Studientagungen zur Aktualität des Augustinus
Der Wert Gerechtigkeit und die Auferstehung des Herrn
Die Beiträge, die Pietro Calogero, Oberstaatsanwalt am Gericht Padua, und Don Giacomo Tantardini, am 20. Mai 2003 an der Universität Padua gehalten haben.
von Pietro Calogero and Giacomo Tantardini
Von rechts, Dr. Pietro Calogero, Staatsanwalt am Gericht Padua, Don Giacomo, und, hinter Calogero, Prof. Vincenzo Milanesi, Rektor der Universität Padua (20. Mai 2003).
ich denke, daß sich Formalitäten bei der Einführung in diesen Abend erübrigen. Ich erlaube mir diese Direktheit, weil man inzwischen wohl sagen kann, daß Studientagungen zum Thema Augustinus an der Universität Padua sozusagen „an der Tagesordnung sind.“ Ich spreche aus Erfahrung: immerhin habe ich in den letzten Jahren, praktisch von Anfang an, stets an diesen Begegnungen teilgenommen.
Im Januar dieses Jahres, bei der Einleitung meines ersten Vortrags, sagte ich, daß dieser Zyklus inzwischen zur Tradition unserer Universität gehört. Und wenn diese Initiative auch weiterhin bei Studenten und Dozenten soviel kontinuierliches Interesse findet, dann liegt das meiner Meinung nach daran, daß sie eine an unserer Universität, ja, an allen Universitäten Italiens bestehende Nachfrage befriedigt.
In einer zusehends aufgesplitterten Welt des Wissens kommt eine Begegnung wie die unsrige, die sich den verschiedenen Wissensbereichen transversal entgegenstellt, einem präzisen Bedürfnis entgegen: ein Ort zu sein, in dem sich einem jeden – im figurativen Sinn –, mit seinen jeweiligen Fähigkeiten, seinem Charakter, seiner Sensibilität, seiner Meinung, die Gelegenheit der Konfrontation mit den anderen bietet, ausgehend vom Text einer zwar nicht a-kritisch akzeptierten, aber zu den heutigen Erfordernissen und Fragen in Bezug gestellten auctoritas. Die Universität – Ort der Synthese zwischen den verschiedenen Wissensgebieten – muß solche Initiativen ganz einfach fördern.
Und das ist auch der Grund dafür, warum ich der Entscheidung, die Einführung der einzelnen Tagungen nicht Augustinus-Experten anzuvertrauen, sondern Dozenten und Leitern verschiedener humanistischer und wissenschaftlicher Fakultäten, nur beipflichten kann. Und auch dafür, warum wir heute einen so namhaften Gast wie Dr. Pietro Calogero, Oberstaatsanwalt am Gerichtshof Padua, bei uns haben, der bereits mehrfach als Zuhörer an diesen Tagungen teilgenommen hat.
Was ich noch sehr befürworte, ist der Umstand, daß diese Tagungen in Form von Vorträgen ablaufen, von lectiones. Es handelt sich dabei um die älteste didaktische Formel unserer Universitätstradition, die auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren hat, vor allem, wenn man von den Werken der großen Klassiker ausgeht – wozu man Augustinus mit Recht zählen kann –, jenen Autoren also, die auch nach Jahrhunderten noch Geist und Seele des Menschen erquicken.
Die Vorträge von Don Tantardini, die, von Augustinus ausgehend, eine Betrachtung der für die Kirchengeschichte und die moderne Welt wesentlichen Momente anbieten, sind der Beweis dafür. Und schließlich ist es einem gebürtigen Brescianer wie mir unweigerlich eine Freude, daß einer der am meisten zitierten Autoren Giovanni Battista Montini ist, dessen zentrale Bedeutung im Laufe der Zeit immer deutlicher heraustritt: er ist eine der namhaftesten Gestalten der Geschichte des Jahrhunderts, das wir gerade hinter uns gelassen haben.
Ich finde es wichtig, daß Initiatven wie diese hier auch in Studentenkreisen und bei Personen verschiedener Kulturen, ja, auch andersgerichteter Denkströmungen, Interesse finden. Ein Dialog also, den wir, als Universität, ganz einfach fördern müssen, und zwar innerhalb und außerhalb unserer Hörsäle. Ich erteile nun Dr. Calogero das Wort und gebe noch einmal, im Namen der Universität wie auch in meinem eigenen, der Hoffnung auf eine glückliche Fortsetzung dieser Studientagungen Ausdruck.
Vincenzo Milanesi
Rektor der Universität Padua
Marcus Tullius Cicero spricht von der Kanzel zu einem gelehrten Publikum, Miniatur aus einer Kopie der Orationes (15. Jh.), Vatikanische Apostolische Bibliothek.
Pietro Calogero
Mein besonderer Dank gilt vor allem denen, die mich eingeladen haben, allen hier Anwesenden, Don Giacomo Tantardini, und natürlich dem ehrenwerten Rektor dieser Universität. Sie alle haben mir die Möglichkeit gegeben, mich noch einmal in weit entfernte Zeiten zurückzuversetzen, in die Gymnasialzeit, in der unser aller Wunsch, für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten, von den Worten Augustinus’ erleuchtet wurde. Jenem Augustinus, der die befreiende Hoffnung und die in uns allen wohnende Wahrheit in den Mittelpunkt seiner Werke gestellt hatte. Worte, die uns begeisterten, weil durch sie in uns der Glauben verankert wurde, daß der Einzelne sehr wohl die Möglichkeit hat, sich für eine gute Zukunft einzusetzen.
Im Vertrauen auf die Geduld und das Verständnis der hier Versammelten, und ganz besonders Don Giacomos, inspirierter Kenner des augustinischen Denkens, beschränke ich mich in diesen wenigen, einleitenden Minuten darauf, auf einige Aspekte der Reflexionen Augustinus’ über die Gerechtigkeit einzugehen, deren Aktualität ich dann mit Ihnen gemeinsam betrachten möchte. Genauer gesagt die Anwendung der Gerechtigkeit in der Politik, im Bereich der Beziehungen zwischen der Autorität, die regiert, und der Gemeinschaft der Regierten, und allgemeiner, das Wirken der Regierung in allen Bereichen der civitas. Dabei möchte ich allerdings das vorausschicken, was Fachleute auf diesem Gebiet ohnehin wissen: daß Augustinus weder eine Theorie der Politik formulieren, noch eine Staatslehre begründen will. Für ihn ist Politik alles andere als Abstraktion: in das Leben des Menschen, eines jeden Menschen (Herrscher oder Untertan) eingesenkt, ist sie eines der Rinnsäle, die die Wege entlangfließen, die die Reise des Menschen vom Weltstaat zum Gottesstaat begleiten, und, im Jenseits, zum ewigwährenden Genuß des Schöpfers und zum ewigen Frieden.
Allein aus diesem – praktischen, nicht theoretischen – Grund stellt Augustinus Reflexionen über Politik und Gerechtigkeit in der Politik an.
