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RUSSLAND
Aus Nr. 08 - 2009

MOSKAU. Tradition und Ökumene

Ein Lob auf die wesentlich en Dinge und den Dialog


Interview mit Vsevolod Chaplin, Leiter der synodalen Abteilung für die kirchlichen Außenbeziehungen.


Interview mit Vsevolod Chaplin von Giovanni Cubeddu und Fabio Petito


Vsevolod Chaplin. [© Afp/Grazia Neri]

Vsevolod Chaplin. [© Afp/Grazia Neri]

Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche. Der Synod hat sehr schnell einen neuen Patriarchen gewählt. Welches Bild der russisch-orthodoxen Kirche hat sich dabei gezeigt? Welche Botschaft hat die christliche Welt erhalten, und welches Bild haben die Gläubigen von der russischen Orthodoxie?
VSEVOLOD CHAPLIN: Die Kirche hat vor allem ihre Einheit unter Beweis gestellt. Trotz der verschiedenen Präferenzen, die im Moment der Wahl des Patriarchen zum Ausdruck kamen, ging die überwiegende Mehrheit der Stimmen an ihn. Das Konzil zur Wahl des Patriarchen hat klar seine Einheit zum Ausdruck gebracht. Nach der Wahl stand die gesamte Hierarchie hinter dem Konzil – auch jene, die selbst Kandidaten für das Patriarchenamt gewesen waren. Außerdem habe ich selbst als Konzilsteilnehmer einen wahren mystischen Einheitsgeist der Kirche wahrgenommen. Alle waren vereint in dieser Wahl, vereint im Gebet, vereint in der Freude über die Tatsache, dass die Kirche einen neuen Patriarchen gewählt hat. Und mit derselben Einstimmigkeit wurden auch die Schlussresolutionen approbiert, mit denen ein besonderer Akzent auf die Aktivität der Jugendlichen in der Kirche gesetzt wurde, auf den Einsatz für die Mission und das Apostolat. Mit dem Ziel, die Millionen von Personen zu wahren Christen zu machen, die sich heute zum orthodoxen Glauben bekennen, aber einem wirklich kirchlichen Leben oft fernstehen und vom orthodoxen Glauben, vom Leben nach den Geboten Christi, eigentlich nur wenig wissen. Meiner Ansicht nach hat sich schon vor diesem lokalen Konzil in der Kirche der Gedanke durchgesetzt, dass man sich heute weniger auf die Kultstätten konzentrieren soll – die ohnehin schon gebaut oder größtenteils repariert worden sind –, sondern auf die Seele des Menschen. Das ist es auch, wovon der verstorbene Patriarch Alexej II. in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder gesprochen hat.
Die Wahl eines neuen Patriarchen weckt immer große Hoffnungen. Was hoffen Sie für die russische Kirche?
CHAPLIN: Ich hoffe, dass all das eintreten wird, was die Resolutionen des Kirchenkonzils besagen und was der Patriarch auch in der Ansprache zu seiner Amtseinsetzung gesagt hat, in der er die Bedeutung des Missionswerkes und des Apostolats herausstellte, den Erziehungsauftrag der Kirche, den Dialog mit den verschiedenen sozialen Entscheidungsträgern und mit dem Staat. Ich hoffe, dass unsere Kirche wirklich eine Kirche des Volkes wird; eine Kirche, die die Erwartungen der Leute kennt und sie erfüllen kann. Eine Kirche, deren prophetische Stimme der Wahrheit auch zu den Machthabern vordringt, zur Elite, zu den Entscheidungsträgern in der Gesellschaft.
Patriarch Kyrill hat einmal gesagt, er wolle nicht als „Reformator“ betrachtet werden. Welche Bedeutung haben Begriffe wie „Einheit“ und „Pluralität“, „Tradition“ und „Modernität“ heute in der russisch-orthodoxen Kirche? Wie ist sie strukturiert?
