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KIRCHE
Aus Nr. 09 - 2009

ZWANZIG JAHRE SPÄTER. Vom Mauerfall zur globalen Krise.

1989 aus der Sicht von Marx


Zu denken, dass es dem Glauben neuen Auftrieb gegeben hätte, war eine Illusion. Und die messianische Ideologie vom freien Markt hat die Armut nur noch vergrößert. Interview mit Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising. Was er über seinen berühmten Namensvetter sagt…


Interview mit Reinhard Marx von Gianni Valente


Zwanzig Jahre sind vielleicht lang genug, um die Ereignisse der Vergangenheit realistisch zu sehen. Die Zeit lässt die Emotionen verblassen und hilft, die Dinge aus der nötigen Distanz zu betrachten, ohne die Tücken der Propaganda und die ideologischen Vorurteile, die mit diesen Ereignissen verknüpft waren.
Der Fall der Berliner Mauer vor zwanzig Jahren wurde von vielen als Anbruch einer neuen Ära begrüßt. Auch in der Kirche wurde diese Verlagerung der weltlichen Macht mystisch interpretiert, fast als wäre es für die Völker Europas der Auftakt zu einer Zeit der geistlichen und materiellen Renaissance.
Angesichts dessen, was danach passiert ist, hätte man das Ganze vielleicht nüchterner betrachten sollen. Zu Wort kommt Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising.

Erzbischof Reinhard Marx mit den Kindern des Kindergartens St. Josef der Pfarrei St. Peter und Paul in München-Feldmoching (30. Januar 2008). [© Katharina Ebel/KNA-Bild]

Erzbischof Reinhard Marx mit den Kindern des Kindergartens St. Josef der Pfarrei St. Peter und Paul in München-Feldmoching (30. Januar 2008). [© Katharina Ebel/KNA-Bild]

