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NOVA ET VETERA
Aus Nr. 01/02 - 2009

Archiv 30Tage

„Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist“


Die Pastoralbriefe des Apostels Paulus zeigen, daß das Wirken des Heiligen Geistes, die Gnade der Auflegung der Hände und die Gnade, die in den guten Werken aufstrahlt, die Bewahrung des Glaubensguts (depositum fidei) garantieren. Dennoch grenzen diese Briefe, die die Grundlage für die Kirche als Institution bilden, „die Kirche nicht mehr aus der profanen Welt aus, sondern richten sie vielmehr mit bemerkenswerter Zuversicht und Entschiedenheit darin ein“. Hier einige Auszüge aus dem Kommentar von Ceslas Spicq zu den Pastoralbriefen.


von Lorenzo Cappelletti


Mosaiken in der Kathedrale von Monreale, Palermo. Hananias tauft Paulus.

Mosaiken in der Kathedrale von Monreale, Palermo. Hananias tauft Paulus.

Seit vielen Monaten taucht der Begriff Glaubensgut, Glaubenshinterlassenschaft oder das lateinische Äquivalent depositum fidei in Titeln und Beiträgen von 30Tage immer wieder auf. 30Tage besitzt deshalb aber nicht das copyright. „Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist“ (im griechischen Original steht hier das Substantiv, anvertrautes Gut, Hinterlassenschaft, das in der Einheitsübersetzung durch eine Verbalkonstruktion wiedergegeben ist, Anm. d. Red.), ermahnt der Apostel Paulus seinen Lieblingsschüler am Ende seines ersten an ihn adressierten Briefes. In seinem zweiten Brief, den er angesichts des bevorstehenden Martyriums schreibt, wiederholt er diese Mahnung. Nie zuvor hatten er oder ein anderer neutestamentlicher Autor diesen Ausdruck gebraucht. Doch in dem Augenblick, da er sein Blut vergießen sollte, erkannte Paulus, daß der Schatz, den er gleichsam als gebrechliches und doch starkes Gefäß bewahrt hatte, verloren gehen könnte. Das Gleiche erkannte der Paul unserer Zeit, als er sein Credo des Gottesvolkes verfaßte. Die große Alternative – so war jüngst zu lesen – für das Leben eines Menschen und eines Volkes ist in der Tat die der Ideologie oder die der Tradition.
Es ist vielleicht kein Zufall, daß die sogenannten Pastoralbriefe (die beiden Briefe an Timotheus und der Brief an Titus) erst jüngst wieder im Rampenlicht standen. Zu diesem Thema veranstaltete das italienische Bibelwerk im vergangenen September ein Seminar in Termoli, im mittelalterlichen Molise, in dessen wunderschönem Dom die Reliquien des heiligen Timotheus aufbewahrt werden. Da die Akten dieses Seminars noch nicht erschienen sind, behelfen wir uns bei der Lektüre einiger Abschnitte dieser Briefe mit dem Kommentar des großen dominikanischen Exegeten Ceslas Spicq, Saint Paul. Les Epîtres pastorales, Paris 1947, der bereits vor fünfzig Jahren in der dritten Auflage erschienen ist. Auch vortreffliche Exegeten nach ihm haben diesen Kommentar zum Vorbild für ihre Untersuchungen genommen.

Das anvertraute Gut
Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der sogenannten ‚Erkenntnis‘! Nicht wenige, die sich darauf eingelassen haben, sind vom Weg des Glaubens abgekommen“ (1 Tim 6, 20).

