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EDITORIAL
Aus Nr. 09 - 2009

Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall

Der unabdingbare Pragmatismus


Giulio Andreotti lässt den deutschen Wiedervereinigungsprozess und die politischen Ereignisse Revue passieren, die die kommunistischen Länder Osteuropas ins Wanken brachten. Protagonisten und Schlüsselmomente der Ost-West-Bipolarität. Interview.


Interview mit Giulio Andreotti von Roberto Rotondo


Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl mit Ministerpräsident Giulio Andreotti. Hinter ihnen sind der italienische Außenminister Gianni De Michelis und sein deutscher Kollege 
Hans-Dietrich Genscher zu erkennen (Bonn, Oktober 1989).

Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl mit Ministerpräsident Giulio Andreotti. Hinter ihnen sind der italienische Außenminister Gianni De Michelis und sein deutscher Kollege Hans-Dietrich Genscher zu erkennen (Bonn, Oktober 1989).

„Es gab einen Moment, in dem wir den Eindruck hatten, als wäre der status quo veränderbar, als wäre die Mauer, die Ost und West seit 40 Jahren trennte, vielleicht doch nicht ganz so unantastbar. Man konnte spüren, dass eine positive Entwicklung möglich war, wenn auch nicht ohne Probleme. Heute ist das für die Historiker sonnenklar, damals aber war es nicht ganz so einfach.“ Als die Berliner Mauer am 9. November vor 20 Jahren fiel, war Giulio Andreotti Regierungschef Italiens und setzte sich in vorderster Linie dafür ein, dass es schon 329 Tage nach dem Mauerfall zur Wiedervereinigung der beiden Deutschland kommen konnte. Italien spielte in jenen turbulenten Tagen eine wichtige politische Rolle – auch deshalb, weil es damals den Vorsitz in der Europäischen Gemeinschaft und in der KSZE hatte. Und Andreotti, der die Wiedervereinigung in den Jahren zuvor mit Skepsis betrachtet hatte, war inzwischen einer ihrer Befürworter geworden: „Helmut Kohl muss sich bei Italien, und besonders bei Andreotti, dafür bedanken, dass vieles gut gelaufen ist“, erklärte Gianni De Michelis, der damalige italienische Außenminister erst unlängst Limes gegenüber.
Herr Direktor, warum haben Sie Ihre Meinung geändert? „Ich war nie a priori gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands, deren Grundlagen ja eigentlich schon mit der Schlussakte von Helsinki des Jahres 1975 gelegt worden waren. Der Unterschied war nur, dass etwas, das noch kurz zuvor ein gewagtes Abenteuer zu sein schien, auf einmal praktisch machbar war. Gewisse Schritte ergaben sich aus Faktoren, die anfänglich zweitrangig waren, die Situation dann aber in ihrer Gesamtheit doch nachhaltig beeinflusst haben.“
Was hätte passieren können, wenn die symbolträchtige Geste des Endes der Bipolarität – der Mauerfall – ein paar Jahre früher erfolgt wäre? „Ich bin kein Prophet, aber unter den Bedingungen, die vor Perestrojka herrschten, über die Wiedervereinigung zu diskutieren, wäre für die Sowjetunion ein großes Problem gewesen und hätte wohl auch in anderen Ländern zu unkontrollierbaren Reaktionen geführt, weil man befürchtet hätte, dass damit das alte Nachkriegsproblem Deutschland wieder auf den Tisch kommen könnte. Einschließlich dem Problem der Ostgrenzen. Die Perestrojka gab verschiedenen, von der UdSSR kontrollierten Ländern, eine Art ‚Freischein‘, der es ihnen erlaubte, sich ihrer jeweiligen Identität entsprechend zu organisieren. Und da Ostdeutschland nie eine eigene Identität gehabt hat, war die Wiedervereinigung nur normal.“ Welche Faktoren haben eine Veränderung der von Ihnen angesprochenen Situation bewirkt? „Da gab es verschiedene. Einer war sicherlich, dass Reagan und Bush bei den Abrüstungsverhandlungen die Frage der Menschenrechte auf den Tisch gebracht hatten. Und dann war da noch die törichte Militärkampagne in Afghanistan, die auch in der UdSSR Zweifel am System genährt hatte.“