Am 9. November vor zwanzig Jahren fiel die Berliner Mauer. Können Sie sich noch erinnern, wo Sie damals gerade waren?
REINHARD MARX: Ich kann mich sehr gut an diesen Tag erinnern. Ich hatte mit Studenten eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela gemacht. Am Sozialinstitut, das ich damals leitete, hielten wir einen Rückblick auf diese wunderschönen Tage. Dann sahen wir auf einmal die Bilder im Fernsehen. Mir war sofort klar, dass es sich um ein geschichtliches Ereignis handelte. Ich war sehr bewegt, weil ich oft in der DDR gewesen bin. Das Erzbistum Paderborn, mein Heimatbistum, hatte ein Territorium in der ehemaligen DDR, so dass wir zum Klerus und zu den Pfarreien eine enge Beziehung hatten. Ich bin oft – auch mit Ängsten – über die Grenze gegangen, weil ich Bücher geschmuggelt habe. Ich kann mich erinnern, dass schon wenige Tage nach dem Mauerfall Priester aus Magdeburg kamen und mit mir über soziale und politische Fragen diskutierten. Sie fragten sich, ob das die deutsche Einheit bringen würde. Ich war überzeugt davon. Wir hatten es lange ersehnt, aber ich habe nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde.
Nach dem Untergang des Kommunismus konnten die Verfechter des freien Marktes in den 1990er Jahren ihre Theorien in Umlauf bringen und ankündigen, dass alle Völker und Nationen in Wohlstand leben würden. Fukuyama sagte das Ende der Geschichte voraus. Was ist dann wirklich passiert?
MARX: Bush Senior hatte gesagt, dass nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Kommunismus die Chance bestünde, eine neue Weltordnung zu bauen. Johannes Paul II. warnte schon 1991 in seiner Enzyklika Centesimus annus davor, dass die Durchsetzung einer radikalen kapitalistischen Ideologie nicht unser Zukunftsprojekt sein könne. Was wir brauchten, war eine ethisch verantwortete Marktwirtschaft und eine Orientierung am Weltgemeinwohl. Und es konnte sich dann ja auch wirklich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmachen, die den Wettbewerb und das Marktgeschehen zum gesamten gesellschaftlichen Modell erklärte. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder betont, dass eine solche Engführung, die alles dem Markt überlässt und den Markt für das Beste in allen menschlichen Beziehungen hält, eine Entwicklung fördert, die in einer Sackgasse endet. Wenn wir an die damaligen Slogans denken, die nach dem Ende des Kommunismus eine neue Weltordnung forderten, können wir nur sagen, dass der erste Versuch gescheitert ist.
Woran haben Sie als Bischof konkret erkannt, dass der Liberalismus eine Utopie war?
MARX: Mit den sozialen Problemen der Menschen, beispielsweise der Arbeitslosigkeit, habe ich mich schon als junger Priester intensiv beschäftigt. Im Bistum Trier haben wir mit der Aktion „Arbeit“ versucht, arbeitslosen Menschen zu helfen; das gleiche haben auch andere karitative Einrichtungen getan. In diesem Bereich hat es aber leider eine Verschärfung gegeben: Die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse und der Niedriglöhne ist gestiegen. In vielen Bereichen ist auch eine Deregulierung oder Privatisierung im Gange, beispielsweise im Gesundheitsbereich oder in dem der öffentlichen Daseinsfürsorge. Das hat die Unsicherheit in den Familien verstärkt, die oft am Rande des Existenzminimums leben. Die von den Wohltätigkeitsvereinen geleiteten Armenmensen werden inzwischen auch in Deutschland von ganzen Familien besucht, die vorher zur Mittelschicht gehörten. Der leichte Aufschwung, den wir seit 2000 erlebt haben, war nur eine Scheinblüte, aber keine wirkliche Lösung. Man weiß natürlich auch als Bischof, dass die Welt keine heile Welt ist, dass es immer Probleme geben wird. Der weltweit spürbare „entfesselte Kapitalismus“ hat die Lebenssituation von Millionen von Menschen zweifellos deutlich verschlechtert.
Der Fall der Berliner Mauer bezeichnete auch den Untergang des Kommunismus. Und doch schreiben Sie in Ihrem Buch Das Kapital, dass wir heute sehen können, wie sich manche Vorhersagen von Karl Marx über die Dynamik des Kapitalismus bewahrheitet haben.
MARX: In seiner Analyse des Liberalismus und des Kapitalismus hat Karl Marx einiges richtig erkannt, beispielsweise, dass Arbeit zur Ware werden und es zu einer Globalisierung des Kapitals kommen könnte. Einige Analysen sind also richtig, nicht aber die dafür vorgeschlagene Therapie. Sein Menschenbild ist ein materialistisches Menschenbild, das nicht dem christlichen Menschenbild entspricht, ja, es ist im Grunde völlig abwegig. Aber das gilt auch für das andere materialistische Menschenbild, das der kapitalistischen Ideologie. Nach diesem Menschenbild ist der homo oeconomicus sozusagen der real existierende Mensch, die materiellen Interessen sind der entscheidende Punkt und alles andere ist nebensächlich.
Karl Marx hatte also nicht ganz unrecht. Jeden Versuch einer Schein-Rehabilitation einmal beiseite gelassen: Können uns die analytischen Werkzeuge von Karl Marx heute dabei helfen, die kapitalistische Wirtschaft realistisch zu betrachten?
MARX: Wir brauchen nicht Karl Marx, um das zu verstehen. Er hat das nicht erfunden. Die christliche Soziallehre hat damals schon genauer und vernünftiger als er erkannt, wohin ein entfesselter Kapitalismus führt, der keine ethischen Grenzen kennt. Aber wo Marx recht hat, da soll man ihm auch recht geben.
Hunderte von Berlinern stürmen in der Nacht des 9. November 1989 die Berliner Mauer. <BR>[© Associated Press/LaPresse]

Hunderte von Berlinern stürmen in der Nacht des 9. November 1989 die Berliner Mauer.
[© Associated Press/LaPresse]

