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ECCLESIAM SUAM
Aus Nr. 01 - 2010

Reflexionen über geheimnis und leben der Kirche

Zweites Vatikanisches Konzil: Die Tradition und die Anforderungen der Moderne



von Kardinal Georges Cottier OP


Die Petersbasilika zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils.

Die Petersbasilika zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils.

Fünfundvierzig Jahre nach seinem Abschluss macht das Zweite Ökumenische Vatikanische Konzil immer noch von sich reden. Wie zum Beispiel dann, wenn man sich fragt, wie man das letzte Konzil im Hinblick auf den historischen Weg der Kirche einordnen soll, auch nachdem Benedikt XVI. in seiner Ansprache an die Römische Kurie im Dezember 2005 bereits deutliche Kriterien dafür aufgelistet hat, wie diese Einordnung einhellig und konfliktlos erfolgen kann.
Noch heute rankt sich der Großteil der Kontroversen und Interpretationen um die Beziehung zwischen Kirche und weltlicher Ordnung, also um die Gesamtheit von Institutionen und politischen, sozialen und kulturellen Umständen, die das Leben der heutigen Christen bestimmen.
Die Geschichte der Welt an sich deckt sich hegelianisch gesprochen nicht mit der Selbstoffenbarung Gottes, aber sie ist auch kein Fluss, der von den Wechselfällen der Heilsgeschichte unbeeinflusst dahinfliesst, jener Geschichte der Gnade also, durch die Gott sich den Menschen offenbart und mitteilt. In den historischen Umständen und Bedingungen bieten sich den Christen Möglichkeiten, der ihnen anvertrauten Sendung entsprechend das vom Herrn gewirkte Heil zu verkündigen und zu bezeugen. Es geht darum, „die Zeichen der Zeit zu erkennen“, wie das Zweite Vatikanische Konzil diese besondere Form der Erkenntnis beschrieben hat, die begünstigt wird durch die Tatsache, einigen der wichtigsten Unterscheidungen Rechnung zu tragen.
Eine dieser Unterscheidungen betrifft jene, die zwischen der Kirche und den verschiedenen Formen des Christentums getroffen werden muss. Es gibt eine einzige Kirche Christi, durch den gesamten Verlauf der Geschichte hindurch bis hin zur Ewigkeit: jene Kirche, die gleichzeitig die Kirche von heute und die Kirche ist, die wir schon von jeher kennen. Aber es gibt verschiedene Arten des Christentums. Der Begriff des Christentums ist ein historischer Begriff. Wenn eine Gesellschaft aus einer christlichen Mehrheit zusammengesetzt ist, kann es vorkommen, dass der Glaube auch die zeitliche Ordnung beeinflusst, verstanden als Bereich der Kultur sowie der rechtlichen und politischen Ausdrucksformen. Unter ähnlichen Umständen zeigt sich auch auf der Ebene des sozialen Zusammenlebens, dass die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern ihre Wunden heilt, sie tröstet und wieder aufrichtet. Es geht hier also um jene Stütze, die das Evangelium der in ihrer Autonomie und Konsistenz anerkannten zeitlichen Welt gibt. Und das kann ein sozialer Widerschein der zahlreichen christlichen Gemeinden sein, die es bis zum heutigen Tag in Europa gibt. Aber das ist nicht die einzige mögliche Form von Christentum. Man denke nur an jene Formen, die in einem sozialen, kulturellen und religiösen Kontext erwachsen, der anders ist als der, der seit Jahrhunderten vom westlichen Christentum geprägt ist. Die modernen Päpste haben schon lange vor dem Konzil erkannt, dass die Evangelisierung nicht mit der Verlagerung der Formen verwechselt werden darf, die das westliche Christentum andernorts angenommen hat; dass also die sozialen Kulturen und Kontexte in ihrer positiven Besonderheit betrachtet werden müssen, so dass man sich auch ein afrikanisches, indisches oder chinesisches Christentum vorstellen kann.
Man kann sich auch eine Christenheit vorstellen, die eine kleine Minderheit bleibt. Die Heilige Schrift sagt uns, dass das Evangelium allen Völkern verkündet werden müsse; das Erblühen des christlichen Lebens aber erfolgt – wenn es erfolgt – auf geheimnisvolle und unvorhersehbare Weise, wie man bereits in der Apostelgeschichte erkennen kann. Am 12. Februar hat Benedikt XVI. zu den römischen Seminaristen gesagt, dass nicht wir es seien, die die große Frucht hervorbringen; dass das Christentum kein Moralismus sei und dass nicht wir das tun müssten, was sich Gott von der Welt erwartet.
Einer der Gründe für die Schwierigkeiten, die es zur Zeit der Moderne, ja auch in unserer Zeit, in den Beziehungen zwischen Kirche und weltlicher Ordnung gegeben hat,ist auch folgender: oft ist angesichts der Umbrüche in der Geschichte und der Konsolidierung neuer kultureller, sozialer und politischer Ordnungen in einigen christlichen Bereichen inzwischen das einzige Urteilskriterium, inwieweit diese Ordnungen den Modellen entsprechen, die in den vorherigen Jahrhunderten vorherrschten, als die einheitlich christliche Prägung der zivilen Gesellschaft letztendlich auch die politischen und sozialen Ordnungen formte oder doch zumindest beeinflusste.
Paul VI. und Jacques Maritain bei 
der Abschlusszeremonie des II. Vatikanischen Konzils (8. Dezember 1965).