Im 21. Kapitel des II. Buches von De civiate Dei befaßt er sich mit drei Überlegungen, die Scipio (der Eroberer Karthagos) in Ciceros De re publica zum Thema der Organisation des Staates (res publica) und die Beziehungen zur bürgerlichen Gesellschaft (civitas) anstellt, und somit der reifen Philosophie Roms (und dem ähnlichen griechischen Denken) diesbezüglich definitiv Gestalt verleiht.
„Was die Musiker beim Gesang Harmonie nennen,“ erläutert Scipio, „wird in der bürgerlichen Gesellschaft Eintracht genannt; und jene, in der sich jenes intensive und tiefe Band der Einheit widerspiegelt, das die Integrität und das Überleben [vinculum incolumitatis] eines jeden staatlichen Organismus’ garantiert, kann auf gar keinen Fall ohne Gerechtigkeit auskommen [sine iustitia nullo pacto esse posse].“ Als er dann, wenig später, aufgefordert wird, zu der weit verbreiteten Meinung Stellung zu nehmen, daß es nicht möglich wäre, zu regieren, ohne Ungerechtigkeiten zu begehen, beharrt Scipio darauf, daß „es nicht nur falsch sei zu meinen, der Staat könne nicht verwaltet werden, ohne dabei auf unrechtmäßige Handlungen zurückgreifen, sondern vielmehr absolut wahr, daß er sich nicht aufrecht halten könne, ohne große Gerechtigkeit walten zu lassen.“
Die von Scipio also unweigerlich gezogene Schlußfolgerung ist lapidar: „Dann also gibt es den Staat [res publica], im Sinne einer Sache des Volkes [res populi], wenn er mit Ehrlichkeit und Gerechtigkeit entweder von einem Monarchen, von ein paar Oligarchen oder vom ganzen Volk verwaltet wird. Ist der Herrscher aber ungerecht, und zwar so sehr, daß er – wie bei den Griechen üblich – den Namen Tyrann verdienen würde, oder sind die Oligarchen ungerecht, eine Faktion formend, oder ist das Volk ungerecht..., dann ist der Staat nicht nur morsch, sondern ganz und gar inexistent, weil er sich nicht mit der Sache des Volkes identifiziert [res populi], und ihn der Tyrann oder die Faktion übernommen haben. Das Volk selbst wäre, sollte es ungerecht sein, nicht mehr das Volk, weil es nicht länger eine Pluralität von Personen darstellen würde, die vom Konsens bezüglich der gegenseitigen Anerkennung der Rechte und von gemeinsamen Interessen [multitudo iuris consensu et utilitas communione sociata] zusammengehalten werden. Diese Gedanken, die die Bedeutung und die letztliche Rolle der Gerechtigkeit vom Bereich der [individuellen und kollektiven] Moral auf den der Politik und der Schaffung staatlicher Strukturen ausdehnen, bis zu dem Punkt, sich selbst als Basis eines weitgehend geteilten und möglicherweise universalen Zivilisationsmodells vorzuschlagen, sind Ausdruck einer sowohl profanen als auch sakralen Kultur-Tradition, die in der Welt des Altertums verbreitet war und die sich Augustinus nicht nur zueigen machte, sondern auch weiterentwickelte und präzisierte (Buch IV, Kapitel 4 und Buch XIX, Kapitel 21 des De civitate Dei).
Die erste der zitierten Passagen ist weithin bekannt: darin wird die Begegnung zwischen Alexander dem Großen und einem ihm in die Hände gefallenen Piraten erzählt, und – scheinbar paradox – das Reich des ersteren mit der von letzterem angeführten Räuberbande verglichen.
„Remota iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? / Was wären die Reiche ohne die Gerechtigkeit anderes als große Räuberei?“ schickt Augustinus voraus.
Das ist der springende Punkt, und Augustinus erklärt ihn wie folgt: selbst eine Räuberbande ist doch in Wahrheit stets eine Vereinigung von Menschen mit einem Anführer, der das Sagen hat; eine Vereinigung, in der ein für alle verbindlicher Sozialpakt gilt, es eine Beute gibt, die nach bereits festgelegten Regeln geteilt wird. Wenn diese Bande aber wächst, sich also mit anderen verbrecherischen Menschen zusammenschließt, wenn sie anfängt, Gebiete und Städte zu beherrschen, dort ihr Lager aufschlägt, Völker unterwirft – dann kann sie sich wohl den Titel „Reich“ anmaßen, der ihr in der Tat durch die erlangte Straffreiheit gesichert ist, und nicht durch die verdrängte Gier (Machthunger): das ändert aber nichts daran, daß sie immer noch jene Bande von Missetätern ist, der der Gedanke der Gerechtigkeit fremd war und bleibt.
Die Gerechtigkeit ist also für Augustinus der einzige Wert, der den Unterschied ausmacht: nicht nur eine Person von der anderen unterscheidet, sondern auch ein Volk vom anderen, und vor allem eine „civitas constitua“, eine staatlich organisierte Gemeinschaft, von der anderen. Und genau aus diesem Grund ist für ihn die Antwort, die der Pirat Alexander dem Großen gegeben hat, „geistreich und wahr“: „Als ihn der König fragte, warum er denn das Meer unsicher mache, antwortete er frei heraus: aus demselben, aus dem du das Land unsicher machst; mich aber nennt man einen Piraten, weil ich es mit einem kleinen Schiff tue, dich dagegen – der du eine ganze Flotte hast – einen Herrscher.“
Den Gedanken von der Schlüsselrolle der Gerechtigkeit bei der Bildung der Staaten und grundlegenden Regierungsformen weiterführend, illustriert Augustinus in Buch XIX eine auf den ersten Blick unwahrscheinliche Hypothese: die nämlich, die – laut einer von Scipio in De re publica gegebenen Definition – besagt, daß es nie eine römische Republik gegeben hat, weil sich der römische Staat niemals mit der „Sache des Volkes“ (res populi) identifiziert hat, da es ihm nicht gelungen ist, ein auf gerechte Regeln gegründetes System zu schaffen.
Wenn – wie von dem römischen Juristen Ulpian überliefert – „die Gerechtigkeit jene Tugend ist, die jedem das Seine gibt, / iustitia ea virtus est quae sua cuique distribuit/ „welche Gerechtigkeit ist dann die jenes Menschen,“ fragt sich Augustinus, „der den Menschen dem wahren Gott entzieht und ihn abscheulichen Dämonen unterwirft?“. Doch gerade das ist den Römern in ihrer Republik passiert: bösen, scheußlichen Dämonen nicht nur zu dienen, sondern sogar Opfer zu bringen; und indem sie also so dem einzigen Gott, Schöpfer der Menschen, nicht das Seine gegeben haben, haben sie keine Gerechtigkeit walten lassen.
