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PRIESTERJAHR
Aus Nr. 05 - 2009

150 JAHRE NACH DEM TOD VON JEAN-MARIE VIANNEY

So fern und doch so nah


Der heilige Pfarrer von Ars, der Priester, der Revolution und Restauration miterlebt hat, hörte Beichte, feierte die Messe, lehrte den Katechismus, war für die Armen da. Etwas anderes konnte er nicht. Deshalb kamen alle zu ihm. Weil er die Arbeit der Gnade nicht verschleierte.


von Gianni Valente


Junge Pfadfinder pilgern zum Heiligtum des  Pfarrers von Ars, Jean-Marie Vianney (Ars-sur-Formans, Region Rhône-Alpes). [© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Junge Pfadfinder pilgern zum Heiligtum des Pfarrers von Ars, Jean-Marie Vianney (Ars-sur-Formans, Region Rhône-Alpes). [© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

In Ars plätschert die Zeit noch immer so gemächlich dahin wie der Formans-Bach, der durch diesen Ort fließt. Die wenigen Häuser an der Kurve, die sich um die Kirche windet, sind noch immer eingebettet in saftig grüne Wiesen und kleine Wäldchen, aus denen man frühmorgens das Zwitschern der Amseln vernehmen kann. Das alte Pfarrhaus wurde zum Museum umfunktioniert; eine Schwester kommt mit einem kleinen Karren voller Essensvorräte für das Kloster vorbei. In dem mémorial mit Szenen aus dem Leben des Pfarrers von Ars stehen 38 Wachsstatuen, die aussehen als wären sie echt. All das macht es einfach, sich die gewöhnliche Gnade vorzustellen, von der die Tage durchtränkt waren, als er noch hier lebte: Jean-Marie Vianney, der Patron aller Priester in der Welt.
In Ars vergeht die Zeit zwar langsam, aber sie vergeht. 150 Jahre sind seit dem Tag ins Land gegangen, an dem er für immer die Augen schloss – mit sich selbst in Frieden, aber aufgezehrt von der Mühe, dem täglichen Beichthören der Sünder, die aus ganz Frankreich zu ihm strömten. Wenn man die Zeit zurückdrehen und seine dünne Gestalt in ihrem alten, abgenutzten Talar aus dem Pfarrhaus kommen sehen könnte – den breitkrempigen Hut unterm Arm, das weiße Haar auch für die damalige Mode viel zu lang –, würde er vielleicht auf die Kinder stoßen, die genau vor seiner Kirche mit ihren Lambrettas gewagte Fahrkunststückchen zum Besten geben. Und wie er ihnen die Leviten lesen würde! Aber wer weiß, ob sie überhaupt wüssten, wer der heilige Pfarrer von Ars ist: Der Priester, der zwischen Revolution und Restauration gelebt hat. Ein einfacher Pfarrer in einem entlegenen Fleckchen Erde, den die Kirche von Rom nun wieder allen zeigen will – so dass sie sogar das Reliquiar mit seinem Herzen nach St. Peter bringen lässt und den Beginn des Priesterjahres am 19. Juni unter seine Schirmherrschaft stellt. Ein Unterfangen, das manches Risiko birgt, weil er so dem Wiederaufleben eines klerikalen Neokonformismus zum Opfer fallen könnte. Oder dem Gegenteil: dem nämlich, als testimonial von Vergangenheitsnostalgien archiviert zu werden. Aber es ist ein Unterfangen, das uns auch die Gelegenheit bietet, den heiligen Pfarrer auf den Straßen von Ars zu begleiten und so das Geheimnis seiner erstaunlichen Nähe zu unserer Zeit zu entdecken.