CHAPLIN: Die orthodoxe Kirche ist per Definition Hüterin der Tradition. Nicht aber, weil ihr gefällt, was alt ist, sondern weil sie weiß, dass die ewigen Wahrheiten beständig sind, weil Gott beständig ist. Die wahre Tradition ist die Fähigkeit, die Wahrheit zu hüten, die stets nur eine ist, unabhängig von den veränderlichen historischen Umständen. Wenn man diese Wahrheit lebt, wenn man sich ihrer bewusst ist, wenn man ihr treu bleibt, dann kann man verstehen, dass sich die kulturellen Ausdrucksweisen dieser Wahrheit auch plötzlich ändern können, ohne dass das dieser Wahrheit Abbruch tut. Und das ist auch der Grund, warum in unserer Kirche Dinge wie die Einheit des Glaubens, der Gedanke von einem ewigen und unveränderlichen Gott, seine Beziehung zur Welt und zum Menschen auf viele verschiedene Weisen zum Ausdruck kommen, unterschiedliche Formen annehmen können. In unserer Kirche gibt es nämlich Gläubige der verschiedensten Nationalitäten. Diese Menschen verschiedener Altersgruppen sind auf alle Kontinente verteilt, haben unterschiedliche, ja manchmal sogar gegensätzliche politische Überzeugungen. Zu unseren Gläubigen gehören Männer und Frauen oft auch extremer Ausrichtungen – Ultramonarchisten und radikale Kommunisten, Liebhaber klassischer Musik und Rockmusikfans. Und doch wird die Kirche auch inmitten dieser Verschiedenheit weiter Bestand haben: sie repräsentiert nämlich eine riesige Gemeinschaft unterschiedlichster Menschen. Und in dieser Vielfalt darf man nicht die Wahrheit aus den Augen verlieren, aus der wir leben.
Weniger als 50% der Delegierten des Konzils, das Patriarch Kyrill wählte, stammten aus den russischen Eparchien, alle anderen kamen von jenseits der russischen Grenzen. Was repräsentiert die russische Orthodoxie heute; wie sieht sie sich selber? Mit welchen Fragen befasst sie sich?
CHAPLIN: Mit sehr vielen... Es ist schwierig, hier nur eine herauszustellen. In Sachen Zusammenarbeit zwischen Kirche und Gesellschaft beispielsweise – ein Thema, das mich derzeit sehr beschäftigt –, hat man jeden Tag mit Dutzenden von Fragen zu tun. Und jede dieser Fragen ist für eine bestimmte Personengruppe die wichtigste. Unlängst fungierten ich und der russische ombudsman [Bürgerbeauftragter, Anm.d.Red.] Vladimir Lukin beispielsweise als Mittelsmänner bei einer Begegnung zwischen Repräsentanten einiger staatlicher Ministerien und Regierungsbüros und den orthodoxen „Antiglobal-“Aktivisten, die gegen den nun weltweit möglichen Computerzugriff auf persönliche Daten protestieren. Sie sind nämlich der Meinung – was ja größtenteils auch berechtigt ist –, dass das Sammeln von Informationen über das, was jemand im Laufe seines Lebens tut, dem Staat und seinen übernationalen Organen eine übertrieben große Macht gibt. Und für diese Gruppe ist gerade das Problem des Datenschutzes natürlich das wichtigste. Am selben Tag haben wir in einer russisch-deutschen Konferenz die Frage des Aufbaus von Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Europa und in der Welt besprochen. Danach habe ich Vertreter des Justizministeriums getroffen, die damit betraut sind, die Besorgnis auszuräumen, die die Aktivität der ausländischen Missionare in der Gesellschaft ausgelöst hat – ein weiteres, sehr wichtiges Thema. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Versammlung mit den Verantwortlichen für die Ausarbeitung des neuen staatlichen Modells für das Bildungswesen. Wir sind natürlich alle neugierig zu erfahren, welchen Stellenwert der Religionsunterricht im Stundenplan einnehmen wird. Wie Sie also sehen, haben wir einiges zu tun. Wir sind ja schließlich auch eine Kirche, die aus unterschiedlichen Personen gemacht ist. Zu uns gehören Tausende von Pfarreien in Ländern wie der Ukraine, Weißrussland, Moldawien – und jede davon lebt in ihrer ganz besonderen, eigenen Situation. Wir haben auch Pfarreien in den Ländern des Baltikums und Zentralasiens, wo es die unterschiedlichsten politischen Situationen gibt. Und überall haben die Gläubigen ihre Sorgen, ihre Erwartungen. Die Fragen, die sich stellen, sind also unzählige.
Die Christ-Erlöserkathedrale in Moskau. <BR>[© Associated Press/LaPresse]