Seine Perspektive ausweitend, ruft Augustinus kategorisch aus: „Wo es keine wahre Gerechtigkeit gibt, kann es auch keine Vereinigung von Menschen geben, die auf die einvernehmliche Anerkennung der Rechte jedes einzelnen gegründet ist, und daher auch kein Volk, laut der von Scipio und Cicero gegebenen Definition; und wenn es kein Volk gibt, gibt es auch keine Sache des Volkes, sondern nur die einer x-beliebigen Masse, die den Namen ‚Volk‘ nicht verdient. Oder vielmehr: wenn die Republik die Sache des Volkes ist und es dort, wo es keine durch gegenseitige Anerkennung der Rechte verbundene Vereinigung von Menschen gibt, auch kein Volk gibt, wenn es ohne Gerechtigkeit keine Rechte gibt, muß man folgern, daß es ohne Gerechtigkeit auch keine Republik gibt / ubi non est vera iustitia, iuris consensu sociatus coetus hominum non potest esse et ideo nec populus iuxta illam Scipionis vel Ciceronis definitionem; et si non populus, nec res populi, sed qualiscumque multitudinis quae populi nomine digna non est. Ac per hoc, si res publica res est populi et populus non est qui consensu non sociatus est iuris, non est autem ius ubi nulla iustitia est: procul dubio colligitur, ubi iustitia non est non esse rem publicam.“
Hier finden sich also, in präziser und synthetischer Form, die Grundzüge der Vorstellung des Augustinus von auf die Politik angewandter Gerechtigkeit, die von ihm – wohlgemerkt – im menschlichen (und nicht im theologischen oder übernatürlichen) Sinne verstanden wurde, bzw. als bonum des irdischen Lebens, das, im Rahmen dessen, was der Mensch verwirklichen kann, von allen, Regierten und Regierenden, als Verhaltensmodell und unersetzbare Wegzehrung für den Zugang zur civitas Dei angestrebt werden mußte.
An diesem Punkt angelangt, drängen sich einige Betrachtungen zu Aktualität und Gültigkeit der oben genannten Konzepte auf.
Zunächst einmal muß herausgestellt werden, daß sich aus dem augustinischen Gedanken – , daß die Gerechtigkeit nicht nur ein Regelungsprinzip für Politik und Regierung ist, sondern etwas viel Weiterreichenderes und Tiefergehenderes, nämlich das Grundprinzip des moralischen und sozialen Lebens der Person – wiederum jener ableiten läßt, daß in der Ordnung der dem Gewissen und dem Willen des Menschen vorschlagbaren Werte die Gerechtigkeit vor der Politik kommt, und daß sie im Unterschied zu dieser, die ein Mittel oder eine Funktion für die Umsetzung des Rechten oder des Gemeinwohls ist, ein Zweck ist, dem sich sowohl die constituta, also die Organisationsstrukturen des Staates, als auch die durch die staatlichen Organe hervorgebrachten legislativen, administrativen und judikativen Akte anpassen müssen.
Es steht außer Zweifel, daß dieser Definition heute u.a. auch diejenigen der jetzigen Regierungsklasse – nicht nur in Italien – Rechnung tragen müssen, die, aus Gründen der Logik der Marktes, aus persönlichen Motiven oder Machtinteressen, Verhaltensmodelle annehmen, die nicht mehr die Wahrung allgemeiner Interessen im Auge haben, wenn nicht gar den Primat der Politik über jeden möglichen anderen Wert. Die Folge ist, daß die Prinzipien und Regeln der Gerechtigkeit bei wichtigen politisch-institutionellen, wirtschaftlichen oder finanziellen Optionen außer Acht gelassen werden.
Die zweite Überlegung ist folgende: von den verschiedenen Werten mit finaler Valenz ist die Gerechtigkeit der einzige, der vervollständigenden Charakter besitzt: insofern als sie nämlich den Inhalt anderer Werte komplementiert und bereichert (wie schon der unvergessene Rechtsphilosoph Enrico Opocher in seinem berühmten, in der Enciclopedia del Diritto, Bd. XIX, 1970 veröffentlichten Essay über die „Gerechtigkeit“ betonte).
So kann man beispielsweise leicht feststellen, daß eine Freiheit ohne Gerechtigkeit – wie die Geschichte gezeigt hat – nicht nur zu Unterdrückung und Machtmißbrauch führt, sondern, im äußersten Fall, auch ein System der Gewalt und des Terrors hervorbringen kann. Nur wenn sie an die Gerechtigkeit gebunden ist, verliert die Freiheit diese negative Potentialität. Somit kann man die Gerechtigkeit also durchaus als positiven Inhalt der Freiheit bezeichnen.
Auch Ordnung und Sicherheit sind Werte, die sich als solche verstehen, sofern die Gerechtigkeit einer ihrer Inhalte ist: umgekehrt kann eine Ordnung ohne Gerechtigkeit lediglich eine Sicherheit merkantilistischer oder formeller Art, bzw. hierarchischer und autoritärer Prägung gewährleisten, und ist somit weit davon entfernt, die egalitären und humanitären Bestrebungen zu befriedigen, die unser Gewissen plagen.
Dasselbe gilt für den Frieden. Der – wenn die Gerechtigkeit fehlt – nur Schein ist, oder gar – schlimmer – ein Frieden sein kann, der Ungerechtigkeiten vertuscht, Intoleranz rechtfertigt, usw.
Unbestreitbar wahr ist jedoch das, was Augustinus lehrt, wenn er in der Gerechtigkeit die unausweichliche Regel (virtus) nicht nur für das individuelle und kollektive Verhalten entdeckt, sondern auch für die Organisation und das Funktionieren der Staaten, ja gar von deren Beachtung das Überleben letzterer abhängig macht.
„Iustitia omnium virtutum comes / Die Gerechtigkeit ist Gefährtin aller Tugenden,“ präzisiert Augustinus an einer anderen Stelle und erinnert damit an Cicero, der die Gerechtigkeit als „omnium domina et regina virtutum“ definiert, als „Herrin und Königin aller Tugenden“.
Dritte Überlegung: in allen augustinischen Feststellungen zur Rolle der Gerechtigkeit im privaten wie auch öffentlichen Bereich spielt die Person eine zentrale Rolle. Denn schließlich ist sie Adressat von Rechten (aber auch Pflichten, deren Erfüllung für die Erreichung des letzten Ziels [die Umsetzung der Gerechtigkeit] wesentlich ist) sowohl im ethischen als auch politischen Handeln.
In jedem – nicht allgemein verstandenen, sondern historisch bestimmten – Menschen wohnt nicht nur die Wahrheit („in interiore homine habitat veritas“), sondern auch die Gerechtigkeit. Jene Gerechtigkeit, die in ein einziges Gewebe die äußersten Bestandteile einwebt, die die Würde des Menschen bestimmen (bzw. viele derer, die wir heute unter der Bezeichnung „grundlegende Menschenrechte“ kennen), und die sich auch heute noch als höchste Errungenschaft darstellt, die das aufrechte bürgerliche Gewissen anstreben kann oder das Bemühen derer, die in Politik und Institutionen das Sagen haben.
Im augustinischen Denken, wie in der fortschrittlichsten politischen Kultur von heute ist die Person caput et fundamentum des rechtlichen und institutionellen Systems der Staaten: folglich kann es keine Rechtfertigung geben für eine Politik, die beim Verfolgen ihrer Zwecke auch nur eines der Grundrechte der Person verletzt, was umso mehr gilt, wenn diese nichts von den auf dem Spiel stehenden Interessen weiß oder unschuldig ist. Es gibt in der Tat keinen Zweck, der eine Ungerechtigkeit auch nur gegen einen einzigen Menschen rechtfertigen kann.