Es gab einen Moment, in dem wir den Eindruck hatten, als wäre der status quo veränderbar, als wäre die Mauer, die Ost und West seit 40 Jahren trennte, vielleicht doch nicht ganz so unantastbar. Man konnte spüren, dass eine positive Entwicklung möglich war, wenn auch nicht ohne Probleme. Heute ist das für die Historiker sonnenklar, damals aber war es nicht ganz so einfach.
Und doch: wenn man sich die Erklärungen ansieht, die einige führende Politiker noch wenige Wochen vor dem schicksalsträchtigen 9. November abgegeben haben, schien das, was dann tatsächlich passiert ist, absolut nicht vorhersehbar. So sagte der französische Präsident Mitterrand beispielsweise noch am 2. Oktober 1989 (diese Aussage wurde von Jacques Attali aufgezeichnet): „Jene, die von der Wiedervereinigung Deutschlands sprechen, verstehen gar nichts. Die Sowjetunion wird das nie akzeptieren. Damit würde man dem Warschauer Pakt den Todesstoß versetzen. Und das wäre nicht auszumalen!“ Andreotti: „Es spielt heute keine Rolle mehr, ob es vorhersehbar war oder nicht, dass die Tage der Mauer gezählt waren. Wir haben es hier schließlich nicht mit einer Lotterie zu tun. Zeichen, die zu denken gaben, hatte es aber bereits gegeben: Die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich hatte Tausende von Deutschen von Ostdeutschland nach Westdeutschland fliehen lassen. Ich habe weder einen besonderen Verdienst noch eine Schuld in dieser Angelegenheit, aber ich glaube, dass man Ereignisse von solch historischer Tragweite ohne Vorurteile betrachten sollte. Und dabei muss man auch die möglichen Entwicklungen in Betracht ziehen. Wir waren damals der Meinung, auf dem richtigen Weg zu sein, machten uns aber auch große Sorgen, weil wir keine Zauberformel parat hatten, die garantieren konnte, dass auch wirklich alles gut gehen würde.“ Was hätte passieren können? „Es hätte zu Entgleisungen kommen können, mit denen der in Gang gebrachte Prozess außer Kontrolle geraten wäre. Oder zu einer Verhärtung der Positionen, die die vor uns liegenden Hürden unüberwindbar gemacht, den Dialog zwischen Ost und West unterbrochen und das Rad der Geschichte zurückgedreht hätte.“
Sie haben des Öfteren erklärt, für eine Politik der kleinen Schritte zu sein, die Ereignisse haben sich dann aber sprichwörtlich überschlagen: „Man kann die Geschichte nicht planen. Gewiss, wenn ein allmählicher Übergang der politischen Veränderungen im Osten möglich gewesen wäre, hätte man schwere Gegenschläge vermeiden können: den plötzlichen Zerfall der Föderativen Republik Jugoslawien beispielsweise, oder die Manöver, die den Untergang Gorbatschows besiegelten und damit auch der von ihm vorgesehenen Differenzierung der Autonomien im Innern der Sowjetunion. Aber man hatte seit langem auf die Veränderung gewartet, und als es dann endlich soweit war, wurden wir von den Ereignissen übermannt. Gorbatschow hat ja auch am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, zu Honecker gesagt: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘. Die führenden DDR-Politiker waren überzeugt davon, dass ihr Ehrengast gewaltig auf dem Holzweg war, wenn er glaubte, das kommunistische System erneuern zu können. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte sie die Mauer noch mindestens ein Jahrhundert lang vor dem ‚bourgeoisen Gift‘ geschützt. Aus heutiger Sicht liegen die Dinge natürlich klar auf der Hand, damals aber stellte man sich auf beiden Seiten berechtigte Fragen.“

Zwei Tage nach der historischen Öffnung vom 9. November 1989 fand sich an der Berliner Mauer eine riesige Menschenmenge ein. [© Associated Press/LaPresse]

Zwei Tage nach der historischen Öffnung vom 9. November 1989 fand sich an der Berliner Mauer eine riesige Menschenmenge ein. [© Associated Press/LaPresse]