Die Christ-Erlöserkathedrale in Moskau.
[© Associated Press/LaPresse]

Können Sie uns bitte einen Gesamtüberblick geben?
CHAPLIN: Wir sind eine recht große und solide Gemeinde. Über verschiedene Länder und auf unterschiedliche Situationen verteilt, zählen wir fast 30.000 Pfarreien; Realitäten, die manchmal auf sozialer Ebene gar nicht unterschiedlicher sein könnten. Nehmen wir beispielsweise eine Kirche im Zentrum von Moskau, umgeben von den Büros der großen Firmenkonzerne – und eine kleine Kirche im tiefsten nd kleine Klöster, in denen vielleicht nur fünf, sechs Nonnen leben und arbeiten. Es gibt auch sehr viele orthodoxe soziale Vereinigungen: patriotische Vereinigungen, Jugendgruppen, die sich um den Wiederaufbau von Kirchen und Klöstern kümmern, Wohltätigkeitsvereine, religiöse Frauenverbände, orthodoxe Zeitungen und Zeitschriften, Fernseh- und Radiostationen, Theater – für Professionisten und Amateure –, Filmclubs, Motorradgruppen (viele davon unterhalten derzeit Kontakte zu den Pfarreien), Verlage, die literarische Werke drucken. Schon seit zwei, drei Jahren erlebt die literarische Aktivität von Priestern und Gläubigen bei uns einen wahren Boom, und es werden immer mehr interessante Bücher veröffentlicht – Kinderbücher ebenso wie philosophische und politologische Bücher. Ich glaube, dass unsere ohnehin schon so vielschichtige Kirche bald noch vielschichtiger werden könnte.
Kirche und Kultur. In der heutigen Debatte spricht man oft und gerne von „Werten“. Läuft man dabei nicht Gefahr, das evangeliumsgemäße Leben zu idealisieren, ja vielleicht von einer abstrakten Menschheit zu sprechen?
CHAPLIN: Das ist eine sehr interessante Frage. Ich glaube aber, dass es nicht gelungen ist, ein universales Wertesystem zu schaffen. Es ist ja auch nicht gelungen, eine Staatsreligion zu schaffen. Vielleicht kann dieses Anliegen aber doch dazu beitragen, dass eine Gesellschaft in Frieden leben und einen gewissen Wohlstand, eine gewisse Stabilität genießen kann. Wenn man von den Menschen aber verlangt, ihren Komfort und Wohlstand zu opfern – und wenn nicht gleich ihr Leben, dann doch zumindest ihre materiellen Ansprüche, Launen, Gewohnheiten, ihren Egoismus, dann kann man feststellen, dass ein Wertesystem ohne Glauben nur schwer funktioniert. Am kulturellen Zusammenprall zwischen der westlichen und der islamischen Welt sehen wir z.B., dass die religiöse und die laizistische Sicht fast unweigerlich zusammenprallen müssen. Es ist eine Art Zusammenprall zwischen Freiheit und Macht. Die Verfechter des als soziales Modell verstandenen Säkularismus, der in einem gewissen Sinne bessere Perspektiven anbietet, können nicht mehr überzeugen. Ja, selbst ihr Lieblingsslogan funktioniert nicht mehr: der nämlich, dass die laizistisch geprägten Länder besser und friedvoller leben als Länder, in denen die Religiosität stark ausgeprägt ist. Mir scheint, dass eine Sicht der säkularisierten Welt, in der kein Platz ist für die Religion, keine optimale Plattform für eine Versöhnung der Religionen und einen Dialog zwischen den Weltanschauungen sein kann. Diese weltliche Weltanschauung muss eine von vielen bleiben, und sie muss im Dialog dasselbe Gewicht haben wie die anderen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ich bin überzeugt davon – und das sage ich am Öffentlichen Weltforum „Dialog der Kulturen“ ja auch immer wieder –, dass wir unserer Welt nur dann eine Zukunft geben können, wenn die sozial und politisch Verantwortlichen und die Verfechter der Rollen, die die Religion in der Gesellschaft spielen soll, vorurteilslos miteinander sprechen. Also ohne zu versuchen, einander umzukrempeln. Und dabei dürfen wir nie vergessen, dass jeder Weltanschauung das Recht zusteht, einen bestimmten Teil der nationalen und internationalen Gemeinschaft zu formen.