Vierte und letzte Überlegung. Wenn man von der Gerechtigkeit als einem Wert spricht, der im Herzen eines jeden Menschen wohnt und der, sofern konkret umgesetzt, ein Gut darstellt, aus dem alle Freude ziehen können, wie Don Giacomo in seinen Lektionen deutlich herausgestellt hat, ist offensichtlich, daß sie Augustinus nicht als einen transzendenten, unveränderlichen und unbeweglichen Wert versteht, sondern als Kategorie der Geschichte, eine Kategorie des Menschlichen, und folglich als einen Wert, der in Bewegung ist, voranschreitet, der dazu neigt, sich nach und nach, mit der Entfaltung des Lebens des Menschen, zu vollziehen, vom Weltstaat zum Gottesstaat verläuft und immer höhere Stufen der Vollkommenheit erreicht.
Aus der Darstellung der Gerechtigkeit als Kategorie des Menschlichen ergeben sich zwei grundlegende Merkmale derselben: ein an die Geschichte und ein an die Person gebundenes. Daraus ergibt sich ein nicht eliminierbarer Relativitätscharakter, was überdies keine Schwächung der Idee von Gerechtigkeit bedeutet, sondern eine Fruchtbarkeit, aufgrund derer man sehr wohl sagen kann, daß es nicht nur eine einzige Idee von Gerechtigkeit gibt, sondern soviele wie es Ideologien gibt, zu denen man sich, zu gegebenen Zeiten und an gegebenen Orten, auf der Grundlage des ulpianischen „unicuique suum tribuere“ oder des augustinischen „iuris consensus“ bekennt.
Als Modell des individuellen, sozialen und institutionellen Lebens wird die Gerechtigkeit von Tag zu Tag konstruiert, durch alle und in der Verantwortung aller. Und indem sie sich, aufgrund genannter Bindung an die Geschichte und die Person, mit der Geschichte eines jeden Menschen identifiziert, ähnelt sie einer auf den Kopf gestellten Pyramide, deren Spitze in der Tiefe des Gewissens und des Willens des Wesens versinkt, jedes menschlichen Wesens, wo immer es auch leben oder wirken mag. Jede Person hat also die (intellektuellen, den Willen betreffenden, moralischen) Mittel, zum Bau des Werkes der Gerechtigkeit beizutragen, und zwar sowohl als Einzelner als auch an eine Gemeinschaft oder Organisation Gebundener; gerade wegen der oben erwähnten Merkmale kann das nämlich keiner Struktur anvertraut werden, auch keiner Regierungsstruktur.
Abschließend ist anzumerken, daß wenn in einem jeden von uns – den überaus aktuellen Reflexionen des Augustinus folgend – das Bewußtsein erwacht, daß es nicht nur ein einziges menschliches Gerechtigkeitsmodell gibt, sondern daß die von anderen Kulturen und Völkern ausgearbeiteten Modelle in Betracht gezogen, respektiert und mit dem unseren konfrontiert werden müssen, effektiv der Weg für die Kommunikation, den Dialog und die Konfrontation geebnet werden kann – bis zum Erreichen des Baus einer höheren Form der Gerechtigkeit. Einer Gerechtigkeit, die dann endlich wirklich Werkzeug und Antriebsfeder des Friedens, der Einheit und der Harmonie unter den Menschen wäre, wie verschieden diese aufgrund ihrer Kultur, Rasse, Sprache und Religion auch sein mögen; was schließlich auch die Erreichung dieser höchsten Herrlichkeit bedeutet, die, für Augustinus, in „obtinere pacem pace non bello / der Erreichung des Friedens durch den Frieden, nicht durch den Krieg“ besteht.
Giacomo Tantardini
Ich danke Dr. Calogero für seine so einschneidenden Worte zu den Dingen, die wir bei diesen unseren Begegnungen besprechen. Ich bin versucht, das, was ich vorbereitet habe, beiseite zu legen und vielmehr zu den Ausführungen Stellung zu nehmen, die der Herr Oberstaatsanwalt eben illustriert hat. Drei Dinge des eben Gehörten haben mich ganz besonders beeindruckt: sie erscheinen mir zutiefst augustinisch und zutiefst aktuell.
Das erste ist der Verweis darauf, daß die Gerechtigkeit im menschlichen Sinne, deren Aufgabe ist, jedem das Seinei zu geben, ein bonum des Weltstaates ist. Eine gute Sache, ein Gut des Weltstaat, jenes Staates, den Augustinus mit einem Realismus beschreibt, der durch die Episode um Alexander den Großen und den Piraten herausgestellt wird.
Todesangst Jesu am Ölberg, Duccio di Buoninsegna, Museo dell’Opera del Duomo, Siena.
Das letzte, wofür ich wirklich dankbar bin, sind schließlich seine abschließenden Hinweise auf die Geschichtlichkeit der menschlichen Gerechtigkeit und deren Relativität. Ich glaube, daß es das ist, was Augustinus am meisten herausstellt – auf die ihm eigene, so originelle Weise – wenn sich dieses Thema doch sehr wohl auch in der christlichen Philosophie findet: die Geschichtlichkeit und die Relativität der Gerechtigkeit des Weltstaates im Vergleich zu jener Gerechtigkeit, die unentgeltliche Gabe Gottes ist. Aber diese Geschichtlichkeit und Relativität, wie Herr Oberstaatsanwalt ausführte, sind Möglichkeit der Fruchtbarkeit, sind Möglichkeit, alle historischen Modelle zur Geltung zu bringen, ohne den anderen irgendetwas aufzudrängen, sind Erleichterung des Dialogs und der Valorisierung.
Von den vielen Dingen, die wir gehört haben, und die wir später in unseren Anmerkungen nachlesen sollten, ist die erste, daß die Gerechtigkeit ein bonum ist, ein Gut des Weltstaates, jenes Staates, der hier auf Erden sein Gutes hat, relativ und doch real, aus dem er, soweit möglich, Freude zieht4. Augustinus beschreibt mit extremem Realismus die konkrete Befindlichkeit des Weltstaates, bekräftigt z.B. einerseits, daß man den römischen Staat, Verfolger der Christen, nicht als wahre res publica betrachten dürfe, da es in ihm nie wahre Gerechtigkeit gegeben habe5; und geht andererseits soweit zu sagen, daß im Staat selbst eine gewisse Schönheit liege: „habet modum quendam pulchritudinis suae“6. Er spricht von menschlicher Gerechtigkeit, der Schönheit des menschlichen Zusammenlebens, der Schönheit des Versuchs, die bürgerliche Gesellschaft zu organisieren.
Das zweite ist, daß dieses bonum des Weltstaats in der menschlichen Natur verwurzelt ist, einer menschlichen Natur, die von der Ursünde verwundet wurde, in der das Bild des Schöpfers jedoch gar nicht zerstört ist7. Eine menschliche Natur, in der die Öffnung für die Schönheit, die Wahrheit, die Güte, die Gerechtigkeit bleibt. Mit einem Wort: eine verwundete menschliche Natur, und dennoch capax Dei.