Paul VI. und Jacques Maritain bei der Abschlusszeremonie des II. Vatikanischen Konzils (8. Dezember 1965).

Aus dieser Haltung erklären sich zumindest zum Teil auch die Vorbehalte, mit denen schon seit Beginn der Konzilsdebatte einige Dokumente desselben aufgenommen worden sind, beispielsweise die Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit und die Erklärung Nostra aetate über die Beziehungen zum Judentum und zu den anderen Religionen. Die Kritiker waren der Meinung, dass diese Dokumente mit einigen Erklärungen der kirchlichen Soziallehre früherer Jahrhunderte nicht im Einklang stünden.
In der Tat gebrauchten die Päpste nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Formeln über die Religions- und Gewissensfreiheit, die noch ein Jahrhundert zuvor in einigen Lehramtsdokumenten verurteilt worden waren, im positiven Sinne. Diese Wende ist aber kein Widerspruch, sondern vielmehr eine Klärung, zu der es angesichts der veränderten politischen und sozialen Kontexte gekommen war. Ab dem 18. Jahrhundert wurden diese Formeln von freimaurerischen Kreisen dazu benutzt, zu bekräftigen, dass das menschliche Gewissen auch vor Gott vollkommen autonom sei. Die Konzilserklärung Dignitatis humanae bekräftigt diesen relativistischen Subjektivismus nicht, sondern betont vielmehr, dass die Wahrheit von den Menschen erkannt werden kann, und dass jeder Mensch vor Gott die Gewissensverpflichtung hat, die Wahrheit zu suchen. Das Dokument stellt also die Formel der Religionsfreiheit als Kriterium heraus, laut dem niemand bei seiner Suche und bei der Erkenntnis der Wahrheit äußerem Druck oder Behinderungen ausgesetzt sein darf. Der Staat darf sich nicht als Richter der Gewissen verstehen. Er darf die Annahme oder die Ablehnung des Glaubens nicht durch äußeren Druck erzwingen, ganz gleich, welcher Art.
Diese Unterscheidung, die sich als wesentlich für die Klärung der gesamten Problematik erwiesen hat, wurde nicht sofort erkannt. Mit der Zeit konnte es dann aber, nicht zuletzt angesichts der neuen geschichtlichen Umstände, zu einer Art Läuterung kommen, die das wesentliche Faktum herausgestellt hat, das es zu bewahren gilt – in diesem Fall den Umstand, dass die Wahrheit erkannt werden kann und das Gewissen gerufen ist, sie anzunehmen und ihr zu folgen. Jene Anschauungen also, die in der christlichen Epoche erblüht sind und die meinen, dass der Staat und die Ordnungen, die das zivile Zusammenleben regeln, den verschiedenen religiösen Identitäten gegenüber nicht neutral sein können, da diese die Garanten des Bestands des Christentums in der Gesellschaft sein können (man denke nur an den cuius regio, eius religio des Westfälischen Friedens, der de facto eine Unterordnung der Kirche unter den Staat bedeutet und von der katholischen Lehre nie anerkannt wurde).