Wir treiben einen Dialog mit dem Staat voran und versuchen, zusammenzuarbeiten.… in der einen oder anderen Weise wollen wir doch dasselbe: den Menschen dienen. Und gerade das ist das ideale orthodoxe Modell, die „Harmonie.”
Sie waren der erste Würdenträger der russischen Kirche, der Saudi-Arabien einen offiziellen Besuch abgestattet hat. Welche Vorstellung von einem „Dialog der Kulturen“ hat das Patriarchat, und wie gedenkt man diesen Dialog voranzutreiben?
CHAPLIN: Im Bereich des Dialogs der Kulturen und der Religionen bietet sich der Welt heute ein wichtiger Handlungsspielraum. Es ist kein Zufall, dass es in Russland, in Zentralasien und in Aserbaidschan seit vielen Jahrhunderten einen Dialog zwischen Orthodoxen, Christen und Muslimen gibt. Wir unterhalten auch gute Beziehungen zu den Juden und den Buddhisten. Wir müssen uns besser kennenlernen, dürfen nicht vergessen, dass wir viel gemeinsam haben. Und wir müssen – soweit möglich – versuchen, mit Fernstehenden über die ewigen Gesetze des Lebens und die moralische Dimension der Existenz zu sprechen. Mit Menschen also, die leider versuchen, die moralische und die spirituelle Dimension des Lebens beiseite zu schieben, als wäre es etwas, das überholt ist und nicht mehr gebraucht wird. Das ist sicher einer der Gründe, warum wir auf interreligiöse Beziehungen setzen, und zwar sowohl im Bereich des interreligiösen russischen Rates als auch was die täglichen, konkreten Kontakte betrifft. Ich bin überzeugt, dass diese Beziehungen weitergehen werden. Das ginge auch gar nicht anders – immerhin leben wir schon seit vielen Jahrhunderten zusammen.
Kommen wir auf die russische Gesellschaft zu sprechen. Jesus hat gesagt, dass uns die Armen immer begleiten werden. Ihre Kirche setzt sich für den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes ein. Metropolit Kyrill hat vor ein paar Jahren einen Verhaltenskodex für Wirtschaft und Politik entwickelt, der auf den 10 Geboten der Bibel basiert – verstanden als wesentliche Sprache, als Grundlage einer Übereinkunft über das unerlässliche Minimum, und als Vorschlag eines Kompromisses, den alle Entscheidungsträger im sozialen Bereich gutheißen können. Stimmt das?
CHAPLIN: Dieses Dokument wurde 2004 vom Russischen Weltkonzil approbiert. Es handelt sich nicht um ein rein religiöses Dokument. Gewiss, es ging von Metropolit Kyrill aus, an seiner Abfassung war aber eine ganze Gruppe von Personen beteiligt, besonders Wirtschaftsexperten der „Rechten“, der „Linken“ und der „Mitte“. Und es wurde nicht als religiöses Dokument verfasst, enthält keinen einzigen rein theologischen Begriff. Sein Zweck war es, dem Staat, der Wirtschaftswelt und den Verantwortungsträgern ein Regelwerk anzubieten. Regeln, die besagen, dass man seine Versprechen halten muss, keine Korruption erlauben darf und einen übertriebenen Einfluss der Wirtschaft auf die Politik und die Informationsmittel eindämmen soll – ein Problem, das damals in Russland besonders aktuell war. Es wurde auch ein Verhaltensmuster vorgeschlagen, das in der Wirtschaftswelt gelten sollte und das eine