Jener Abend des 18. November in Paris
Einer der Schlüsselmomente für die Historiker und die Beteiligen war sicherlich der Abend des 18. November 1989 in Paris, neun Tage nach dem Mauerfall. Die Staats- und Regierungschefs der 12 Länder der Europäischen Gemeinschaft folgten der Aufforderung Mitterrands, über die Situation zu beraten. Das, was eigentlich nur dienen sollte, um den Schein zu wahren, wurde dann aber doch zu einem historischen Moment. Bei der Versammlung nach dem Abendessen kam Kohl ins Schwitzen: Margaret Thatcher war entschieden gegen die Wiedervereinigung, Mitterrand bezeichnete sie lediglich als „historische Eventualität“, und Spanien gab ihm recht. Sie dagegen haben Kohl aus der Patsche geholfen und gesagt, dass „Europa die Wiedervereinigung Deutschlands nicht nur befürworte, sondern auch wünsche.“ Der Gipfel konnte mit der deutlichen Unterstützung Kohls enden, der 10 Tage danach vor dem Parlament in Bonn ein Zehn-Punkte-Programm für die Wiedervereinigung vorlegte. Damit kamen die Dinge allmählich ins Rollen. Brachte jener Abend wirklich die Wende? „Ich weiß nicht, ob es in Sachen Wende einen bestimmten Zeitpunkt gegeben hat. Es war allgemein eine Zeit, in der eine Veränderung der politischen Linien in der Luft lag, eine gewisse Entwicklung. Mir war jedenfalls klar, dass man sich besser einen Fallschirm besorgte.“ Der Wunsch nach Wiedervereinigung wurde nicht bedingungslos akzeptiert. Im Maastrichter Vertrag des Jahres 1991 wurden die geopolitischen „Bedingungen“ abgesteckt: Die Europäische Gemeinschaft akzeptiert eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands, aber nur im Kontext einer Beschleunigung des Integrationsprozesses des deutschen Riesen. Im Mittelpunkt dieses Prozesses sollte die Einheitswährung stehen, der Euro, was bedeutete, dass Deutschland auf die Mark verzichten bgesteckt, eingebaut in einen engagierten Einsatz für die EWG, die Beteiligung an einem zeitlich angepassten Atlantikpakt und die Stärkung der KSZE. Die beiden letzteren ermöglichten es uns dann ja auch, den interdeutschen Dialog mit der Beziehung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu verbinden und den richtigen Kurs einzuschlagen.“
Besonders der EWG gelang es dann – unter italienischem Vorsitz – mit den sich überstürzenden Ereignissen Schritt zu halten. Es hat sieben Jahre gedauert, bis Spanien und Portugal beitreten konnten – für die Aufnahme Ostdeutschlands genügten wenige Monate. Eine der ersten Initiativen war die Aufnahme der Repräsentanten Ostdeutschlands in das Europaparlament. Andreotti: „Dass wir turnusmäßig den Vorsitz in der EWG hatten, machte unser Land zum Ansprechpartner – eine Rolle, die wir uns sonst wohl kaum hätten anmaßen können. Und ich glaube, dass das ganz gut genutzt worden ist. Die Prozeduren wurden zwar manchmal ein wenig forciert, aber da es ja schnell gehen musste, war das nicht weiter verwunderlich. Es war aber durchaus eine vernünftige Politik. In der nationalen und internationalen Politik macht man manchmal Fehler, weil man den gesunden Menschenverstand beiseite lässt, von dem wir uns doch in all unseren Handlungen leiten lassen sollten. Wenn man stattdessen komplexe Formeln und Motivationen sucht – mögen diese auch noch so gelehrt sein – verliert man leicht die Richtlinie für die Entwicklung aus den Augen, die man doch eigentlich anstrebt.“
Bedauern Sie es, im Volksmund als der zu gelten, der 1984 gesagt hat, Deutschland so sehr zu lieben, dass er zwei davon haben wolle – statt zu denen gezählt zu werden, die die Wiedervereinigung der Deutschen unter einem europäischen Dach gefördert haben? „Nun ja, diesen Ausspruch hätte ich mir besser verkneifen sollen, weil er sich natürlich gut für Spekulationen eignete. 1984 musste man realistisch sein. Damals konnte man nicht glauben, die historischen, ethnischen, kulturellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die es nun einmal gab, so einfach überwinden zu können. Ich hätte mir besagten Ausspruch auch deswegen verkneifen sollen, weil er – auch literarisch – so gut funktionierte, dass er zum Slogan einer gewissen Opposition gegen die Wiedervereinigung wurde. Ich bin mehr als einmal dafür gerügt worden.“

Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die erbittertste Gegnerin des deutschen Wiedervereinigungsprozesses. [© Afp/Grazia Neri]

Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die erbittertste Gegnerin des deutschen Wiedervereinigungsprozesses. [© Afp/Grazia Neri]

Gorbatschow, Johannes Paul II. und Mrs. Thatcher
Anhand der damals von Ihnen abgegebenen Stellungnahmen sieht man, dass Sie die Reformprozesse, die im Osten in Gang gekommen waren, auf gar keinen Fall kompromittieren wollten. Warum? „Zunächst einmal deshalb, weil wir noch nie Provokateure waren – das ist ja auch eine unserer Stärken. Wir haben nie den Eindruck erweckt, angreifen zu wollen, nicht einmal in den Jahren, in denen der Eiserne Vorhang keinen Platz für Dialog ließ. Und ich muss auch sagen, dass ich Vertrauen in die Perestrojka hatte. Meiner Meinung nach war es der einzige Weg, die enormen Schwierigkeiten zu überwinden, vor denen die Russen standen – schon allein deshalb, weil sie die Fenster geöffnet hatten. Wer hinter dem Eisernen Vorhang gegen die Perestrojka war, spielte nicht mit offenen Karten, sondern nutzte ethnische Rivalitäten, die schwierige Wirtschaftslage und die Nahrungsmittelknappheit aus. Ich dagegen war immer der Meinung, dass Europa sehr viel ausgeglichener ist, wenn auch Russland eine Wirtschaftsmacht darstellt.“
Hat Gorbatschow erkannt, dass ihm Ihre politische Linie beim Ausbau von Perestrojka hilfreich hätte sein können? Wie es aussieht, erhofften sich die Russen zwar ein vereintes Deutschland, aber als eine Art Puffer zwischen Europa und Warschauer Pakt, also eine Art neutralen Riesen, der besondere wirtschaftliche und politische Beziehungen zur UdSSR hatte. War das wirklich das, was Gorbatschow im Sinn hatte? „Eine der glaubhaftesten Hypothesen war auch eine Achse Berlin-Moskau, und ich habe damals schon klar und deutlich gesagt, dass Achsen noch niemandem Glück gebracht haben. Ich weiß nicht, ob Gorbatschow das im Sinn hatte. Ob er tief in seinem Innern Angst hatte vor dem Neuen, oder den Wunsch, Haupt- oder doch zumindest Nebendarsteller zu sein. Er war ein sehr überlegter, vorsichtiger Mensch, bestimmt niemand, der sich zu impulsiven Handlungen hinreißen ließ. Man darf aber nicht vergessen, dass auch er von der öffentlichen Meinung seines Landes beeinflusst war, die gewisse Veränderungen nicht gerne sah. Viele hielten es sogar für subversiv, der Gegenseite Zugeständnisse zu machen. Ich glaube, dass Gorbatschow zwar besorgt war, aber doch große Träume hatte, die er meiner Meinung nach auch nach der Auflösung der UdSSR mit dem Staatsstreich von 1991 nie wirklich begraben hat.“
In der nationalen und internationalen Politik macht man manchmal Fehler, weil man den gesunden Menschenverstand beiseite lässt, von dem wir uns doch in all unseren Handlungen leiten lassen sollten. Wenn man stattdessen komplexe Formeln und Motivationen sucht – mögen diese auch noch so gelehrt sein – verliert man leicht die Richtlinie für die Entwicklung aus den Augen, die man doch eigentlich anstrebt.
Vor einem Monat hat Gorbatschow in einem Interview der italienischen Tageszeitung la Repubblica gegenüber erklärt, dass es beim Fall der Berliner Mauer nur zwei Helden gegeben hätte: die Russen und die Deutschen. Wie beurteilen Sie diese Aussage? Andreotti: „Das ist eine etwas einschränkende Sichtweise. Wie sollte er diese Dinge mit seinem politischen Hintergrund, dem Plan, den er ausführen wollte, auch objektiv sehen können? Außerdem war er selbst einer der Hauptbeteiligten. Sein Urteil kann nicht das sachliche Urteil eines Historikers sein.“