Dritter Punkt: die Geschichtlichkeit des hier Dargelegten. Gerade wegen dieser Geschichtlichkeit ist das De civitate Dei von kontinuierlicher Unmittelbarkeit und Klarheit. Voller Realismus beschreibt Augustinus die Dinge so, wie sie sind. Dieser Realismus macht es möglich, nichts aufzuzwingen, jede positive Möglichkeit herauszustellen. Von allem Gehörten, hat mich dieser Ansatz am meisten beeindruckt – neben den Zitaten aus Ciceros Dialog zur res publica. Eines, was wir bereits herausgestellt haben, und was mir doch sehr interessant, sehr aktuell, zu sein scheint, ist, daß Augustinus bei der Auffassung vom Menschen, der Vorstellung des bona naturae, des Guten der Natur, nicht die neoplatonische Tradition zur Geltung bringt, sondern die römische, die Varros und Ciceros. Auch auf kultureller Ebene scheint mir das wirklich eines der interessantesten und aktuellsten Dinge zu sein, die wir herausgestellt haben. Augustinus – der normalerweise als platonischer Christ hingestellt wird – stellt in der Auffassung von der menschlichen Natur und den wesentlichen Elementen der menschlichen Natur die relativistische römische Tradition heraus (ich meine „relativistisch“ in dem Sinne, in dem Herr Oberstaatsanwalt Calogero von Geschichtlichkeit und Relativität sprach) und nicht die Tradition des Neoplatonismus“8. Auch dieser Aspekt ist von überraschender Aktualität (und ich beziehe mich dabei auf die letzten, von Herrn Staatsanwalt gegebenen Hinweise).
1. Tractatus in Ioannis Evangelium 60, 2-3.5
Auch als Beweis der Wertschätzung dieser philosophischen römischen Tradition gehen wir nun zum ersten der Texte über, die wir hier auszugsweise lesen und zusammenfassen wollen. Es handelt sich um den Kommentar des Augustinus zu einem Vers des Johannes-Evangeliums (Joh 13,21), wo Johannes schreibt, daß Jesus zutiefst erschüttert war, als er Judas nach dem Letzten Abendmahl weggehen sah. Im Lateinischen wird der Begriff turbari gebraucht. „Turbatus est ergo potestatem habens ponendi animam suam, et potestatem habens iterum sumendi eam. / Gewankt hat also der, der die Macht hat, sein Leben zu geben und die Macht hat, es zu nehmen. / Turbatur tam ingens potestas, / Übt das Erschüttertsein eine so große Macht aus, / turbatur petrae firmitas, / wankt dieser so unbewegliche Stein, / an potius in eo nostra turbatur infirmitas? / oder ist denn nicht in ihm erschüttert unsere Gebrechlichkeit?“. Augustinus sagt klar und deutlich, daß Christus nicht als Gott, sondern als Mensch erschüttert war, indem er nämlich die Zerbrechlichkeit der menschlichen Natur angenommen hat; und er fügt noch hinzu, daß er erschüttert ist, und das wird er wiederholen, damit auch wir keine Angst vor diesem Erschüttertsein haben.
„[...] Qui mortuus est pro nobis, turbatus est idem ipse pro nobis. / Er, der für uns gestorben ist, wankte für uns;“. Es gefällt mir, dieses turbatus est mit „er wankte“ zu übersetzen, einen Begriff, der dieses so zerbrechliche Menschsein ausdrückt. Er hat diese menschliche Zerbrechlichkeit für uns angenommen;
„[...] transfiguravit etiam in se affectum infirmitatis nostrae. / er hat in sich verklärt unsere so schwache Liebeskraft [ein wunderschöner Ausdruck: affectum infirmitatis nostrae]. / [...] nos ipsos in illius perturbatione videamus, ut quando turbamur, non desperatione pereamus. / In seinem Erschüttertsein müssen wir uns selbst erkennen, damit wir, wenn wir erschüttert sind [wenn auch wir wanken] nicht in Verzweiflung versinken. / [...] Pereant argumenta philosophorum, qui negant in sapientem cadere perturbationes animorum. / Damit sich die Argumente der Philosophen entkräftigen, die meinen, daß ein gelehrter Mensch solches Erschüttertsein nicht empfinden kann“. Gemeint sind jene Philosophen, die von der Unerschütterlichkeit der Gelehrten sprechen. Vorhin, als ich mit Herrn Oberstaatsanwalt sprach, erzählte er mir von seiner Freundschaft mit Falcone [berühmter ital. Richter, der 1992 in Sizilien einem Attentat zum Opfer fiel], von den letzten Monaten seines Lebens, der Angst. Diese Menschlichkeit ist es (die Menschlichkeit eines Menschen, der angesichts einer Gefahr Angst empfindet), die der Eingeborene Sohn Gottes angenommen hat; diese Menschlichkeit, die im Angesicht des Todes Angst empfindet, die der Sohn Gottes verklärt hat, damit wir angesichts dieses Angst-Empfindens nicht verzweifeln.
„[...] Turbetur plane animus christianus / Mag die christliche Seele nur erschüttert werden.“. Wir könnten übersetzen: „Non abbia paura di questa fragile sensibilità l’animo cristiano“. Hier stellt Augustinus, in Anlehnung an Varro und Cicero, die vier Leidenschaften der menschlichen Seele heraus: Furcht, Traurigkeit, Verlangen, Freude;
„[...] timeat ne pereant homines Christo, / Mag [die christliche Seele] ruhig fürchten, daß sich die Menschen von Christus entfernen, / contristetur [...] / Traurigkeit empfinden [...]“. Wie aktuell ist doch der Begriff contristetur auch im Bezug zu einem gewissen katholischen Formalismus, für den ein künstliches Lächeln auf den Gesichtern gewisser Katholiken fast schon zu einem „Abzeichen“ geworden zu sein scheint. „Von Amts wegen Begeisterte“ nennt sie Pavese in seinem Tagebuch9. Jenes Lächeln, das für den, der sie beobachtet, eher ein Grund für Verzweiflung, denn tiefe Traurigkeit ist;
„contristetur cum perit aliquis Christo; / mag sie nur Traurigkeit empfinden, wenn sich jemand von Christus entfernt; / concupiscat adquiri homines Christo, / mag sie nur wollen, daß die Menschen für Christus gewonnen werden, / laetetur cum adquiruntur homines Christo: / mag sie sich nur freuen, wenn jemand für Christus gewonnen wird: / timeat et sibi ne pereat Christo, / soll sie auch für sich selbst fürchten, sich von Christus zu entfernen, / contristetur peregrinari se a Christo; / mag sie nur Traurigkeit empfinden, wenn sie von Christus entfernt ist; / concupiscat regnare cum Christo / mag sie nur wünschen, mit Christus zu herrschen“. Mit Christus bereits hier auf Erden herrschen. Augustinus meint im Buch XX des De civitate Dei, daß bereits hier auf Erden die Seinen mit Ihm herrschen, bereits hier auf Erden die Seinen in spe, voller Staunen, die unentgeltliche Möglichkeit des Besitzes, der Freude, erleben10;
Der auferstandene Jesus mit den Aposteln, Duccio di Buoninsegna, Museo dell’Opera del Duomo, Siena.
