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NOVA ET VETERA
Aus Nr. 01 - 2010

Archiv 30Tage

Erinnerung an Begegnungen


Nachruf auf Don Luigi Giussani


von Don Giacomo Tantardini


So viele Erinnerungen und Gedanken gehen mir durch den Kopf, rühren mein Herz, machen die Stille und das Gebet einfacher. Aber jetzt, wo mich der Chefredakteur von 30Giorni darum gebeten hat, diese Zeilen zu schreiben, tritt die Erinnerung der vertrauensvollen Wertschätzung, die Don Luigi Giussani Giulio Andreotti gegenüber empfand, in den Vordergrund. In seinem La Stampa gewährten Interview nannte Giussani unter den katholischen Politikern, „die sich mit einer wirklichen, angemessenen Kompetenz für das Gemeinwohl einsetzten“: „De Gasperi, La Pira, Moro und Andreotti.“ Es war der 4. Januar 1996, vieles hatte sich in der italienischen Politik geändert, und auch in den kirchlichen Belangen von Comunione e Liberazione (CL).

Don Luigi Giussani. [© Anna Ascione]

Don Luigi Giussani. [© Anna Ascione]

„MEIN SEMINAR“
So schreibe ich nun also einige der mir teuersten Erinnerungen nieder, beginne bei der letzten, vollkommen bewußten Geste, als Giussani, akzeptierend, für Christus zu sterben („Ich will für Christus sterben“), Julián Carrón, den Priester, den er aus Spanien hatte kommen lassen, um CL zu leiten, um die Absolution nach seiner letzten Beichte bat.
Was war es doch für eine große Gnade, bei Giussani gebeichtet zu haben und Giussani die Beichte abgenommen zu haben! Beichten, wie es Christus gewollt hatte, wie von der Heiligen Kirche festgesetzt, wie es uns im Seminar von Venegono [Seminar der Diözese Mailand] beigebracht wurde. Er wußte, daß ich mich immer darüber freute, wenn er „mein Seminar“ sagte. Er wußte gut, daß es auch mein Seminar war. Und daß die dort erhaltene Lehre, laut der die Tradition des katholischen Glaubens mit Sympathie die modernen Forderungen des Subjekts teilen konnte, nämlich die Freiheit, die positive Hypothese des Blickes auf die Welt von heute war. Die Lehre des Seminars hatte einfach nur die Worte seiner Mutter bestätigt, als sie den kleinen Luigi [Giussani] an jenem Morgen im März zur Messe in die Pfarrkirche begleitete: „Wie schön ist doch die Welt, und wie groß ist Gott!“.
Giussani erzählte mir, daß Msgr. Figini, sein Dogmatikprofessor, ihn am Tag vor seiner Priesterweihe zu sich gerufen hatte, um ihm zu sagen: „Eines will ich Dir ans Herz legen: lies jeden Tag die Zeitungen.“ Dann schaute er mich an, und meinte, verschmitzt lächelnd: „Nein, warte mal: er hat nicht gesagt ‚lies‘ die Zeitungen. Er hat gesagt: ‚schau sie dir an‘!“ Da erzählte ich ihm, daß auch ich Msgr. Figini kennengelernt hatte, als ich meinen Pfarrer im Sommer begleitete, der ihn in Culmine di San Pietro besuchte (eine Handvoll Häuser, an einem Bergpaß, wenige Kilometer von meinem Heimatort entfernt). Ich war damals noch sehr jung und konnte über diesen alten Priester nur staunen, der seine Sommermonate in einem Pfarrhaus in den Bergen verbrachte, wo es noch keinen Strom gab. Später sollte ich dann erfahren, daß Paul VI. diesen Priester, der an den Sommerabenden beim Licht einer Öllampe zu lesen pflegte, gebeten hatte, die ersten Entwürfe der Kollegialitätslehre zu korrigieren, die den Konzilsvätern unterbreitet werden sollten. Und dann kam mir noch zu Ohren, daß Giussani diesen Priester um die imprimatur der ersten kleinen Bücher von GS (Studentenjugend) gebeten hatte. Und Figini gab sie, ohne auch nur ein Wort korrigiert zu haben. Er merkte lediglich an, daß das Wort Erfahrung Giussani noch viel Ärger bereiten, viel Unverständnis auslösen würde. Zunächst einmal wegen des Vorwurfs des Modernismus. Ein Vorwurf, der leicht zurückzuweisen war: da reichte die imprimatur von Figini. Dann, in den vergangenen Jahrzehnten, haben viele – vielleicht unbewußt – die Erfahrung der Tradition entgegengesetzt. So als wäre die christliche Erfahrung nicht „das Sich-Bewußtwerden der Entsprechung zwischen dem Ereignis (also die Lehre mit den Dogmen und den Geboten) und dem Herzen.“ Er lächelte zufrieden, als ich ihm sagte, daß seine Definition von Erfahrung der großen theologischen Kontroverse zwischen Traditionalisten und théologie nouvelle des vergangenen Jahrhunderts ein Ende setze. Im Grunde griff jenes Büchlein über die Erfahrung, mit Figinis imprimatur, das wieder auf, was der Lieblingsjünger über die „Verführer, die nicht bekennen, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist“ geschrieben hat: „Jeder, der darüber hinausgeht und nicht in der Lehre Christi bleibt, hat Gott nicht. Wer aber in der Lehre bleibt, hat den Vater und den Sohn“ (2Joh 7.9).
Auch so versteht man die große Verehrung, die Giussani Montini entgegenbrachte. Dem Erzbischof, der mit evangeliumsgemäßem Unterscheidungsvermögen als erster die „guten Früchte“ seines Apostolats unter den Studenten erkannt hatte. Dem Papst des Credo des Gottesvolkes, also der „authentischen Verkündigung des Dogmas, sine glossa, mit Klarheit“. „Unser Paul VI.“ sagte er vor allen bei einer der letzten geistlichen Exerzitien der Bruderschaft Comunione e Liberazione.