Zunächst kann es hilfreich sein, die juristische Institution des Depositums, die den Hintergrund der paulinischen Aussage bildet, zu erörtern. „In Rom ‚sprach man von einem Depositum, wenn man einen Gegenstand bei einer anderen Person in Gewahrsam gab. Diese verpflichtete sich, ihn aufzubewahren und wieder auszuhändigen, sobald er zurückverlangt wurde‘. Im Unterschied zur treuhänderischen Übereignung, bei der es zu einer tatsächlichen Eigentumsübertragung kommt, ist das anvertraute Gut nur eine vorläufige Übereignung zur Aufbewahrung. Der Verwahrer besitzt es nicht für sich selbst, sondern für den Hinterlegenden; er ist nur Wächter und bewahrt die Güter zur freien Verfügung des tradens, der auch weiterhin die Eigentumsrechte besitzt. Gleichsam als Vereinbarung auf einer Vertrauensgrundlage erfolgte das Hinterlegen eines Gutes zudem freiwillig bei einem Freund, der das anvertraute Gut kostenlos aufbewahrte. Lange Zeit entbehrte die durch einfache Übergabe (traditio) vollzogene Hinterlegung jeglicher Rechtskraft, da sie ein formloser Akt war“ (S. 331).
Offenbar von ihren Merkmalen beeindruckt, die als Vertrag „eine Neuheit, und zwar eine äußerst überraschende Neuheit darstellte [sie ist nämlich erst auf die Zeit des Triumvirats von Octavianus zu datieren], weil es sich um die ersten nicht förmlichen Verträge handelte“ (S. 329), übernahm Paulus diese Einrichtung im Augenblick der höchsten Gefahr für den Glauben. „Bis dahin hatte der Apostel vor allem auf der Treue gegenüber seinem Amt, auf der Loyalität gegenüber seinen Jüngern beharrt; nun veranlaßt ihn die Gefahr der aufkommenden Irrlehren, die Unversehrtheit der Lehre als solche zu betrachten, zu deren ‚Verkünder, Apostel und Lehrer‘ er eingesetzt worden war. Er hat sie empfangen mit dem Auftrag, sie weiterzugeben; sie gehört ihm daher nicht. In Vorahnung des bevorstehenden Endes erkennt er noch viel stärker die große Verantwortung, diesen Schatz unversehrt zu bewahren; bis zur festgelegten Zeit muß er das Wort Gottes die Worte des Glaubens, 1 Tim 4, 6 vor jedem Irrtum und Verderben bewahren. Gott hat ihm ein Gut anvertraut, und der Tag ist nahe, da der göttliche Gläubiger von ihm Rechenschaft fordert. Paulus hat dieses Gut von Gott empfangen, genauer gesagt von Christus, auf dem Weg nach Damaskus. Da dieser Vertrag ursprünglich aufgrund der Weise seines Zustandekommens nur die schlichte Übereignung der Güter voraussetzte, kam es also im Augenblick dieser anfänglichen Begegnung zu einer Übereinkunft zwischen dem Herrn und seinem Apostel – zur Übereinkunft ihrer Willen –, die ab dem Zeitpunkt der Übergabe des anvertrauten Gegenstands zu einer Verpflichtung geworden ist. Der Inhalt dieser Hinterlassenschaft ist das Evangelium. Das Gesetz ermächtigte zu keinerlei Gebrauch der anvertrauten Güter, es sei denn, es wären gegenteilige Vereinbarungen getroffen worden. Der Apostel hat sich daher immer nur als Verwalter, als Spender, der göttlichen Geheimnisse betrachtet (1 Kor 4, 1). Im Unterschied zu den Lehrern, die eine originelle, ihren Spekulationen entsprungene Lehre weitergeben, ist er nur ein Gesandter. Was er verkündet, hat er nicht erfunden; er verändert es nicht; er hat es vernommen und empfangen und muß diesen Schatz, das Wort Gottes oder den Gegenstand des Glaubens, gleichsam als anvertrautes Gut unversehrt weitergeben. Er hat den Lauf vollendet, die Zeit seines Aufbruchs ist gekommen (2 Tim 4, 6-8); er ermahnt Timotheus, über das Gut, das er ihm anvertraut hat, zu wachen; die Stunde hat geschlagen, da er vor Gott treten muß, der seinen treuen Verwahrer richten wird“ (S. 332-333).

Paulus überreicht Timotheus die beiden an ihn adressierten Briefe. Die Mosaike in der Kathedrale stammen aus dem 13. Jahrhundert.

Paulus überreicht Timotheus die beiden an ihn adressierten Briefe. Die Mosaike in der Kathedrale stammen aus dem 13. Jahrhundert.