Mit der Zeit haben sich die Anschauungen manchmal zu einer allgemeinen Verdammung der Moderne verhärtet, als mit der Französischen Revolution die bestehende Ordnung weder dem Namen noch den Fakten nach als soziale christliche Ordnung empfunden wurde. Ähnliche Anschauungen klingen auch aus einigen Kritiken heraus, die man an besagten Konzilsdokumenten von Anfang an geübt hat, beispielsweise wenn man sie als Bruch mit der „Tradition“ abtat, als Unterwerfung unter die Anforderungen und die Kultur der neuen class="italic">sui generis zu bezeichnende Weise von Anfang an die Gegenwart der Christen in verschiedenen Gesellschaften geprägt hat, und zwar schon seit der Apostolischen Zeit und der der Kirchenväter. Schon seit jener Zeit also, als die Christen in einem Imperium leben mussten, das von der Vergöttlichung des Kaisers, vom Götzenkult, strukturierten kulturellen und philosophischen Anschauungen und Brauchtümern geprägt war, die keine Achtung hatten vor dem Leben und der Menschenwürde. Die Ablehnung von allem, was nicht im Einklang steht mit der Lehre der Apostel hat sich bei den Christen nie in Form eines radikalen Antagonismus gegen die bestehende Ordnung ausgedrückt. Wenn man die Transzendenz des Gnadenlebens wahrnimmt, versteht man auch, dass das Gnadenleben die kulturellen, sozialen und politischen Ordnungen dieser Welt nicht leugnet, wenn sie mit dem Gesetz Gottes vereinbar sind, sich nicht in Dialektik zu ihnen stellt, aber gleichzeitig auch niemals auf sie verkürzt werden kann. Das ist der Sinn des Wortes „übernatürlich“, das wir vielleicht wieder mehr gebrauchen sollten.
Im Grunde ist gerade jene Öffnung, die das Zweite Vatikanische Konzil einigen Bereichen der modernen Zeit gegenüber vorangetrieben hat, eine weitere Bestätigung dafür, dass es sich auf den Spuren der Tradition bewegt. Gerade, weil die Treue zur Tradition nahelegt, die Zeichen der Zeit in den jeweiligen Umständen so schnell und gut wie möglich zu erkennen.
Von links, Mons. Pierre Mamie, der spätere Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Kardinal Charles Journet und Georges Cottier in Rom während der Arbeiten des Konzils.

Von links, Mons. Pierre Mamie, der spätere Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Kardinal Charles Journet und Georges Cottier in Rom während der Arbeiten des Konzils.