klare Absage an Vulgarität in den Ausdrucksweisen, Täuschung, sexuellen Missbrauch, usw. war. Dieses Dokument wurde den Verantwortungsträgern der Wirtschaft und der Gesellschaft allgemein vorgeschlagen. Es hat eine recht lebhafte Debatte ausgelöst. Der Gouverneur einer Region hat den Text sogar als Leitfaden übernommen – gefolgt von der Unternehmerunion und von den lokalen Berufsgenossenschaften. Auch die lokale Eparchie wurde mit einbezogen. Gewiss, der ein oder andere war der Meinung, dass es nicht Aufgabe der Kirche wäre, sich um Wirtschaftsangelegenheiten zu kümmern, dass das die Domäne der Wirtschaftsexperten bleiben sollte. Aber damit bin ich keineswegs einverstanden. Schon allein deshalb nicht, weil sich die Wirtschaft direkt auf den Alltag der Menschen auswirkt. Und alles, was den Menschen betrifft, betrifft auch die Kirche.
Sie haben vorhin davon gesprochen, dass der Religionsunterricht an russischen Schulen noch immer mit Argwohn betrachtet wird. Wäre es nicht an der Zeit, sich die diesbezügliche internationale Erfahrung zum Vorbild zu nehmen?
CHAPLIN: Ja, auch das muss getan werden. Im Bereich des Bildungswesens herrscht bei uns eine Trägheit „im sowjetischen Stil“. Die Kirche dagegen schlägt – wie in den europäischen Ländern bereits üblich – vor, dass an den Schulen ein Wahlfach angeboten wird. Dass man also wählen kann zwischen einer Religion, einer weltlichen Ethik oder einem Kurs über die Religionen insgesamt. Diese Möglichkeit, hier wählen zu können, ist meiner Meinung nach absolut notwendig. In unserer Gesellschaft sind verschiedene Gruppen vertreten, und eine jede davon hat ihre eigene Weltanschauung: orthodoxe Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Katholiken, Protestanten, Nicht-Glaubende. Die Schule darf nicht alle über einen Kamm scheren, sondern muss darum bemüht sein, den Schülern eine Erziehung zur Moral zu geben, dem Glauben entsprechend, der in den einzelnen Familien gelebt wird.
Wie werden Sie Ihr neues Amt im Moskauer Patriarchat angehen, genau gesagt an der Leitung der synodalen Abteilung für die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft?
CHAPLIN: Wie jemand, der Tag für Tag Tausende von Problemen zu bewältigen hat, sozusagen immer irgendwie „jonglieren“ muss. Die Abteilung hat zwei Aktionsbereiche. Einer betrifft die Teilnahme an Debatten über den legislativen iter, den Dialog mit den Organen der legislativen Macht in Russland und den anderen Ländern des kanonischen Territoriums unserer Kirche. Der andere liegt im Bereich der Beziehungen zu einer Reihe von sozialen, orthodoxen und weltlichen, Organisationen – seien es nun kulturelle Vereinigungen, politische Parteien, Berufsgenossenschaften, Unternehmerunionen oder Vereinigungen unterschiedlicher Art. Viele richten Anfragen an den Patriarchen, die dringend eine Antwort erfordern. Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, ein strategisches Interaktionssystem auszuarbeiten, das sowohl den Erwartungen der Kirche als auch denen der weltlichen Gesellschaft entspricht. Auf diese Weise können wir uns hoffentlich nicht nur gegenseitig bereichern, sondern auch ein gemeinsames Leben und Handeln für unsere unmittelbare Zukunft planen.
Kyrill, Patriarch von Moskau, begrüßt den russischen Staatspräsidenten Dmitrij Medwedew und Premierminister Wladimir Putin bei der Osterliturgie in der Christ-Erlöserkathedrale in Moskau (19. April 2009). [© Associated Press/LaPresse]