Das alte Heiligtum. [© Ciric]

Das alte Heiligtum. [© Ciric]

Eine andere Welt
Im Pfarrregister von Dardilly, Vianneys Geburtsort acht Kilometer von Lyon entfernt, wird der 8. Mai 1786 als Geburtsdatum angegeben. Von jenem Tag bis 1859, in den 73 Jahren seines Lebens, erlebte Frankreich das Ende des Ancien régime, die Revolution, die Verfassungsmonarchie, die Erste Republik, das Direktorium, die Konsulatszeit, das Erste Kaiserreich, die Restauration, die Julimonarchie, die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich... 1793 war Jean-Marie sieben Jahre alt; als Fünfzehnjähriger erlebte er den Aufstieg Napoleons, mit 29 dessen Untergang. Die Priesterweihe empfing er anderthalb Monate nach Waterloo.
„Die großen Ereignisse der Weltgeschichte werfen ihre Schatten.“ schrieb Daniel Pezeril. „Und am besten sieht man das am Leben der kleinen Leute.“ Das galt auch für Jean-Marie. Im Winter 1793-94 schlugen die von der Pariser Konvention geschickten Truppen die Revolte von Lyon gewaltsam nieder, die sich gegen die Schreckensherrschaft erhoben hatte. Auch in Dardilly blieb die Kirche geschlossen, der Glockenturm schwieg. Der kleine Vianney aber ließ sich – wie Zeugen berichten – nicht beirren und betete weiter, zuhause oder in der Stille der Felder, wenn er seine Herde zum Weiden über den Chemin du Pré-Cousin oder nach Chantemerle führte. Die Glocken sollten erst 1895 wieder läuten – nachdem sich der alte Dorfpfarrer dazu durchgerungen hatte, sich der Verfolgung zu beugen und jeden Eid zu unterzeichnen, den die neue Revolutionsordnung verlangte, die Priester wie Staatsbeamte behandelte. Wie alle anderen taten es ihm auch die Vianneys am Anfang nach. Erst später machten ihnen ihre Verwandten aus dem nahegelegenen Ecully klar, dass es wenig ratsam wäre, die Messe eines Priesters zu besuchen, der im Ruf stand, ein Schismatiker zu sein. Jean-Marie konnte erst 1799 die Erstkommunion empfangen, wurde von unerschütterlichen Priestern und Schwestern unterrichtet (die folglich nicht der Republik Treue geschworen hatten)und die in Ecully weiterhin heimlich ihrem Apostolat nachgingen. Die Zeremonie fand im Haus des Grafen Pingon d’Ecully statt. Um den Kontrollen der Republik-Agenten zu entgehen, hatte man vorher vor dem Fenster noch einen großen Heuwagen platziert.
Jean-Marie hatte eine christliche Erziehung genossen und folgte seiner Priesterberufung in der Zeit und am Ort der so genannten ersten „modernen“ Verfolgung und des ersten ideologischen Versuchs einer Zwangs-Säkularisierung. Die neue Ordnung konnte er keineswegs gutheißen oder sie gar für eine Etappe der Heilsgeschichte halten. Aber sein Beweggrund war nicht einmal ansatzweise der Versuch einer Gegenrevolution oder der Wunsch, den Lauf der Geschichte aufhalten zu wollen.
Eine zermürbende Unruhe ergriff den Seminaristen Vianney, als er 1809 zum Wehrdienst in Napoleons Armee eingezogen werden sollte, Invasor der Päpstlichen Staaten, den Pius VII. mitsamt „all seinen Anhängern, Gefolgsmännern und Ratgebern“ exkommuniziert hatte – woraufhin Napoleon den Nachfolger Petri nach Frankreich deportieren ließ. Der gotteslästerliche Herrscher erklärte auch dem katholischen Spanien den Krieg. Und was sollten die Katholiken Frankreichs tun? Sollten sie sich im Namen der Treue zur Kirche dem Militärdienst entziehen? Jenen, die den Ausweg im Desertieren sahen, gab Jean-Marie folgenden halbherzigen Ratschlag: „Wir müssen auch dem Gesetz folgen, meine lieben Schwestern“, sagte er zu den ihm in den Tagen der Krankheit beistehenden Nonnen von Roanne. Letztendlich überließ Jean-Marie wie immer alles dem Zufall, dem er nur durch ein bewusstes Zögern seinerseits nachhalf: er stellte sich erst im letzten Moment ein, um seine Reisepapiere für den Transfer nach Spanien abzuholen. Aber damit nicht genug: er ließ sich auch von einem Rekruten-Freund überreden, ihm in sein Dorf zu folgen, wo man sich – wie dieser versprach – leicht verstecken und auch Arbeit finden könnte. Der Deserteur der napoleonischen Armee „aus Zufall“ kam als Seminarist indirekt in den Genuss der Vorzüge, die der Kaiser seinem Onkel, Kardinal Fesch, gewährt hatte. Und das gerade in einem Moment, in dem Napoleon als Strafe für alle unbeugsamen Bischöfe die Auflösung der Knabenseminare beschlossen hatte und somit beim Großteil des Klerus Sehnsüchte nach der Zeit der Monarchie geweckt hatte. Viele Jahre später – die Machtverhältnisse hatten sich inzwischen geändert – sollte ein anderer Napoleon und Kaiser der Franzosen Abbé Vianney mit Dekret vom 11. August 1855 zum „Ritter der Ehrenlegion“ ernennen. Ein Titel, der auf den mageren, knochigen Schultern des Pfarrers, der – kaum zum Ehrendomherrn gemacht – seinen Umhang verkauft hatte, um das Geld den Armen zu geben, eine gewisse humoristische Note annahm. Als die Regierung aus Gründen des Kalküls ihm und der Kirche gegenüber einen anderen Ton an anschlug, dankte Vianney dem Himmel. Sein Leben lang war er dankbar für die Gunstbeweise seiner mächtigen adeligen Wohltäter, deren Spenden dem Waisenhaus La Providence zuflossen oder für die Verschönerung der Kirche verwendet wurden. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass er den rasch aufeinanderfolgenden zeitlichen Mächten in seinen Predigten seinen Segen gegeben hätte. Auch in seiner kleinen Welt hatte er nämlich erkannt, dass die christliche Hoffnung nicht durch äußere Umstände geschmälert werden kann, sondern dass es eine Hoffnung ist, die – so Gott will – auch auf Feindesboden erblüht. physique du rôle. Und doch sollte es gerade ihm bestimmt sein, der Patron aller Priester in der Welt zu werden. Don Balley, der Priester von Ecully, bei dem er seine erste Ausbildungsphase durchlief, lernte einen zwanzigjährigen Analphabeten kennen, der besser dazu geeignet schien, mit einem Pflug den Acker zu bestellen als die Stufen des Priesterdienstes emporzusteigen. Aber er war auch einer, der von Anfang an die Mauer der Unwissenheit, an die er immer wieder stieß, dem Gebet anvertraute. Den Lateinkursen im Seminar Saint Irénée in Lyon konnte er nicht folgen. Debilissimus lautete das vernichtende Urteil, das über sein erstes Examen gefällt wurde: „Wieder zu seinem Pfarrer zurückgeschickt“, schrieben die Seminarleiter neben seinem Namen ins Register. In Wahrheit waren viele der Meinung, dass er nichts Besseres tun könnte als zu seiner Familie aufs Land zurückzukehren. Und wenn er es letztendlich nicht tat, so war das allein dem guten Balley zu verdanken, der sich die Mühe machte, „seinem Schüler jene Theologie zugänglich zu machen, die das schwer verständliche Lateinbuch des Seminars auch vielen anderen verschlossen hielt“ (René Fourrey). Auch in den ersten Jahren als Pfarrer kostete es ihn große Mühe, die Lücken zu füllen, die einen mittelmäßigen, unbeholfenen Prediger aus ihm machten. Die Vorbereitung seiner Predigten nahm viele Stunden in Anspruch und raubte ihm nicht selten den Schlaf. Er schrieb sie in seine kleinen Notizhefte und lernte sie auswendig – aber sie waren dennoch meist nichts anderes als eine zufällige Aneinanderreihung von Sätzen und Zitaten, die er den damaligen Predigtbüchern entnommen hatte. Abgesehen von dem ein oder anderen Verweis auf die Situation seiner Pfarrkinder war darin kaum etwas Eigenes. Es konnte auch vorkommen, dass er seine Predigten nicht zu Ende hielt, weil er wieder einmal eine Gedächtnislücke hatte. Die aus den Predigten der ersten Jahre ersichtliche rigoristische Ader, mit der er sich zum „Züchtiger“ halbherziger Christen aufschwang, ist zum Großteil auf die abgeschriebenen Predigten zurückführen, auf die er sich zu stützen pflegte. Auch als der Ruf seiner Heiligkeit bereits in ganz Frankreich von Mund zu Mund ging, war er durch seine Unbeholfenheit und fehlende Bildung weiterhin eine leichte Zielscheibe für den Spott jener Kleriker, die neidisch waren auf diesen armen Kerl, zu dem die Pönitenten aufblickten wie zu einem Kirchenlehrer. Sein Mitbruder Jean-Louis Borjon schrieb ihm einmal, dass ein Ungebildeter wie er, der nichts von Kirchengeschichte verstand, der Predigten hielt, die so schlecht abgeschrieben waren, dass das Konzil von Trient zum „Concile des trente“ [Konzil der dreißig] wurde, nie einen Beichtstuhl hätte betreten dürfen.
Henri-Dominique Lacordaire sah das nicht so. Der berühmte Prediger, Apostel eines ultramontanistischen und zugleich liberalen Katholizismus, der Notre-Dame de Paris mit seinen Fastenpredigten gefüllt und den Dominikanerorden in Frankreich neu gegründet hatte, kam 1845 nach Ars, um an einer missa cantata teilzunehmen, bei der der Pfarrer über den Heiligen Geist predigte. Er war überwältigt. „Wie gern würde ich predigen wie er!“ sagte er. In Notre-Dame hatte er nicht selten erlebt, dass die Menschen auf die Beichtstühle kletterten, um seinen brillanten Predigten lauschen zu können – jene aber, die die gestammelten Worte des Pfarrers von Ars gehört hatten, knieten im Beichtstuhl nieder.