Eines der bedeutendsten Ereignisse unmittelbar nach dem Mauerfall war die Begegnung Gorbatschows mit Johannes Paul II. in Rom am 1. Dezember 1989: der Präsident der UdSSR und der polnische Papst, der – wie es manche auslegen – den Kommunismus besiegt hat. Eine Frage, die man Ihnen oft gestellt hat: Hat Papst Wojtyla die damals hinter dem Eisernen Vorhang erfolgte politische Wende beeinflusst? „Das ist schwer zu sagen. Es ist vielleicht übertrieben zu behaupten, dass alle Umwälzungen in Osteuropa ihren Ausgang bei dem Papst aus Polen genommen haben, auch wenn dem chronologisch gesehen so ist. In Wahrheit war Johannes Paul II. stets darauf bedacht, seine Herkunft – trotz aller Verbundenheit mit seiner Heimat – von seiner universalen Sendung als Papst zu trennen. Gewiss, aufgrund seiner persönlichen Erfahrung hatte er anderen damaligen Persönlichkeiten der Kirche einiges voraus, die natürlich nicht seinen Weitblick haben konnten.“
Welche Erinnerung haben Sie an die Begegnung zwischen Gorbatschow und Wojtyla? Der Präsident der UdSSR hat Ihnen damals gesagt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands absurd sei… „Man darf, wie bereits gesagt, nicht vergessen, dass die ausländischen Politiker der öffentlichen Meinung ihres Landes Rechnung tragen müssen. Wir haben diese Reise mit großem Interesse verfolgt, auch weil wir – ohne hier das Heilige mit dem Profanen zu verwechseln – besonders die Situation der Kirche im Auge hatten, was in anderen Ländern vielleicht nicht der Fall war. Wir machten uns wegen der Wende zwar Sorgen, aber wir haben nie etwas dagegen unternommen – sofern wir das überhaupt hätten tun können. Wir hatten die Hoffnung, dass man erkennen würde, dass jene, die – wie wir – schneller in die richtige Richtung gegangen waren, die Dinge besser beurteilen konnten.“ War man im Vatikan zufrieden, besorgt oder nervös wegen des Mauerfalls und der davon zu erwartenden Ereignisse? „Im Vatikan ist man entweder nie nervös, oder man zeigt es nicht. Dort sieht man die Dinge sub specie aeternitatis, und zu recht, wenn man an seine tausendjährige Geschichte denkt. Es gab diesbezügliche Stellungnahmen und Artikel im L’Osservatore Romano, aber mir ist keine besondere Besorgnis aufgefallen.“
Wie sehr hat sich die Tatsache ausgewirkt, dass damals in Polen eine nicht-kommunistische Regierung an der Macht war, mit einem Katholiken an der Spitze, der jedoch aus seiner Treue zur UdSSR keinen Hehl machte? „Im Westen hatte man eine gewisse Sympathie für Polen, gerade weil es sich immer sehr zurückgehalten hat. Das war sicher eines der Elemente, das erst gar keine feindlichen oder negativen Gefühle aufkommen ließ. Eines der schwierigsten Probleme war das der Ostgrenze des wiedervereinigten Deutschland, das besonders Polen betraf.“ Von dort hatte 50 Jahre zuvor der Zweite Weltkrieg seinen Ausgang genommen… „Das stimmt, aber am 9. November, als die Berliner Mauer fiel, weilten Kohl und Genscher gerade in Warschau. Und das erste, was sie taten war, die Polen dahingehend zu beruhigen, dass man die Oder-Neiße-Grenze niemals in Frage stellen würde.“
Auch Margaret Thatcher spielte eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu Mitterrand, der nach anfänglicher Skepsis zum Befürworter der Integration des neuen wiedervereinigten Deutschland wurde, ließ sie sich nicht von ihrer Meinung abbringen und war entschieden gegen die Wiedervereinigung. Und das kostete sie nach dem Maastrichter Vertrag ja auch ihre Karriere... „Das war einerseits auf ihr Temperament zurückzuführen, andererseits aber auch darauf, dass ihre Sicht der Dinge und ihre Besorgnis durchaus berechtigt waren. Aus heutiger Sicht ist offensichtlich, dass der richtige Weg eingeschlagen wurde. Damals aber konnte man durchaus auch glauben, dass es richtig war, dagegen zu sein. Wir waren von der Linie der Wiedervereinigung angetan, weil es die praktischste zu sein schien, aber das heißt nicht, dass wir die Schwierigkeiten und Risiken nicht gesehen hätten.“ Sind Sie Mrs. Thatcher seit damals unsympathisch? „Ich weiß nicht, vielleicht bin ihr deshalb unsympathisch, weil sie daran gewöhnt war, von vielen – auch italienischen – Politikern regelrecht hofiert zu werden. Meine römische Reserviertheit ihr gegenüber hat sie wohl als Feindseligkeit ausgelegt. Aber ich hatte nichts gegen sie.“