Die Auflegung der Hände
Reicht es aber, dass Paulus den jungen und von Natur aus schüchternen Timotheus ermahnt, damit dieser das ihm anvertraute Gut bewahren kann?
„Mit dem Befehl, das anvertraute Gut zu bewahren, zeigt Paulus auch das Mittel auf, um diese Aufgabe treu erfüllen zu können. Sie ist nicht leicht. Viele sind vom Glauben abgefallen, und der Apostel selbst ist im Aufbruch begriffen. Doch der Heilige Geist bleibt in der Kirche und erleuchtet und stärkt ihre Diener (vgl. 2 Tim 1, 7). Paulus hegt keinen Zweifel. Diese letzten beiden Verse bilden die chie“ (S. 320). Mit anderen Worten: Timotheus muß und darf sich auf die Gnade der von Paulus empfangenen Weihe berufen, der ihm schreibt:
>„Darum rufe ich dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis bin, sondern leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt dazu die Kraft: Er hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem Entschluß und aus Gnade, die uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde; jetzt aber wurde sie durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus offenbart. Er hat dem Tod die Macht genommen und uns das Licht des unvergänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium, als dessen Verkünder, Apostel und Lehrer ich eingesetzt bin.
Darum muß ich auch dies alles erdulden; aber ich schäme mich nicht, denn ich weiß, wem ich Glauben geschenkt habe, und ich bin überzeugt, daß er die Macht hat, das mir anvertraute Gut bis zu jenem Tag zu bewahren. Halte dich an die gesunde Lehre, die du von mir gehört hast; nimm sie dir zum Vorbild, und bleibe beim Glauben und bei der Liebe, die uns in Christus Jesus geschenkt ist. Bewahre das dir anvertraute, kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt“ (2 Tim 1, 6-14).
In diesem wie im anderen Abschnitt (1 Tim 4, 14) ruft Paulus Timotheus die Auflegung seiner Hände ins Gedächtnis und bezeichnet „die so weitergegebene göttliche Gabe mit demselben Wort: xárisma. In den Pastoralbriefen gebraucht er diesen Begriff nur in diesen beiden Texten über die Weihe. Wie in den früheren Briefen, stellt die Weihe eine besondere Art von Gnade dar, die einen Aspekt ihrer Ungeschuldetheit hervorhebt; sie wird nicht in erster Linie zum Nutzen des Empfängers, sondern vielmehr zum Nutzen der christlichen Gemeinde verliehen, ‚damit sie anderen nützt‘ (1 Kor 12, 7), das heißt ‚zum Aufbau der Gemeinde‘ (1 Kor 14, 12)“ (S. 325). In diesem Zusammenhang zitiert Spicq in der Fußnote Pater Lemonnyer, den Autor des Beitrags unter dem Stichwort Charisma im Supplément au Dictionnaire de la Bible: „Dieses Charisma, dessen Empfang Timotheus zu einer offiziellen Persönlichkeit gemacht hat, ist das Siegel des Weihesakraments. Das Sakrament der Weihe, das die kirchliche Hierarchie begründet, und das Sakrament der Firmung, mit dem die milites Christi besiegelt werden, sind wesenhaft charismatische Sakramente. Die heilige Hierarchie ist aus einer übernatürlichen Autorität und aus einem ebenfalls übernatürlichen Charakter entstanden. Dieser Charakter wurde in erster Linie in dem unauslöschlichen Siegel gesehen, das allen Empfängern eines jeden Weihegrades eingeprägt wird und das, wie Thomas von Aquin sagt, eine potentia, fast eine übernatürliche Fähigkeit, ein Charisma höchsten Ranges darstellt, das die Glieder der Hierarchie zu allen Aufgaben ihres Amtes befähigt. Hier wäre vielleicht die außersakramentale Verleihung von komplementären Charismen hinzuzufügen: Apostel, Lehrer, Propheten, Hirten, usw. Grundlage der Hierarchie ist nicht die Tatsache, daß die Charismen verschwunden sind, sondern sie gründet seit jeher auf Charismen“ (S. 325, Fußnote 1).
„Es gilt zu betonen, daß die Gabe Gottes ... in dir ...; Gott hat uns ...einen Geist gegeben ... (2 Tim 1, 6.7) nicht ohne Verbindung ist zu dem anvertrauten Gut, dessen Bewahrung durch den Geist, der in uns wohnt (2 Tim 1, 14) geschieht. Das bedeutet, daß die Weihe die Kontinuität der rechtgläubigen Lehre garantiert; sie ist ein heiliges Band, ein ‚anvertrautes Gut‘. Ihre Unversehrtheit hängt zwar sicherlich zum Teil von der Gefügigkeit und Treue der Verkünder ab, keine falschen Lehren zu verbreiten (1 Tim 1, 3); doch der eigentliche Wächter ist der Heilige Geist, und nur er kann die christlichen Amtsträger vor Irrtum bewahren. Mit Recht darf man daher in gewisser Weise die durch die Handauflegung übertragene Gnade mit dem immanenten Wirken des Heiligen Geistes identifizieren, der das Glaubensgut vor jeder Entstellung bewahrt. Die Hirten und Lehrer erfreuen sich aufgrund der empfangenen Weihe des Beistands des Heiligen Geistes bei der Verbreitung und Bewahrung der Wahrheit des Evangeliums: in der Kirche des lebendigen Gottes, die die Säule und das Fundament der Wahrheit ist (1 Tim 3, 15). Dies ist die Grundlage der katholischen Lehre von der mündlichen Überlieferung als Norm des Glaubens. Nach der Auflegung der Hände hat Timotheus die Gewißheit, immer die übernatürliche Fähigkeit und Kraft zu besitzen, um sein evangeliumsgemäßes Amt würdig auszuüben“ (S. 325-326). Spicq führt weiter aus: „Es handelt sich nicht in erster Linie um asketische Bemühungen zur Erlangung von menschlicher Willenskraft oder Charakterstärke, sondern vielmehr um die Treue zur Weihegnade (2 Tim 1, 6.7.8.12). Timotheus muß die übernatürlich empfangene Macht und Kraft umsetzen, indem er sie trotz aller schmerzlichen Mühen und Leiden, die sein Amt mit sich bringt, bestmöglich ausübt; doch für den Apostel ist mit Hilfe der Gnade alles möglich!“ (S. 340).