Erlauben Sie mir, eine bereits zitierte Passage aus dem XIX. Buch von De civitate Dei12 vorzulesen. Der Herr Oberstaatsanwalt hat ja bereits auf die Aktualität und große – auch poetische – Schönheit dieses Buches aufmerksam gemacht. Augustinus spricht von Cicero und Varro, von relativistischen Philosophen also. „Cum dicant et verum dicant / Da [diese Philosophen] sagen, und sie sagen die Wahrheit, / hanc esse naturae primam quodam modo et maximam vocem / daß das irgendwie die erste und die größte Stimme [d.h. die größte Erfordernis] der Natur ist, / ut homo concilietur sibi et propterea mortem naturaliter fugiat / daß der Mensch mit sich selbst in Harmonie ist [sich seiner selbst annimmt] und daher natürlich vor dem Tod flieht, / et sibi amicus / und sich selbst so sehr Freund ist / ut esse se animal et in hac coniunctione corporis atque animae vivere velit vehementer atque appetat / daß es ihn mit aller Kraft danach verlangt, am Leben zu bleiben und in dieser Verbindung von Leib und Seele zu leben“. Es ist also naturwidrig zu behaupten, wie das der Gnostizimus tut, daß sich die Seele vom Leib befreien muß. Die Stimme, der Ruf der Natur ist, daß es den Menschen mit aller Kraft danach verlangt, in dieser Einheit von Seele und Leib zu leben, und er daher mit aller Kraft dem Tod entgehen will, weil der Tod die Trennung dieser Freundschaft zwischen Leib und Seele ist13.
Der Jude Jesus, wie Péguy sagt, hatte Angst vor dem Tod. „Quid est ergo quod ille turbatus est, / Warum hatte er also Angst [vor dem Tod], / nisi quia infirmos in suo corpore, hoc est in sua Ecclesia, suae infirmitatis voluntaria similitudine consolatus est? / wenn nicht deshalb, um durch die freigewählte Ähnlichkeit seiner Schwäche in seinem Leib, der seine Kirche ist, die Gebrechlichen zu trösten [die Zerbrechlichen, Schwachen, also uns alle] / Ut si qui suorum adhuc morte imminente turbantur in spiritu, / So daß jene der Seinen, welche sich im Angesicht des Todes wanken fühlen / ipsum intueantur, / Ihn ansehen, / [...] ne nobis desperatio salutis oriatur. / [...] damit in uns nicht Verzweiflung am Heil aufsteigt. / [...] Carnis quippe ille gerebat infirmitatem, quae infirmitas resurrectione consumpta est. / [...] Er trug nämlich die Gebrechlichkeit [die Zerbrechlichkeit, die Schwäche] des Fleisches mit sich, jene Gebrechlichkeit, die seine Auferstehung besiegt hat“.
2. Sermo 229/J, 2-5
Der zweite Text, den ich vorlesen möchte, ist zur Auferstehung des Herrn. Ich lese ihn vor allem deshalb, weil „das der Glaube der Christen ist, die Auferstehung Christi“14, und auch, weil darin viele Dinge gesagt werden, die wir bei unseren Treffen angesprochen haben. Es ist eine Homilie vom Mittwoch der Woche nach Ostern. Augustinus polemisiert gegen den Gnostizismus, ganz besonders gegen den Gnostizismus der Manichäer.
„Solent autem, quando illis haec obiciuntur, ita respondere: / Wenn man ihnen diese Vorhaltungen macht, antworten sie [die Gnostiker] normalerweise: / „Quid mali credimus, quia Christum Deum credimus spiritum fuisse? / „Was glauben wir Schlimmes, wenn wir glauben, daß Christus -Gott Geist war? / Spiritum credimus, carnem non credimus: / Wir glauben, daß er Geist ist, wir glauben nicht, daß er Fleisch ist: / melior est spiritus quam caro. / der Geist ist besser als das Fleisch. / Quod melius est, credimus; quod deterius est, credere nolumus. / Was besser ist [der Geist] das glauben wir; was dagegen schlechter ist, das wollen wir nicht glauben. / Quid mali facimus?“ / Was tun wir Böses [wenn wir glauben, daß Christus Geist allein ist]?“. / Si nihil mali est in isto sermone, dimittat Iesus discipulos suos in isto errore. / Wenn nichts Schlimmes ist an diesen Worten, lasse Jesus seine Jünger ruhig in diesem Irrtum. / Et discipuli Christum spiritum crediderunt, / Auch die Jünger [Augustinus kommentiert hier den Teil des Lukas-Evangeliums, wo Jesus nach der Auferstehung seinen Jüngern erscheint] glaubten, daß Christus ein Geist war / non enim putaverunt esse illum, sed spiritum. / erkannten tatsächlich nicht, daß Er es war, sondern ein Geist. / Dimittat illis Dominus [...] / Der Herr [vorausgesetzt, die Gnostiker hätten recht] lasse seine Jünger nur in diesem Glauben [...] / Dominum audi: / Höre dagegen, was der Herr sagt: / „Quid turbati estis et quare cogitationes ascendunt in cor vestrum?“ / „Was seid ihr so bestürzt, warum laßt ihr in eurem Herzen solche Zweifel aufkommen?“.
In dieser ganzen, wunderschönen Passage stellt Augustinus heraus, daß der Glaube nicht von uns herrührt, der Glaube nicht einem von uns herrühenden Gedanken entspringt. „Quales utique cogitationes, nisi falsae, morbidae, perniciosae? / Welche Gedanken entspringen eurem Herzen, wenn nicht falsche, ungesunde, gefährliche?“.
Und hier prägt Augustinus einen Ausdruck, der das ganze Christentum zusammenfaßt: „Perdidit enim Christus fructum passionis, si non est veritas resurrectionis. / Christus hat die Frucht seines Leidens verloren, wenn da nicht die Wahrheit, die Realität seiner Auferstehung ist“. Wenn er nicht wirklich auferstanden ist, sind seine Passion, sein Kreuz wirkungslos.
Und Augustinus wiederholt die Worte Jesu: „Quid turbati estis, et quare cogitationes ascenderunt in cor vestrum?“ / „Was seid ihr so bestürzt, warum lasst ihr in eurem Herzen solche Zweifel aufkommen?“ / [...] In cor vestrum descendit fides / [...] In euer Herz ist der Glaube herabgestiegen“. Ist das nicht schön? Das Herz, der ganze Mensch (in interiore homine wie Herr Staatsanwalt vorhin sagte) ist wesentlich für den Glauben, aber der Glaube wird nicht vom Herzen hervorgebracht. Der Glaube wird vom Herzen aufgenommen, vom Herzen anerkannt, aber kommt nicht vom Herzen des Menschen. Sonst wäre er Illusion, nicht Glaube. Der Glaube steigt ins Herz herab „quia desuper est /, weil er [der Glaube] von oben kommt“.