Jugendliche beten am Grab des Pfarrers von Ars. [© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Jugendliche beten am Grab des Pfarrers von Ars. [© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Von der Strenge zur Liebe zu Gott
Als Lacordaire nach Ars kam, war das Dorf bereits ein Pilgerzentrum geworden, in das die Menschen aus dem ganzen Land strömten. Es war immer noch derselbe Ort, in den der junge Vianney 27 Jahre zuvor gekommen war. Ein alles andere als brillanter Seminarist, den man in dieses abgelegene Nest geschickt hatte, in dem Bauern wohnten, wie er einer war. Nicht einmal 400 Seelen, die – wenn man seinem Vorgänger glauben kann – jede apostolische Anstrengung mühsam und frustrierend machten, „angesichts der Dummheit und der Unfähigkeit dieser Wesen, von denen sich die meisten nur durch die Taufe von den Tieren unterscheiden.“
Das war es, was der junge Pfarrer hier vorfand – und in dieser Situation fiel ihm nichts Besseres ein als einfach nur das zu tun, was jeder Priester kraft seines Amtes tun konnte. Gebete, Sakramente, Katechismus, die körperlichen und geistlichen Werke der Barmherzigkeit für Arme und Leidende. Die Hausbesuche bei seinen Pfarrkindern waren stets kurz, nie ließ er sich zum Essen einladen. Manchmal machte er einen Spaziergang über die Felder, um mit den Bauern zu plaudern. Mit den frommen Frauen betete er den Rosenkranz. Und er brachte Stunden in der Kirche zu, vor dem Tabernakel betend, oder schloß sich bis weit nach Mitternacht im Beichtstuhl ein. Und genau das ist das Geheimnis des „Wunders“ von Ars. Nicht mehr und nicht weniger. Die ersten, die das bemerkten, waren die Kinder. Von Anfang an legte er besonders viel Wert auf den Katechismus für die Kleinsten. Aber es dauerte nicht lange, bis es ihm gelungen war, auch die sie begleitenden Eltern in seinen Bann zu ziehen.
So kam es, dass sich an diesem Ort, an dem er vierzig Jahre lang immer dieselben Dinge tat, ein dichtes Netz geheilten Lebens entwickeln konnte. Leben, das Vergebung erlangt hat. Und alles, was ihm widerfuhr, sein Herz und seinen Blick für die anderen nur noch offener machte. Am Anfang hatte der junge Jean-Marie von seinen Gläubigen denselben Eifer, dieselbe Askese verlangt, die er auch sich selbst auferlegte. Er wollte aus seinem Dorf eine Idylle heroischer Heiligkeit machen. Aber seine guten Absichten nahmen oft die Form drohender Vorwürfe an, ja wurden zu regelrechten Schimpfkanonaden gegen die Wirtshäuser – Orte der Verdammnis – und gegen die neue Mode der Tanzvergnügen. „Da er sich selbst die strengste Disziplin auferlegt hatte“, schrieb sein Biograph Fourrey, „verstand er nicht gleich, wie schwach die durchschnittlichen Christen waren, die den Großteil der Getauften ausmachen. Da er den moralischen Regeln einer strengen Jansenisten-Tendenz unterlag, neigte er immer wieder zu Extremen.“ Mit den Jahren änderten sich die Dinge. Wie Catherine Lassagne, die ein Leben lang seine Mitarbeiterin war, schrieb, „schien seine Liebe zu Gott mit zunehmendem Alter und schwindenden Kräften immer größer zu werden. Als sich sein Leben dem Ende zuneigte, drehten sich seine Lehren, sein Katechismus fast immer um die Liebe Gottes. Er begann manchmal mit einem anderen Thema, kam dann aber immer wieder auf die Liebe zurück, vor allem die Güte und die Liebe des Heiligen Herzens Jesu, seine Güte den Menschen gegenüber“. Im Laufe der Zeit wurde der ehemalige „Züchtiger“ immer nachgiebiger. Sich seiner Grenzen in einem immer währenden Martyrium der Kasteiung stets bewusst, erkannte er immer deutlicher, dass er selbst Bußen und Gebete anbieten musste für die Undankbaren, die nicht von den Gnadengaben profitieren wollten. „Ich kann mich noch gut erinnern“, erzählt Catherine Lassagne in ihren Erinnerungen, „dass er die Leute nach dem Jubiläum, das einige nicht zu interessieren schien, in der Kirche geradezu anflehte, von den Sakramenten zu profitieren: ‚Wenn sie kommen wollen, werde ich selbst an ihrer Stelle Buße tun‘.“
So wurde Ars zum Ort des versprochenen und erlebten Heils; dem Ort, wo sich alles Leid Frankreichs sammelte. Menschen, die Sorgen quälten; abgestumpfte Herzen; von den verschiedensten Schicksalsschlägen Getroffene; Reich und Arm; Bettler und feine Herren; Gebildete und Ungebildete; Rastlose und Verlierer; von Krankheiten Gebeugte. Und der Pfarrer von Ars ließ sich ganz vereinnahmen von der immer größer werdenden Schar der Pilger, die ihn Tag und Nacht bedrängten, ihm kaum eine Atempause ließen. Um sie alle verpflegen zu können, mussten sogar die Wirtshäuser wieder ihre Pforten öffnen.