Ökumenismus
Die Pastoralbriefe zeigen also, daß die Bewahrung des anvertrauten Guts durch den sakramentalen Charakter der Institution Kirche garantiert ist. Und dennoch grenzen (paradoxerweise) gerade diese Briefe, die die Grundlage für die Kirche als Institution bilden, „die Kirche nicht mehr aus der profanen Welt aus, sondern im Gegenteil, sie richten sie mit einer bemerkenswerten Zuversicht und Entschiedenheit darin ein. Die Erfahrung hat gezeigt, daß jeder Christ berufen ist, mitten unter seinen ‚alten‘ Gefährten des Irrtums und der Sünde zu leben. Weit davon entfernt, sie zu verachten und zu bekämpfen, erweist er sich ihnen als von der Gnade verwandelter Mensch“ (S. CXCVIII). In den Pastoralbriefen kommt der Ökumenismus des Apostels Paulus in höchstem Maß zum Ausdruck. Beispielhaft hierfür ist insbesondere 1 Tim 2, 1-6a:

„Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter; er will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn: Einer ist Gott, / Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: / der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle [...].“

Spicq kommentiert diesen Abschnitt mit einem Zitat des heiligen Johannes Chrysostomus: „Man muß Gott auch für die Güter danken, die er anderen gewährt – daß er beispielsweise die Sonne über Guten und Bösen aufgehen läßt, daß er Gerechten und Ungerechten Regen spendet. Schau, wie der Apostel uns nicht nur durch Bitten, sondern auch durch das Wirken der Gnade verbindet und eint“ (S. 53). Und er fährt fort: „Alle diese Gebete beschränken sich weder auf eine persönliche Anteilnahme noch auf einen kleinen Kreis von Gläubigen; sie haben den Nächsten im Auge und werden später ganz allgemein ‚alle Menschen‘ einschließen. Dieser Universalismus ist ein Merkmal des ‚katholischen‘ Gottesdienstes. Das Gebet besitzt dieselbe Weite wie die Nächstenliebe, und beide bergen denselben Heilsuniversalismus (1 Tim 1, 15; Tit 2, 11). Es gibt niemanden, gleich in welchem Land er lebt und welcher Religion er angehört, für den die Kirche nicht beten müßte, niemanden, nicht einmal einen Exkommunizierten, dessen Dasein jedenfalls kein Grund ist, Gott zu danken“ (S. 53). Spicq kommentiert Vers 3 („Das ist recht und gefällt Gott“) wie folgt: „Diese Fürbitte, die das christliche Volk als königliche Priesterschaft für alle Menschen vollzieht, ist zugleich moralisch gut, in sich vorzüglich wie ein erhabenes Werk der Nächstenliebe und schön und Gott wohlgefällig ( hapax im Neuen Testament ist als Erläuterung von, ‚schön, anzusehen‘, zu verstehen), weil sie den besten Beitrag zur Verwirklichung des göttlichen Plans zum Heil aller Menschen darstellt“ (S. 57).

Petrus und Paulus umarmen sich.

Petrus und Paulus umarmen sich.