Und hier beantwortet Augustinus die Frage, wie der Glaube von oben ins Herz herabgestiegen ist: „‚Videte manus meas et pedes meos“. / „Seht meine Hände und Füße an“. Aus einer Begegnung wird der Glaube geboren. Und Augustinus fügt an: „Si parum est videre, / Und wenn auch das Sehen nicht ausreicht, / palpate; / faßt an; / non creditis oculis, credite manibus / Ihr glaubt euren Augen nicht? Dann glaubt euren Händen“. Gibt es etwas Konkreteres, Realeres, etwas, bei dem die Sinne besser genutzt werden?
Und dann fährt Augustinus fort: Er hat sich nicht nur gezeigt, hat sich nicht nur anfassen lassen, sondern hat auch mit ihnen gegessen: „Manducavit, et ipse erat. / Er aß, und es war wirklich er selbst. / Ipse erat / Er selbst war es“: in seinem von der Macht der Auferstehung verklärten Leib, ohne die vorherige Schwäche;
„ipse qui visus est et suspensus / derselbe, den man am Kreuz hängen sah“.
Und Augustinus sagt: Er war es, der angefaßt wurde, der ihnen das Essen reichte, der vor den Augen seiner Jünger aß: „Visus est, tactus est, manducavit: ipse certe erat / Er wurde gesehen, wurde angefaßt, aß: es war wirklich er selbst“.
Jetzt spielt Augustinus auf die menschlichen Sinne an. Die menschlichen Sinne täuschen nicht. Der Mensch kann sich täuschen, der Mensch kann vielleicht ein paar Hinweise übersehen. Der Mensch kann sich, wenn er nicht desinteressiert ist, täuschen, aber die Sinne an sich täuschen nicht. Auch das ist Teil jener prima naturae, jener ursprünglichen Dynamik der menschlichen Natur, auf die ich vorhin angespielt habe. Die gesamte antignostische Tradition der Kirche hebt das mit den Sinnen Feststellbare hervor. Im 2. Jahrhundert verwies Irenäus, Bischof von Lyon und Märtyrer, den von Balthasar den Kirchenvater nennt, der in keinster Weise vom Platonismus infiziert war, des öfteren auf den „schönen Schein“, schreibt des öfteren „quod apparebat hoc erat“ („das, was scheint, ist real“).
An diesem Punkt bringt Augustinus die Frage ins Spiel. Sie haben den Herrn gesehen, haben ihn angefaßt, mit ihm gegessen, nach seiner Auferstehung. Und wir, die wir den auferstandenen Herrn nicht gesehen haben? Wir, die wir nicht mit unseren Händen, wie es Thomas getan hat, die glorreichen Wundmale angefaßt haben? Wir, die wir nicht mit ihm, nach seiner Auferstehung, getrunken und gegessen haben, wie Petrus sagen sollte? Bereits in seiner ersten Anspielung auf diese so offensichtliche Frage, schließt Augustinus das Sehen nicht aus. „Audi et vide / Höre und sieh“. „Fides ex auditu“ schreibt Paulus. Der Glaube wird für uns aus dem Hören geboren. Der Ausdruck „ex auditu“ meint für Paulus das Zeugnis dessen, der bereits von der Gnade des Glaubens lebt. Das Hören ist somit also nicht vom Sehen getrennt. „Ex auditu“ könnten wir so übersetzen: der Glaube wird aus einer Begegnung geboren.
„Audi praedicta, vide completa [...] / Höre, was verheißen worden ist, sieh, was vollbracht worden ist [...] / caput Ecclesiae erat, quod se vivum, verum, integrum, certum persuadebat / es war das Haupt der Kirche, das die Seinen davon überzeugte, daß er lebendig, wirklich, integer, gewiß war / et ad fidem credentium perducebat / und so [indem er sich ansehen, anfassen ließ] führte er sie zum Glauben derer, die glauben“.
Die Muttergottes mit Johannes, dem Lieblingsjünger, Duccio di Buoninsegna, Museo dell’Opera del Duomo, Siena.
Dann wäre da noch eine Passage, die uns zu den letzten Dingen führt, auf die der Herr Staatsanwalt hingewiesen hat. Augustinus fragt sich, was die, die glauben, von denen unterscheidet, die nicht glauben. „Gratia Domini fecit separationem / Die Gnade des Herrn macht den Unterschied“. Das Christentum ist gegen niemanden. Was unterscheidet dich von dem, der nicht glaubt? Nicht dein Können, nicht deine Bravour. Dich unterscheidet, ein Geschenk erhalten zu haben, das der andere nicht erhalten hat: die Gnade des Herrn. In dieser christlichen Erfahrung ist jede Möglichkeit des Dialogs mit jedem möglichen Menschen verwurzelt, welcher Ideologie er auch anhängen mag. „Gratia Domini fecit separationem“. Was dich unterscheidet ist, ein unentgeltliches Geschenk erhalten zu haben. Und so kannst du dich also nicht rühmen, kannst nicht sagen, besser gewesen zu sein als die anderen, kannst nicht mit den anderen in Wettstreit treten, um einen Begriff zu gebrauchen, der leider auch in der Kirchensprache gebraucht wird, weil das, was dich von den anderen unterscheidet, ist, daß du, ohne irgendein Verdienst, ein Geschenk erhalten hast.
„Ecce gratia, ecce resurgit, ecce se oculis ostendit Apostolorum, / da ist sie, die Gnade: er, der aufersteht, er, der sich den Augen der Apostel zeigt, / qui non est dignatus se ostendere oculis Iudaeorum. / er, der sich nicht herabließ, sich den Augen der Judäer zu zeigen. / Ecce praebet se videndum oculis, / Da ist er, der sich den Augen anbietet, um gesehen zu werden, / praebet manibus contrectandum / sich anbietet, mit Händen angefaßt zu werden“.
„Apostoli videbant caput, sed futuram Ecclesiam non videbant; / Die Apostel sahen das Haupt, aber sahen nicht die zukünftige Kirche; / aliud videbant, aliud credebant / das eine sahen sie, das andere glaubten sie“. Die Apostel haben das Haupt gesehen, Jesus Christus, und haben der Verheißung geglaubt, daß sich die Kirche in der Welt verbreiten würde;
„caput videbant, de corpore credebant. / sie sahen das Haupt, an den Leib glaubten sie. / Nos videmus corpus, de capite credamus / Wir sehen den Leib, wir glauben an das Haupt“. Wir sehen Seine Kirche, sehen das, was er, der Lebendige, heute in den Seinen wirkt. Deshalb können wir auch an das Haupt glauben.
3. De sancta virginitate 35
Die letzte Passage stammt aus De sancta virginitate, faßt sozusagen das Herz zusammen, mit dem wir gesprochen haben, ein Studentenherz, wie der Herr Staatsanwalt vorhin angedeutet hat. Wir alle studieren etwas, das größer ist, sich im wesentlichen in den Begegnungen des Lebens zeigt, in den Begegnungen, aus denen das Leben eines Menschen gemacht ist. In Begegnungen zeigt sich dieses Größere, das das Herz des Menschen erwartet, worüber das Herz des Menschen staunt und wofür es dankbar ist.