Johannes Paul II. empfängt Michail Gorbatschow in Audienz (1. Dezember 1989). Zum ersten Mal überschritt ein russischer Staatspräsident und Vorsitzender des Obersten Sowjets 
die Schwelle des Bronzetors im Vatikan.

Johannes Paul II. empfängt Michail Gorbatschow in Audienz (1. Dezember 1989). Zum ersten Mal überschritt ein russischer Staatspräsident und Vorsitzender des Obersten Sowjets die Schwelle des Bronzetors im Vatikan.

USA, NATO und der Rest
Haben die Vereinigten Staaten auf eine Beschleunigung des Wiedervereinigungsprozesses gedrängt? Hatten Sie den Eindruck, dass sie die Epoche der bipolaren Konfrontation mit der UdSSR schnell und mit einem überwältigenden Sieg abschließen wollten? „Nein, wir hatten vielmehr den Eindruck, dass die USA glaubten, das wäre der richtige Weg. In einigen einflussreichen politischen Gelehrtenkreisen spielte aber, wie ich feststellen konnte, auch ein bemerkenswertes Misstrauen mit. Schon wegen der Folgen, die das Ganze weltweit haben würde. Auch in Amerika gab es psychologische und praktische Komplikationen. Die Botschaft, die rüberkam, war klar und wurde von uns geteilt: Diese Treppe muss man Stufe für Stufe nehmen, ohne große Sprünge.“ Ein wichtiges Element, das Europa mit den USA verbindet, ist nach wie vor der Nordatlantikpakt. Sie haben damals des Öfteren betont, dass man nur dann vorankommen könnte, wenn man der NATO in kürzester Zeit ein neues Gesicht zu geben verstand: „Ihre bisherigen Aufgaben hatten sich verändert. Ich war sieben Jahre lang Verteidigungsminister und habe niemals ein Projekt gesehen, das nicht von dem Gedanken ausgegangen wäre, sich gegen einen vom Osten ausgehenden Angriff verteidigen zu müssen.“ Sie betrachteten die NATO als positives Element für die Integration Ostdeutschlands, im Oktober 1990 haben Sie aber auf die Existenz von GLADIO verwiesen, eine Militärstruktur des Atlantikpaktes, fast wie um zu sagen, dass dieser überholt sei. Warum? „Es gab einen gewissen Kontrast zwischen einer kulturellen und einer praktisch-politischen Sicht des Problems. Keine der beiden Positionen war bizarr, in jenem Moment aber stand man sozusagen ‚zwischen zwei Stühlen‘. Ich hätte allerdings nie geglaubt, dass ich von Kreisen, die den Atlantikpakt (der vom italienischen Parlament – nicht ohne Divergenzen – approbiert worden war) lange bekämpft hatten, Jahre später als ‚Paläoatlantiker‘ bezeichnet werden würde.“
1990 war auch das Jahr der Invasion Saddams in Kuwait und des Beginns der Golfkrise. Ein besonders schwieriges Jahr? „Es gab eigentlich keine besonders schwierige Phase, weil es immer Schwierigkeiten gab. Da war immer der Kontrast zwischen dem, was man für nützlich und notwendig hielt und dem, was wirklich machbar war. Und wenn das Bewusstsein dieses Kontrasts in irgendeinem historischen Moment einmal verloren ging, hat es entweder überstürzte Kurzschlusshandlungen gegeben, oder wir sind auf der Stelle getreten.“