Als Ausweg aus der Krise schlagen einige Politiker strukturelle Veränderungen in Wirtschaftsprozessen und in den Beziehungen zwischen Kapital, Arbeit und Produktion vor. Der italienische Wirtschaftsminister Giulio Tremonti hat eine Beteiligung der Arbeiter an den Unternehmensgewinnen vorgeschlagen. Was halten Sie davon?
MARX: Das ist ein altes Thema der katholischen Soziallehre. Natürlich ist es in einer globalen Wirtschaft, wo immer wieder eine Veränderung der Arbeitsplätze erfolgt, nicht ganz es gibt keinen Königsweg dafür.
Das in der Soziallehre der Kirche verwurzelte deutsche Sozialstaat-Modell wird von vielen als überholt betrachtet. Kritiken kommen vor allem aus den Reihen der Liberalen, die die letzten Wahlen gewonnen haben. Wird man in Sachen Sozialstaat auch in Deutschland Abstriche machen?
MARX: In Deutschland gibt es keine Partei, die sich nicht auf die soziale Marktwirtschaft beruft. Aber wir haben in den letzten Jahrzehnten erlebt, dass darunter sehr Unterschiedliches verstanden wurde. Und der Sozialstaat ist im Vergleich zu früher heute sichtlich geschwächt. Wir haben den Sozialstaat zum Problem gemacht, obwohl er doch ein Teil der Lösung ist. Deutschland hat die Krise besser überstanden als andere, weil der Sozialstaat funktioniert: Arbeitslosenversicherung, Kurzarbeitergeld, staatliche Krankenversicherung. Mit diesen Instrumenten können wir die Krise besser abfedern als Länder, die gar keinen Sozialstaat haben oder diesen auf das äußerste Minimum reduziert haben. Ich finde es aber primitiv, zu sagen, dass am Sozialstaat gespart werden kann, weil „bei uns niemand verhungert“. Das ist schließlich noch kein menschenwürdiges Leben. In einer zivilisierten Gesellschaft muss soziale Gerechtigkeit mehr bedeuten als nur dafür zu sorgen, dass alle zu essen haben. Die Zeit derer, die den Sozialstaat in Deutschland abschaffen wollen, ist meiner Meinung nach zunächst einmal vorüber. Warten wir ab.
Gibt es nichts, was man überdenken, ja vielleicht sogar ändern sollte? Kritiker warnen davor, einem inzwischen ausgedienten Sozialstaatsmodell nachzutrauern.
MARX: Wir dürfen nicht einfach sagen, alles bleibt, wie es ist. Das ist eine sehr statische Sicht, die Welt ist aber nicht statisch, sie entwickelt sich. Deswegen haben wir auch in der deutschen Bischofskonferenz immer wieder zur Erneuerung des Sozialstaats angemahnt, etwa im Bereich der Bildungschancen. Partizipation gelingt aber nicht nur, indem man Geld transferiert, sondern indem man Bildungschancen schafft für alle. Indem man es allen Menschen ermöglicht, zu partizipieren. Nehmen wir das Beispiel der Einwanderer: Ein großes soziales Problem, das wir in Deutschland, vielleicht auch in Italien, ein bisschen verschlafen haben. Es geht darum, diese Menschen zu integrieren, und ein wesentlicher Bestandteil dieser Integration sind Arbeit und Bildung. Hier muss eines klargestellt werden: Wir sind ein Einwanderungsland, und wir wollen diese Menschen. In einem Land mit einer so niedrigen Geburtenrate wie in Deutschland sind wir über alle Kinder froh, die bei uns geboren werden. Und der Sozialstaat hat die Aufgabe, der Integration Chancen zu geben.
Die Kirche hat immer wieder herausgestellt, welch wichtige Rolle Vertreter verschiedener kirchlicher Gemeinschaften bei den Ereignissen des Jahres 1989 gespielt haben. Die historische Wende, die Veränderung des geschichtshistorischen Szenarios, wurde von vielen als Prämisse für ein Wiederaufblühen des Glaubens und der sozialen Rolle der Kirche gesehen.
MARX: Es war eine Illusion. Man kann nicht denken: Wir setzen uns für die Wende ein und die Leute danken uns dann damit, dass sie Christen werden. Christsein ist ein Geschenk. Man kann den Glauben nicht kaufen, ihn sich nicht verdienen, auch nicht durch politische Leistungen, wie manche meinen. Ich kann mich an ein Gespräch erinnern, das ich noch in der Zeit des Kommunismus mit polnischen Priestern geführt habe, die sich fragten, was wäre, wenn sie so leben würden wie wir. Ich sagte ihnen, dass sie dann dieselben Probleme hätten wie wir. In einer freien Gesellschaft ist der christliche Glaube eine freie Entscheidung und eine Gnade. Und das wünschen wir uns auch. Aber selbst in der Kirche verstehen das manche nicht. Es ist eine besondere Herausforderung, in einer freien Gesellschaft den christlichen Glauben so zu leben, dass ihn die Menschen als eine Bereicherung ihres Lebens betrachten, darin etwas entdecken, das über ihre bisherigen Möglichkeiten hinausgeht. Deswegen ist die Liturgie auch so wichtig.
In einigen Kreisen, besonders bei den amerikanischen Neocons, hat man die Euphorie des Jahres 1989 für politische – auch kirchenpolitische – Zwecke instrumentalisiert…
MARX: Man kann es nicht oft genug sagen: Die Kirche stellt sich weder gegen die moderne Welt noch gegen Freiheit, Demokratie und Pluralismus. So als wäre es etwas, das es besser gar nicht gäbe. Aber man kann das Christentum nicht auf eine religiöse Ideologie verkürzen, die die Marktwirtschaft unterstützt. Die Neokonservativen sind, was die Familie angeht, in einigen Äußerungen ganz auf der Linie der Kirche. Aber ich verstehe nicht, wie sich manche als neokonservativ bezeichnen und einen entfesselten Kapitalismus als Modell propagieren können. Der Kapitalismus ist dynamisch, er ist nicht konservativ, sondern sehr progressiv. Er lässt die sozialen und kulturellen Situationen nicht so, wie sie sind, sondern verändert sie, stellt sie oft vollkommen auf den Kopf, indem er neue Paradigmen und Klischees einführt. Dabei kann man doch oft diese Art Pakt beobachten, der jene, die traditionelle konservative Werte haben, mit dem Kapitalismus verbindet. Aber diese Dinge passen nicht zueinander.
Der  Münchner Dom. [© Katharina Ebel/KNA-Bild]