„Ille, ille cui omnia tradidit Pater, et quem nemo agnoscit nisi Pater, / Er, Er, dem der Vater alles gegeben hat und den niemand kennt, außer dem Vater, / et qui Patrem solus agnoscit, / und der allein den Vater kennt / et cui voluerit revelare, / zusammen mit denen, denen Er Ihn offenbaren wollte, / non dicit: Discite a me mundum fabricare aut mortuos suscitare; / sagt nicht: Lernt von mir, die Welt zu schaffen oder die Toten zu erwecken; / sed: „quia mitis sum et humilis corde“. / sondern: „[lernt von mir] weil ich gütig und von Herzen demütig bin“. / O doctrinam salutarem! O Magistrum Dominumque mortalium, / Oh Lehre, die du Heil schenkst, oh Lehrmeister und Herr von uns Sterblichen, / quibus mors poculo superbiae propinata atque transfusa est! / denen der Tod durch den Kelch des Hochmuts gereicht und eingegossen wurde! / Noluit docere quod ipse non esset, / Er wollte nichts anderes lehren außer dem, was Er selbst war, / noluit iubere quod ipse non faceret / er wollte nichts befehlen außer dem, was Er selbst tat“.
Und Augustinus schließt mit diesem Gebet: „Video te, bone Iesu, oculis fidei, quos aperuisti mihi / Ich blicke auf Dich, mein lieber Jesus, mit den Augen des Glaubens, die Du mir geöffnet hast“: die Augen des Glaubens schaffen nicht das Objekt des Glaubens. Das wäre eine Illusion, eine Fixierung, ein Wahnsinn. Der Glaube, von dem ausgehend, was man mit den fleischlichen Augen sieht, erkennt das, was die Augen hier auf Erden jetzt nicht sehen;
„tamquam in concione generis humani clamantem ac dicentem: / [Ich blicke auf Dich, oh lieber Jesus] wie auf der Bühne der ganzen Menschheit [wie in dieser so eindrucksvollen Aula Magna, die uns der Rektor, dem wir dankbar sind, zur Verfügung gestellt hat] der du mit deiner Stimme sagst: / „Venite ad me et discite a me“. / „Kommt zu mir und lernt von mir“. / Quid, obsecro te, per quem facta sunt omnia, Fili Dei, et idem qui factus es inter omnia, Fili hominis / Ich bitte dich, oh Sohn Gottes, von dem alles geschaffen wurde und du selbst, Menschensohn, geschaffen unter all den anderen Kreaturen“; denn Jesus Christus ist, als wahrer Gott und Schöpfer, eine Kreatur unter den anderen Kreaturen, ein Mensch;
„quid ut discamus a te, venimus ad te? / um was von dir zu lernen, kommen wir zu dir? / „Quoniam mitis sum“, inquit, „et humilis corde“. / „[Um zu lernen] daß ich – hat er gesagt– gütig und von Herzen demütig bin“. / Huccine redacti sunt omnes thesauri sapientiae et scientiae absconditi in te, ut hoc pro magno discamus a te, quoniam mitis es et humilis corde? / Ist es das, worauf alle in Dir steckenden Schätze der Weisheit und der Wissenschaft hinauslaufen, auf die Tatsache, daß wir von dir vor allem lernen, daß du gütig und von Herzen demütig bist? / Itane magnum est esse parvum, ut nisi a te qui tam magnus es fieret, disci omnino non posset? / Ist es eine so große Sache, klein zu sein, daß wir sie auf keine andere Weise lernen können, als von dir, der du so groß bist?“.
Wie schön ist doch: „Ita plane / Ja, das ist es“. Es ist wirklich eine große Sache, klein zu sein.
„Non enim aliter invenitur requies animae, / Die Seele findet wirklich keine Ruhe“: wenn ihr nicht wie Kinder werdet, kommt ihr nicht ins Himmelreich;
„nisi inquieto tumore digesto, quo magna sibi erat, quando tibi sana non erat / wenn nicht dieser beunruhigende, sich blähende Hochmut eliminiert wird, der bewirkt, daß sich die Seele selbst groß erscheinen ließ, während sie in deinen Augen krank war“.
Eine so große Sache ist es, klein zu sein, daß sie nur gelernt werden kann, wenn Du, Jesus, Du allein, der Du so groß bist, sie schenkst.
Anmerkungen
1 Vgl. Augustinus, De civitate Dei XIX, 4, 4: „iustitia cuius munus est sua cuique tribuere.“
2 Augustinus, De civitate Dei XIX, 12, 2: „Nullius quippe vitium ita contra naturam est, ut naturae deleat etiam extrema vestigia“.
3 Augustinus, De vera religione 39, 72: „In interiore homine habitat veritas“.
4 Vgl. Augustinus, De civitate Dei XV, 4: „Terrena porro civitas, quae sempiterna non erit (neque enim, cum extremo supplicio damnata fuerit, iam civitas erit), hic habet bonum suum, cuius societate laetatur, qualis esse de talibus laetitia rebus potest“.
5 Vgl. Augustinus, De civitate Dei II, 21, 4.
6 Augustinus, De vera religione 26, 48: „Hic dicitur vetus homo et exterior et terrenus, etiamsi obtineat eam quam vulgus vocat felicitatem, in bene constituta terrena civitate sive sub regibus sive sub principibus sive sub legibus sive sub his omnibus. Aliter enim bene constitui populus non potest, etiam qui terrena sectatur. Habet quippe et ipse modum quendam pulchritudinis suae“.
7 Vgl. Augustinus, De Trinitate XIV, 8, 11: „Diximus enim eam etsi amissa Dei participatione obsoletam atque deformem, Dei tamen imaginem permanere. Eo quippe ipso imago eius est, quo eius capax est, eiusque particeps esse potest; quod tam magnum bonum, nisi per hoc quod imago eius est, non potest“.
8 Vgl. N. Cipriani, Lo schema dei tria vitia (voluptas, superbia, curiositas) nel De vera religione: antropologia soggiacente e fonti, in Augustinianum XXXVIII, I, 1998, SS. 157-195.
9 Vgl. C. Pavese, Il mestiere di vivere, 9. Februar 1940: „Normalerweise ist von Amts wegen der bereit, sich zu opfern, der seinem Leben sonst keinen Sinn zu geben versteht. Die von Amts wegen zur Schau getragene Begeisterung ist die übelkeiterregendste aller Unehrlichkeiten.“
10 Augustinus, De civitate Dei XX, 9, 1.
11 Vgl. Ch. Péguy, Véronique. Dialogue de l’histoire e de l’âme charnelle, 30Giorni-Piemme, Rom 2002.
12 Augustinus, De civitate Dei XIX, 4, 5.
13 Vgl. N. Cipriani, op. cit., S. 178: „Wir stehen hier nun also vor eine Vorstellung vom Menschen und vom Leben, die von der neoplatonischen, die Augustinus in keinster Weise reizen konnte, recht weit entfernt ist“.
14 Augustinus, Enarratio in psalmum 120, 6: „Hoc omnes credunt quia mortuus est: fides christianorum resurrectio Christi est: hoc pro magno habemus quia credimus eum resurrexisse“.