Die schönen, das heißt guten Werke
Der Gebrauch des Adjektivs „schön“ ist ein besonderes Merkmal der Pastoralbriefe. Paulus gebraucht dieses Wort in seiner ganzen Briefesammlung 44 Mal und 24 Mal davon (also in über der Hälfte der Fälle) in den Pastoralbriefen. Spicq wundert sich daher, daß „diese Schönheit [gerade in bereits fortgeschrittenem Alter] in den Augen des heiligen Paulus offenbar zu einem Kenzeichen des christlichen Lebens, einem Ausdruck des neuen Glaubens geworden ist; jede Altersstufe, jede Situation, jedes Geschlecht ist mit Schönheit bekleidet“ (S. 290). Dies ist umso beachtlicher, da „Aristoteles meint, die Alten lebten nicht mehr für das Schöne [vgl. Rhetorik II, 13, 1389 b, 36]; dies ist ein Zeichen der erneuernden und verjüngenden Kraft der Gnade in der Seele des Apostels“ (S. 290, Anmerkung 1). Dies ist der „ästhetische Beweis der Hoffnung“, wie Massimo Borghesi in der letzten Ausgabe von 30Tage (Nr. 12, Dezember 1997, S. 55) geschrieben hat. Wie wir gesehen haben, offenbart sie sich im Gebet und in der Nächstenliebe im eigentlichen Sinn, das heißt in den guten Werken, denen gerade „die Pastoralbriefe jenen spezifischen Sinn verliehen haben. Wenn die christliche Tradition [...] die guten Werke zu Recht mit den Werken der Barmherzigkeit identifiziert, so hat sie genau diesen Sinn bewahrt“ (S. 294 u. 282), schreibt Spicq in seinem Kommentar zu Tit 3, 3-8:

Denn auch wir waren früher unverständig und ungehorsam; wir gingen in die Irre, waren Sklaven aller möglichen Begierden und Leidenschaften, lebten in Bosheit und Neid, waren verhaßt und haßten einander. Als aber die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet – nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens – durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist. Ihn hat er in reichem Maß über uns ausgegossen durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir durch seine Gnade gerecht gemacht werden und das ewige Leben erben, das wir erhoffen. Dieses Wort ist glaubwürdig, und ich will, daß du dafür eintrittst, damit alle, die zum Glauben an Gott gekommen sind, sich nach Kräften bemühen, das Gute zu tun. So ist es gut und für alle Menschen nützlich.

Titus, der ein geborener Heide war, kannte aus Erfahrung den Wert dieser Worte. „Wie ist es möglich“, fragt sich Spicq in seinem Kommentar zu diesem Abschnitt, „aus einem Heiden einen Christen zu machen? Dies ist allein Werk der Gnade, gratis et gratiose. Tit 3, 4 ist eine Parallele zu Tit 2, 11. So wie die gegenseitigen Pflichten der Christen in der Initiative und pädagogischen Kraft der Gnade Gottes in Christus begründet waren [Spicq spricht weiter unten im Gegensatz zum pelagianischen Anspruch von einer „paideia der Gnade“ (S. 282)], so sind die Pflichten der Christen gegenüber der Welt in der Güte und Liebe Gottes zu allen Menschen begründet. [...] Die Menschenliebe Gottes ist der Grund für die Bekehrung der blinden und sündigen Heiden zu einem Leben in Heiligkeit. Diese Liebe zeigt sich konkret in einem bestimmten Augenblick der Geschichte und in einer zweifachen Form, die im Kontrast zu dem Haß und der Eifersucht der Menschen steht; während sie sich gegenseitig haßten, liebte Gott alle ganz innig und wollte ihr Heil. Vor allem die Güte. Der Etymologie nach bedeutet‚ das, dessen man sich bedienen kann‘, und man gebrauchte dieses Wort insbesondere für hochwertige Lebensmittel [...]. Die ist demnach eine zarte Liebenswürdigkeit, die jedoch Großmut impliziert“ (S. 275). Zweitens, die, d.h. ‚eine tatsächliche Sympathie; sie entspricht der lateinischen humanitas, was soviel heißt wie Achtung vor dem Menschen als Menschen [...]. Also ein Synonym von, aber mit einem Akzent auf der Universalität dieses Wohlgefallens“ (S. 276).
Gebet, Güte, Achtung vor dem Menschen als Menschen: Schöne, also gute Dinge, die gottgefällig sind.


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