Die Eingangstür zu seinem Haus. <BR>[© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Die Eingangstür zu seinem Haus.
[© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Zwischen Angst und Hoffnung
Das alles wäre eigentlich Grund genug gewesen, sich ein wenig im Ruhm zu sonnen oder doch zumindest eine gewisse, wohlverdiente Befriedigung zu empfinden. Doch aus dem Mund des Pfarrers konnte man bis ans Ende seiner Tage nichts anderes vernehmen als das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit. „Ich glaube“, sagte er einmal zu Lassagne, „dass der liebe Gott keinen Schwächeren gefunden hat, der meinen Platz hätte einnehmen können. So bedient er sich ja normalerweise auch dessen, was wenig ist, um viel Gutes zu tun. Denn er ist es, der alles tut.“ Papst Paul VI. sagte über ihn: „Als man dem heiligen Pfarrer am Ende seines Lebens einen anderen Pfarrer als Hilfe zur Seite stellte, sagte er zu diesem: ‚Wenn Ihr hier seid, geht noch etwas voran. Aber was soll ich schon allein vollbringen? Ich bin wie eine Null, die nur neben einer anderen Zahl einen Wert hat!‘“
Diese Demut des heiligen Pfarrers war nicht gespielt. Für ihn waren „die schlimmsten Versuchungen, die die Seelen am meisten in die Verdammnis ziehen, die der Selbstliebe; jener Anflug von Stolz, unser Eigenlob für alles, was wir tun und was über uns gesagt wird.“
Zerbrechlich und schlicht sah er auch aus. Die kontinuierliche Erfahrung seiner Grenzen quälte ihn sein ganzes Leben lang. „Wenn ich mich so ansehe, sehe ich nichts anderes als meine armseligen Sünden. Auch wenn mir der liebe Gott nicht erlaubt, sie alle zu sehen, mich also vollkommen zu kennen. Denn das wäre ein Anblick, den ich sicher nicht ertragen könnte.“ Ihn quälte vor allem der Gedanke, dass jemand durch seine Schuld und sein Dem-Priesteramt-Unwürdig-Sein der ewigen Verdammnis anheimfallen könnte. Weil seine mittelmäßigen Predigten vielleicht nicht die Herzen des Volkes zu erreichen vermochten, das in seinem eigenen, instinktiven Materialismus erstickt war. Und wenn dann auch noch Fremde zu ihm in den Beichtstuhl kamen, war die von ihm empfundene Beschämung noch größer. Er musste nicht gegen die Versuchung ankämpfen, auf ein Podest steigen zu wollen – das Gegenteil war der Fall: er wollte nur dem unerträglichen Druck der Berühmtheit und der Menge entfliehen, die ihn wie einen Heiligen bewunderte. Er wollte nicht mehr bleiben, „da er sich für zu wenig gebildet hielt, um die anderen zu führen, und er fürchtete, mit denen, die er führen sollte, Schiffbruch zu erleiden“, erinnert sich Catherine Lassagne. Seine lächerlichen Fluchtversuche aus Ars wurden jedoch von seinen Pfarrkindern und Mitarbeitern stets vereitelt. Selbst die Pilger hielten ihn am Ausgang des Pfarrhauses auf: „Herr Pfarrer, wenn wir Euer Missfallen erregt haben, so sagt es uns: wir werden alles tun, was Ihr wollt, um Euch zu Gefallen zu sein.“