Der Münchner Dom. [© Katharina Ebel/KNA-Bild]

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Kirche auch von den geschichtlichen Ereignissen dazu getrieben wurde, ihre Soziallehre zu ändern. Können Sie uns konkrete Beispiele dieser Diskontinuität geben und erläutern, wie sie von den geschichtlichen Umständen – auch kirchenfeindlicher Art – begünstigt wurden?
MARX: Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zum totalen Zusammenbruch der kirchlichen Strukturen in Europa. Die moderne Welt, die in den Philosophien der damaligen Zeit, in der öffentlichen Meinung, zum Ausdruck kam, war ganz gegen die Kirche gerichtet. Und die Kirche hat zu wenig verstanden, welche positive Herausforderung darin lag. Auf diese Situation allgemeiner Feindseligkeit reagierte sie mit Ablehnung, und das galt auch für die neuen Phänomene, die mit dem Wachstum der demokratischen Grundlagen der Gesellschaft zu tun hatten. Es gab also kein wirkliches Gespräch, sondern eine Feindschaft, und es dauerte einige Zeit, bis man in der Kirche verstanden hat, was Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit und Demokratie bedeuten. Hier ist es erst allmählich zu einer Veränderung gekommen. Und das kann auch bei sozialen politischen Fragen passieren; bei der Frage, was der Sozialstaat ist, das Verhältnis von Staat und Kirche, von Arbeit und Kapital, die Gewerkschaften… Auch die Kirche lernt im Laufe der Geschichte. Dazu gehört vielleicht auch ein bisschen Demut. Ecclesia audiens, nicht nur docens.
Kommen wir zur Kirche in Deutschland. Wie ist es derzeit um sie bestellt? Und wie hat man die derzeitige Lage bei der jüngsten Fuldaer Bischofsversammlung beschrieben?
MARX: Wir haben in den letzten dreißig Jahren eine Phase des Umbruchs, der Veränderungen, erlebt. Man kann aber nicht sagen, Deutschland sei nicht mehr christlich. Man darf auch nicht vergessen, dass sich der Osten und der Westen in keiner Frage so sehr unterscheiden wie in der der Religion. Vieles andere hat sich angeglichen, nicht aber die Frage der Religion. Wir haben in Ostdeutschland weiterhin 80% Nichtchristen, im Westen 80% Christen. Insofern stehen wir vor der Herausforderung, die sich allen Kirchen in Europa stellt: Wir müssen jetzt in einer offenen, liberalen, pluralistischen Gesellschaft deutlich machen, was der Kern, der Mehrwert, des christlichen Glaubens ist. Einen solchen Umbruch hat die Kirche noch nie erlebt. Die Menschen aller Gesellschaftsschichten können heute ihren Lebensstil wählen, ihre Religion, ob sie fünf- oder sogar sechsmal heiraten wollen, usw. Es ist eine positive Herausforderung, die aber für die einzelnen Teilnehmer – das gilt für die Bischöfe ebenso wie für die Familien und Pfarreien – oft schmerzhaft ist. Aber diesen schmerzhaften Weg müssen wir gehen, und wir kommen auch mit Schlagworten über die schlechte Gesellschaft, vermeintliche Fehler des Papstes, den Zölibat oder ähnliche Nebenthemen nicht darum herum. Damit stellt man sich nämlich nicht der wirklichen Herausforderung: Was heißt Christsein? Wir müssen deutlich machen, dass es ein riesiger Verlust wäre, wenn man nicht Christ ist. Wer Christus wählt, hat mehr vom Leben.