Diese Öffnung gleitet nie in ideologischen Modernismus ab, betrachtet die Modernität nie als Wert an sich. Wie Paul VI. im Credo des Gottesvolkes schrieb: „Wir bekennen, dass Gottes Reich hier auf Erden in der Kirche Christi seinen Anfang nimmt, die nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 18, 36), deren Antlitz ja vergeht (vg. 1Kor 7, 31). Und dass das Wachstum der Kirche nicht mit dem Fortschritt der Zivilisation, der Wissenschaft und der Technik des Menschen gleichgesetzt werden darf. Dass vielmehr die Kirche nur aus dem einen Grunde besteht, um immer tiefer den unergründlichen Reichtum Christi zu erkennen, immer zuversichtlicher auf die ewigen Güter zu hoffen, immer besser der Liebe Gottes zu antworten und den Menschen immer freigebiger die Güter der Gnade und Heiligkeit mitzuteilen.“ Und weiter: „Ebenso ist es die Liebe, welche die Kirche bewegt, sich stets um das wahre zeitliche Wohl der Menschen zu sorgen. Unablässig erinnert sie ihre Kinder daran, dass ihnen hier auf Erden keine bleibende Wohnung beschieden ist. Sie drängt sie dazu, dass jeder von ihnen, entsprechend seiner Berufung und seinen Möglichkeiten, zum Wohle seiner Gemeinschaft beiträgt, dass er Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit unter den Menschen fördert und seinen Brüdern, vor allem den Armen und Unglücklichen, hilft.“ Stets offen dafür anzuerkennen, dass es unter den derzeit gegebenen Bedingungen gute und schlechte Dinge gibt, dass es Sünde und Neid gibt, aber auch neue Gelegenheiten des Seelenheils, wie jene, die sich für Millionen Nicht-Getaufter eröffnen, die kommen, um in Ländern antiker christlicher Tradition zu leben.
Sich in a-prioristischer Weise den politischen und kulturellen Kontexten entgegenzustellen, gehört an sich nicht zur Tradition der Kirche. Wir haben es hier vor allem mit einer Konnotation der Häresien mit gnostischen Wurzeln zu tun, die das Christentum in eine präjudizielle dialektische Position den weltlichen Ordnungen gegenüber stellen und die Kirche als eine Gegenmacht zu den Mächten, Institutionen und kulturellen Kontexten unserer Welt interpretieren.
Alle Strömungen gnostischer Herkunft tendieren dazu, die Welt als ein Übel zu betrachten, und folglich auch die Staaten und die weltlichen Ordnungen als Strukturen zu sehen, die es umzustürzen gilt.
In den Beziehungen zwischen Kirche und moderner Welt ist manchmal diese Versuchung erblüht, die Kirche als eine antagonistische Kraft zu jener politischen und kulturellen Ordnung zu sehen, die sich nach der Französischen Revolution nicht länger als christliche Ordnung dargestellt hat.
In diesem Sinne erscheint bezüglich der Beziehung der Christen zur zeitlichen Ordnung jenes Kriterium wieder erstaunlich aktuell, das Augustinus vorgeschlagen hat und das Joseph Ratzinger in einem seiner frühen, in Italien im Morcelliana-Verlag neu veröffentlichten Werke wiederaufgegriffen hat: Die Einheit der Nationen. Die Vision der Kirchenväter. Auf der Grundlage des Vergleichs zwischen einem Origines, der vom gnostischen Antagonismus hinsichtlich der weltlichen Ordnungen versucht war, und einem Eusebios, der sie sakralisiert und damit die Voraussetzungen für jeglichen Caesaropapismus schafft, beschreibt Ratzinger die Fruchtbarkeit der augustinischen Perspektive, die die weltlichen Einrichtungen weder a priori sakralisiert noch bekämpft, sondern sie in ihrer autonomen Konsistenz respektiert und sie gerade durch diesen Respekt relativiert, ihre Nützlichkeit für die weltliche Befindlichkeit anerkennt und stets diese messianisch-eschatologische Perspektive vor Augen hat. Laut Ratzinger zielt Augustinus im De civitate Dei „weder auf eine Verkirchlichung des Staates noch auf eine Verstaatlichung der Kirche ab, sondern darauf, inmitten der Ordnungen dieser Welt, die Welt-Ordnungen bleiben und bleiben müssen, die neue Kraft des Glaubens an die Einheit der Menschen im Leibe Christi gegenwärtig zu setzen als ein Element der Verwandlung, deren Vollgestalt Gott selber schaffen wird, wenn diese Geschichte einmal ihr Ziel erreicht hat.“


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