Kyrill, Patriarch von Moskau, begrüßt den russischen Staatspräsidenten Dmitrij Medwedew und Premierminister Wladimir Putin bei der Osterliturgie in der Christ-Erlöserkathedrale in Moskau (19. April 2009). [© Associated Press/LaPresse]

Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Russland?
CHAPLIN: Bei uns sind Kirche und Staat nicht nur formal getrennt, sondern auch, was die Substanz angeht. Der Staat finanziert die religiösen Organisationen nicht. Bestimmte, leider alles andere als ausreichende Fonds sind für den Wiederaufbau architektonischer Monumente bestimmt, die Eigentum des Staates sind, aber von den Religionsgemeinschaften genutzt werden. In der Armee gibt es keine regulären Militärgeistlichen, in den meisten Schulen keinen Religionsunterricht. Die Trennung zwischen Staat und Kirche ist bei uns also noch viel klarer als in den meisten europäischen Ländern. Ja, vielleicht sogar noch deutlicher als in den Vereinigten Staaten. Wir treiben einen Dialog mit dem Staat voran und versuchen, zusammenzuarbeiten. Wir diskutieren viel. Ich selbst rede mich bei Versammlungen mit den Vertretern der Regierungsorgane oft heiser. Es gibt viele Punkte, in denen wir uns uneins sind – sei es nun der Religionsunterricht an den Schulen; die Situation der allgemeinen Moral; Werbespots und Reklame, die schon fast an Pornographie grenzen; der Handel mit Alkohol; sexueller Missbrauch von Kindern. Diese Themen lösen immer wieder lebhafte Diskussionen aus, aber in der einen oder anderen Weise wollen wir doch dasselbe: den Menschen dienen. Und gerade das ist das ideale orthodoxe Modell, die „Harmonie“, laut der Kirche und Staat zwar getrennt sind und sich nicht scheuen dürfen, schwierige Fragen anzugehen, aber auch zusammen am Gemeinwohl arbeiten müssen. Sie sollten sich also so gut wie möglich ergänzen.
Ein ideales Modell, aber in einer Epoche, in der eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise im Gang ist. Wie steht das Patriarchat dazu?
CHAPLIN: Wir müssen, wie bereits gesagt, beginnen, die Traditionen zu respektieren, die staatlichen Einrichtungen, die Gesetze und die Regeln, die in den verschiedenen Gesellschaften gelten. Auch dort, wo diese Regeln, Gesetze und Traditionen, die man manchmal leider nur allzu leicht als einziges Modell der politischen Tendenzen und Normen betrachtet, genau das Gegenteil von denen sind, die im Westen gelten. Das Geld symbolisiert die Arbeit des Menschen und die von ihm festgesetzten Werte. Im Bereich der Wirtschaft muss also der Zusammenhang zwischen dem Geld, oben genannten Werten und der Arbeit des Menschen wieder hiergestellt werden. Wenn der Markt nicht länger eine Methode des Austausches der Früchte der Arbeit ist, sondern zum Austausch von Ziffern wird, man Garantien mit Darlehensquittungen verwechselt, dann führt das unweigerlich zum Zusammenbruch. Das zeigt die gesamte Menschheitsgeschichte, und das sieht man auch zum derzeitigen Zeitpunkt.
Sie sind für Ihre amüsanten Anekdoten bekannt.
CHAPLIN: Damit kann ich gerne dienen. Hier ist eine: „Wie man hört, wird bald ein neuer Computervirus im Umlauf sein: der ‚Inquisitor‘. Er wird die theologische Untadeligkeit der Webseiten kontrollieren und eventuell folgende Warnung erscheinen lassen: ‚Vorsicht! Auf dieser Seite wurde eine Häresie gefunden! Unterbrechen Sie sofort die Verbindung, starten Sie den Computer neu und lassen Sie ihn wieder segnen‘.“


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