und seine Strukturen nicht in die Militärkampagne gegen den Irak hineinziehen zu lassen.
Auch hinter der Originalität, mit der es Nasarbajew verstanden hat, sein Netz von direkten Beziehungen zu Repräsentanten der Religionen auszudehnen, steckt seine „multipolare“ Auffassung von geopolitischen Beziehungen. „Ich bin davon überzeugt,“ erklärt der kasachische Präsident, „daß kein einzelnes System der Menschheit Gleichgewicht, Stabilität und Fortschritt garantieren kann, ja, nicht einmal eines davon. Die einzig richtige Formel ist ‚Einheit in der Verschiedenheit‘, in der Multinationalität, in der Multikonfessionalität. Die Menschheit verfügt zu diesem Zeitpunkt der Geschichte, und das gilt auch für die Zukunft, nicht über ein Modell einer religiösen und kulturellen Zivilisation, das der ganzen Welt als ausschließliche Grundlage des Zusammenlebens auferlegt werden kann.“
Präsident Nasarbajew, wie würden Sie den interreligiösen Kongress beurteilen, der von Ihnen in Astana einberufen wurde?
NURSULTAN NASARBAJEW: Wir konnten etwas erleben, was man wohl als einzigartiges Ereignis bezeichnen kann. Zum ersten Mal fand eine Begegnung dieser Art in einem asiatischen Land wie Kasachstan statt, wo 70% der Einwohner dem sunnitischen Islam anhängen. In diesen Jahren, in denen die ganze Welt Zeuge wurde, wie der Terrorismus ungeahnte Ausmaße annahm und religiös angehauchte Kriege und Drogenhandel erlebt hat, konnten wir hier sehen, wie sich die wichtigsten politischen Leaders des Islam und des Judentums an einen Tisch setzten, in demselben Hotel logierten. Konnten die Treffen zwischen indischen religiösen Oberhäuptern und pakistanischen Leaders verfolgen.
Sind Sie mit dem Resultat zufrieden?
NASARBAJEW: Das multinationale Volk Kasachstans hat, nach Erreichung der Unabhängigkeit, in kurzer Zeit der ganzen Welt gezeigt, daß ein Land aufblühen, Erfolge verzeichnen kann, wenn der Staat Stabilität in der Toleranz garantiert. Bei uns leben 120 Nationalitäten und mehr als 40 verschiedene religiöse Denominationen. Wir hatten guten Grund, bei uns eine derartige Tagung auf die Beine zu stellen. Und ich bin sehr froh darüber, daß die Delegierten beschlossen haben, Kasachstan mit der Organisation des zweiten Kongresses zu betrauen. Für das Forum der Religionen wird – nach dem Vorbild der großen internationalen Organisationen – ein Ständiges Sekretariat eingerichtet werden.
Wie kommt es, daß gerade Sie, ein politischer Leader, der Harmonie zwischen den religiösen Konfessionen soviel Wert beimessen?
NASARBAJEW: Die in Kasachstan so tief verwurzelte Tradition des gegenseitigen Verständnisses und Respekts zwischen den Völkern ist das wichtigste Kapital, das wir „flüssig“ haben. Während die einen vom Zusammenprall der Zivilisationen reden, können wir hier die Erfahrung machen, daß der interreligiöse Dialog einer der Schlüsselfaktoren für die Gesellschaftsentwicklung und die Förderung des Wohlstands der Völker ist. Alle Leaders der hier in Kasachstan registrierten Religionen können bestätigen, daß ihre Gemeinschaften eine Zeit spirituellen Wachstums erleben. Unsere Vorfahren und andere Völker dieses Gebiets waren den Religionen der anderen nie feindselig gesinnt. Diese Lektion, die uns die Geschichte erteilt hat, sollten wir uns vor Augen halten, anstatt unangebrachte Urteile über die „negative Rolle des Islam in Zentralasien“ zu fällen.
In Ihren Ansprachen sprechen Sie oft von Eurasien als potentiellem geopolitischen Einheitssubjekt. Was meinen Sie, wenn Sie von „Eurasianship“ sprechen?
NASARBAJEW: Wenn ich bei den Debatten über die Globalisierung von Eurasien spreche, beziehe ich mich auf die Möglichkeit einer zunehmend größeren Integration des europäischen Kontinents mit dem asiatischen. Das als zukünftige Perspektive. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind wir, als ehemalige Sowjetrepubliken, daran interessiert, die wirtschaftliche Zusammenarbeit auszubauen. Der erste Schritt zur Förderung einer solchen Integration ist die gegenseitige Öffnung der Märkte, Freihandel zwischen den Ländern. Das Vereinte Europa braucht die Ressourcen des asiatischen Kontinents. Von hier ausgehend kann es dann zwischen Europa und Asien zu einer Politik gegenseitiger Unterstützung und Entwicklungshilfe kommen.
Sie, der Leader eines Landes mit islamischer Mehrheit, haben mehrfach Ihre freundschaftlichen Gefühle für die Christen unter Beweis gestellt.
NASARBAJEW: Das Christentum, in seinen verschiedenen Denominationen, ist die zweite Religion des Landes. Auch aus vielen Kongress-Beiträgen konnte man deutlich heraushören, daß jede Religion den einzigen Gott anbetet, daß es sich um verschiedene Wege handelt, den einzigen Gott zu erreichen. In diesem Sinne werde ich weiterhin jeder wirklich religiösen Realität in Kasachstan Respekt zollen. Ein demokratisches Land kann natürlich niemanden zwingen, dem ein oder anderen Dogma zu folgen. Mir bereiten nur jene pseudo-religiösen Gruppen Kopfzerbrechen, die es auf der ganzen Welt gibt, und die negatives Gedankengut verbreiten, was nicht nur eine Gefahr für den Glauben birgt, sondern auch für die bürgerliche Gesellschaft und für die Staaten.
G.V.