Der schwerfällige Verwaltungsapparat der deutschen Kirche wird oft kritisiert; die vielen Laien, die in verantwortungsvollen Posten in den Diözesen arbeiten und dafür ein Gehalt beziehen. Aber auch die strukturelle Bindung an den Staat und die zivilen Einrichtungen. Sind Sie der Meinung, dass dieses Modell eine Krise durchmacht? Ist dieser modus essendi der Kirche der Grund für die Säkularisierung?
MARX: Das ist eine sehr delikate Frage. Darüber ist viel gesagt worden, und es gibt die verschiedensten Meinungen darüber, wo die Gründe dafür liegen. Die Piusbrüder sagen zum Beispiel, dass es die Kirchenaustritte deswegen gibt, weil die Kirche nicht so ist, wie sie es wünschen, und dass alles in Ordnung kommen würde, wenn wir so wären wie sie. Andere – „Wir sind Kirche“ etwa – sagen, es liege daran, dass der Zölibat noch nicht abgeschafft ist, man müsse also moderner sein. Die dritten wieder sagen, dass man nur die Kirchensteuer abschaffen muss, denn dann müssten die Leute ja nicht mehr austreten. Es ist also keine homogene Gruppe. Hier müssen sich die Leute entscheiden, werden herausgefordert, zu sagen: „Ja, ich bin Kirchenmitglied und ich stehe auch dazu.“ Wir können zwar sicher vieles verbessern, aber ich glaube nicht, dass man sagen kann, dieses System sei überholt. Ich verstehe die ausländischen Beobachter nicht, die über diese Dinge urteilen, ohne die Tradition zu verstehen, die hinter dieser Steuer steht. Die Kirche ist keine Idee, sie ist eine sichtbare Gemeinschaft. Die Kirchensteuer wird ja auch nur von den Erwerbstätigen gezahlt – also von einem Drittel der Bevölkerung –, und sie richtet sich nach dem Einkommen. Arbeitslose zahlen keine Kirchensteuer. Jede Kirche hat ihre Geschichte, und die muss in Betracht gezogen und respektiert werden.
Was können Sie uns über die Lefebvrianer in München sagen? Welche Entwicklungen hat es gegeben?
MARX: Ich bin immer dafür gewesen, mit der Erlaubnis des außerordentlichen Ritus großzügig zu sein. Ich finde, der Papst hat hier eine kluge Entscheidung getroffen. Jetzt muss niemand mehr zu den Lefebvrianern gehen, um die Messe in der alten Form feiern zu können. Ich muss allerdings sagen, dass die Zahlen derer, die das wünschen, in unserer Diözese überschaubar sind. Ich lege Wert darauf, dass unsere normalen Sonntagsgottesdienste wirklich gut, geistlich tief und liturgisch richtig gefeiert werden. Der Papst hat einmal gesagt, dass sich an der Liturgie das Geschick der Zukunft der Kirche entscheidet. Wenn eine gute Liturgie gefeiert wird, dann werden die Menschen auch davon angezogen. Wenn die Messe nicht gut gefeiert wird, dann sind all unsere Predigten und Enzykliken wertlos.
Reinhard Marx mit dem protestantischen Landesbischof Johannes Friedrich bei der Eröffnung des ökumenischen Kirchentags in Germering (3. Juli 2009). <BR>[© Katharina Ebel/KNA-Bild]