Gläubige bei der Messe im Heiligtum von Ars. <BR>[© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Gläubige bei der Messe im Heiligtum von Ars.
[© Romano Siciliani/Alessio Petrucci]

Die beste Art und Weise, Gott zu lieben
Nicht die Misere der Pönitenten bereitete dem Pfarrer endlose Qualen. An Abbé Camelet, den Oberen der Missionare von Pont-d’Ain, schrieb er: „Am liebsten würde ich mich in eine Ecke verkriechen und bittere Tränen über mein kümmerliches Leben vergießen, um die Vergebung Gottes zu erlangen für meine Unwissenheit, meine Heuchelei und meine Gier… Betet für mich, dass ich nicht verdammt sein möge!“ Seinem Bischof, der ihn fragte, ob er irgendwann der Versuchung des Stolzes erlegen sei, antwortete er ohne Zögern: „Es kostet mich mehr Mühe, mich gegen die Versuchung der Verzweiflung zur Wehr zu setzen als gegen die des Stolzes.“
Eine Hoffnung wie die des Pfarrers, der sich immer am Rande der Verzweiflung bewegte, ist auch den Menschen unserer Zeit vertraut. Der schmächtige Pfarrer von Ars war kein selbstherrlicher Lehrmeister ewiger Gewissheiten. Man musste ihn sich nur ansehen und verstand, dass er nicht aus seiner eigenen Kraft schöpfte. Dass der Glaube, die Hoffnung und die Liebe, die er ausstrahlte, nicht das Ergebnis seiner eigenen Bemühungen waren; dass er nicht die Rolle der „schönen Seele“ spielte. Die Gaben der Gnade wurden von ihm mit der zögernden Hand dessen angeboten, der um Almosen bittet. So dass er sagen konnte: „Die Demut ist die beste Art und Weise, Gott zu lieben.“ „Er ist ein armer Heiliger,“ sagt Jean-Philippe Nault, der derzeitige Rektor von Ars. „Und einem Armen zu begegnen, macht keine Angst. Wie bei der kleinen Therese; wie bei Bernadette, die uns sagen: wenn du arm bist, dann bin ich es mehr als du. Wir sind gemeinsam arm vor dem Herrn.“ Einem wie ihm könnte man vielleicht auch heute leicht zuhören; und dann würde uns vielleicht das Herz höher schlagen, wenn er uns versichert, dass Gott, der um das Herz des Menschen bettelt, den Sündern nie seine Gnade verwehrt. Und dass es der größte Fluch ist, „der Barmherzigkeit Gottes Grenzen zu setzen“, die doch niemals endet. So sehr, „dass es auch die Hölle nicht mehr geben würde, wenn man in der Hölle beten könnte.“


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