Zur Feier der Wiedervereinigung Deutschlands wird in der Nacht des 3. Oktober 1990 vor dem Reichstagspalast in Berlin die deutsche Fahne gehisst. <BR>[© Associated Press/LaPresse]

Zur Feier der Wiedervereinigung Deutschlands wird in der Nacht des 3. Oktober 1990 vor dem Reichstagspalast in Berlin die deutsche Fahne gehisst.
[© Associated Press/LaPresse]

Der für den Bau Europas unabdingbare Pragmatismus
Am 9. November jährt sich nicht nur der Fall der Berliner Mauer, sondern auch der Tag – ich meine das Jahr 1938 –, an dem die Nazis mit der Reichskristallnacht die Judenpogrome einläuteten. 1999 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder, der 9. November sei für die Deutschen zwar der Tag der Erneuerung gewesen, aber auch der Tag, an dem sich ein Abgrund auftat. Ironie der Geschichte? „Das Datum ist zufällig dasselbe, das stimmt, aber wir müssen uns angewöhnen, nach vorn und nicht nach hinten zu blicken. Vergleiche mit der Vergangenheit anzustellen, macht das Zusammenleben in der Gegenwart und die positive Entwicklung der internationalen Politik, besonders der europäischen, manchmal schwierig.“
Der Spiegel fragte sich unlängst in einem Artikel über das Gefühl der Enttäuschung und Unzufriedenheit, das sich in den letzten Jahren in Deutschland breitgemacht hat: „Auf welcher Seite ist die Mauer gefallen?“. Eine Umfrage hat ergeben, dass heute 49% der Ostdeutschen der Meinung sind, die DDR hätte mehr Vor- als Nachteile gehabt und sich immer noch als Bürger zweiter Klasse fühlen. „Gewiss, als die Mauer fiel, war Deutschland in einer neuen Aufbauphase. Es ist normal, dass dabei der ein oder andere Fehler gemacht wurde, sich manche Vorhersagen als falsch erwiesen. Aber ich war Umfragen gegenüber schon immer misstrauisch und glaube, dass im Grunde jeder sehen kann, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, der richtige war.“
Auch der politische Bau Europas scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein, die Euroskepsis wird immer stärker. Warum? „Wahrscheinlich ging der Optimismus auch der eingefleischtesten Verfechter über das hinaus, was praktisch machbar war. Und wo der Optimismus groß ist, ist man natürlich auch leicht enttäuscht. Wer das Ganze aber etwas nüchterner betrachtet, der sieht, dass einige wichtige Dinge durchaus umgesetzt werden konnten, dass der Weg der richtige war und immer noch ist.“
Wie kann man auf diesem Weg noch ein Stückchen weiterkommen? „Da habe ich auch kein Patentrezept parat. Das Wichtige ist, auf der einen Seite nicht am status quo kleben zu bleiben, und auf der anderen keine hochtrabenden Pläne zu schmieden, die doch nie umgesetzt werden können. Auch heute befinden wir uns in einer Übergangsphase. Und jeder Übergang kann sowohl durch vorsichtige Schritte als auch hastig gemacht werden, das hängt von der jeweiligen Situation ab. Was wirklich zählt ist, den Intuitionen eine logische Basis zu geben, die ihnen eine konkrete Entwicklung ermöglicht.“ Ist es ein Zufall, dass – angefangen bei der historischen Gruppe (Adenauer, De Gasperi, Schuman) bis zu den 1970er und 1980er Jahren (Sie und Kohl) – der europäische Integrationsprozess von christdemokratischen und katholischen Politikern vorangetrieben wurde? „Ich bin überzeugt von der Positivität der religiösen Inspirationen, aber man darf Hoffnungen und Wünsche nicht mit dem verwechseln, was wirklich machbar ist. In diesem erweiterten Europa geht es nämlich darum, überaus komplexe Strukturen zu bauen, die mehr noch als in der Vergangenheit den Erwartungen verschiedener Kulturen und Zugehörigkeitsgruppen Rechnung tragen müssen: Ein gewisser Pragmatismus ist heute unabdingbar.“


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