Reinhard Marx mit dem protestantischen Landesbischof Johannes Friedrich bei der Eröffnung des ökumenischen Kirchentags in Germering (3. Juli 2009).
[© Katharina Ebel/KNA-Bild]

Nächstes Jahr werden Protestanten und Katholiken zum Kirchentag nach München kommen. Wie sind ihre Beziehungen wirklich?
MARX: Vor einigen Tagen haben wir zehn Jahre Rechtfertigungserklärung gefeiert. Auch in der Ökumene muss man Geduld haben. In den letzten vierzig, fünfzig Jahren haben wir in Deutschland einiges erreicht. Kardinal Lehmann hat einmal ein Bild gebraucht, das mir sehr gefällt: Wenn man einen Berg besteigt, kommt man dem Gipfel immer näher, aber das letzte Stück ist noch sehr anstrengend. Und es kann durchaus sein, dass man auch einmal im Berg übernachten muss.
Fürchten Sie, dass es – wie bei anderen Anlässen bereits geschehen – zum Thema Interkommunion Polemiken geben wird?
MARX: Ich bin mit dem protestantischen Landesbischof ganz einer Meinung. Auch er meint, dass die gemeinsame Feier der Eucharistie bedeuten würde, dass wir bereits eine Kirche sind. Und dann bräuchten wir auch keine Ökumene mehr. Eine gemeinsame Feier, ohne dass wir uns im Innern einig sind, wäre ein falsches Zeichen, eine Zurschaustellung fürs Fernsehen und für die Medien. Es würde zu neuen Irritationen, neuen Spaltungen zwischen Katholiken, Protestanten und Orthodoxen führen. Ich hoffe sehr, dass der Ökumenische Kirchentag für die Gesellschaft ein Zeichen dafür ist, dass wir als Christen im Glauben zusammenstehen. Im Taufbekenntnis bekennen wir gemeinsam, dass wir an den dreifaltigen Gott glauben. Und das ist nicht wenig. Das müssen wir in die Gesellschaft hineintragen, nicht unsere Streitigkeiten.
Sie haben vorhin über die Integration der Einwanderer gesprochen. In Deutschland leben viele Türken. Aber die Kirche hat sich nicht gegen den Bau von Moscheen gestellt.
MARX: Die deutsche Bischofskonferenz hat ein Dokument über den Bau von Moscheen veröffentlicht, das auch Kritik hervorgerufen hat. Die grundsätzliche Linie ist folgende: Wenn Menschen bei uns sind, die einen muslimischen Glauben haben und diesen praktizieren wollen, dann haben sie auch das Recht, ihre Religion in einer würdigen Weise zu leben. Aber das muss im Rahmen der staatlichen Gesetze erfolgen. Natürlich achten wir darauf, dass eine Moschee nicht direkt neben einer Kirche gebaut wird und vielleicht noch hundert Meter höher ist. Aber dafür sorgt schon der Denkmalschutz.
Ihr Motto ist Ubi Spiritus Domini, ibi libertas. Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
MARX: Ich habe mich immer darüber geärgert, dass der Begriff Freiheit in Gegensatz zur kirchlichen Verkündigung gestellt wird. Dass viele der Meinung sind, dass Kirche und Freiheit nicht zusammenpassen. Dabei ist es ein Kernbegriff des heiligen Paulus. Wie wir Freiheit verstehen, wird ein wesentlicher Punkt der Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts sein.
Gilt dieses Motto auch für die heutige Situation der Kirche?
MARX: Freiheit bedeutet, in Freiheit das Gute zu wählen. Und das gilt auch für die Kirche. Der freieste Satz, den ein Mensch sprechen kann, ist: „Ich liebe dich.“ Aber damit ist man sofort gebunden. Das gilt in der Ehe, aber auch bei den Priestern, und es gilt für jeden Getauften, der auf die Frage Christi: „Liebst du mich?“, antwortet: „Ich liebe dich“. Und wenn jemand die Kirche liebt, kann er in diesem Kontext auch in der Kirche Freiheit haben.


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