<I>Die Berufung des Petrus und des Andreas</I>, Caravaggio, Royal Gallery Collection, Hampton Court Palace, London.

Die Berufung des Petrus und des Andreas, Caravaggio, Royal Gallery Collection, Hampton Court Palace, London.

„ER LIESS SICH JESUS RUFEN“
Man hat mir gesagt, daß er – nachdem er um die Letzte Ölung gebeten hatte – den Blick über die Anwesenden schweifen ließ und sie bat, das Noi non sappiamo chi era zu singen. Man hat mir gesagt, daß er auch den Krankenpfleger, der ihm ihn den letzten Tagen seines Lebens beistand, mehrfach gebeten hat, ihm dieses Lied vorzusingen. Wie sehr hat es mich doch bewegt, diese unentgeltliche Nähe, diese unentgeltliche Vorliebe, auch in dieser seiner letzten Bitte erkennen zu können! Es war einfach nur das Lied, in dem der liebste Name (das Liebste, um einen Begriff des russischen Starez Johannes wiederaufzugreifen) mehrfach wiederholt wird: Jesus. „Er ließ sich Jesus rufen.“
Und damit komme ich zu einer der ersten Erinnerungen, die ich mit Giussani verbinde. Ende der Sechzigerjahre. Eine Versammlung im Mailänder Péguy Zentrum. Giussani fragte: „Was stellt uns in Beziehung zu Christus?“. Die verschiedenen Antworten sagten alle mehr oder weniger dasselbe: „Die Gemeinschaft, die Kirche.“ Und dann, am Ende, die Antwort nach der von Giussani noch einmal wiederholten Frage: „Was stellt uns in Beziehung zu Christus? Die Tatsache, daß er auferstanden ist.“ Ein Seminarist, ein Priester der Mailänder Kirche, kann dieses: „Christus Dominus resurrexit / Christus, der Herr, ist auferstanden“ nicht vergessen, das die „apostolische Stimme des Priesters“ (wie es im ambrosianischen Exsultet heißt) in der Osternacht dreimal wiederholt. Wenn er nicht auferstanden wäre, wenn Er nicht lebendig wäre in Seinem wahren Leib, der sich den Seinen unentgeltlich gegenwärtig macht, sie so, durch Seine Gnade, zu Seinem sichtbaren Leib machte, wäre unser Glaube sinnlos, wie Paulus schreibt (vgl. 1Kor (Die Anziehungskraft Jesus).“ Und auch dieses Mal hat er mich angesehen, und wir haben uns gerührt und dankbar für die Gnade angesehen, die die Gnade einer „Gemeinschaft des Geistes“ (Phil 2, 1) ist, die er vor allen mit folgendem Satz ausdrücken wollte: „Der Enthusiasmus der Hingabe ist nicht mit dem Enthusiasmus der Schönheit vergleichbar.“ Unser „Ja“ zu Jesus wird nämlich aus der Anziehung geboren, die Er ist. Und so ist es möglich, immer neu „Ja“ zu sagen, weil das „Ja“ mit einer Aufforderung zusammenfällt: „Komm!“ (Offb 22, 17). Wie man uns schon als Kinder bei der Kommunion zu singen gelehrt hat: „Lieber Jesus, komm zu mir, vereinige mein Herz mit Dir...“
„Er ließ sich Jesus rufen“. Er hat einmal lächelnd zu mir gesagt: „Siehst Du, im Paradies wirst Du der hl. Therese vom Kinde Jesus nah sein“. Worauf ich ihm, ebenfalls lächelnd, die Antwort gab: „Wenn auch Du ihr nah bist!“. Und dann meinte er noch: „Als Du auf die Titelseite von 30Giorni ihren Ausspruch setzen ließest: ‚Wenn ich mildtätig bin, so ist das nur Jesus, der in mir wirkt‘, war das für mich wie der Anfang vom Ende, der Anfang des Paradieses.“ Und genau diesen Ausspruch der kleinen Therese von Lisieux wollte er vor allen zitieren, auf dem Petersplatz, bei seiner letzten Begegnung mit Johannes Paul II.: „Auf den verzweifelten Ruf von Pastor Brand in Ibsens gleichnamigem Drama (‚Antworte mir, oh Herr, in der Stunde, in der mich der Tod verschlingt: ist der ganze Wille eines Menschen nicht genug, um nur einen Teil des Heils zu erlangen?‘) antwortet die schlichte Positivität der hl. Therese vom Kinde Jesus, die schreibt:‚Wenn ich mildtätig bin, so ist das nur Jesus, der in mir wirkt‘.“

Die letzte Begegnung Don Giussanis mit Johannes Paul II., Petersplatz, 30. Mai 1998.

Die letzte Begegnung Don Giussanis mit Johannes Paul II., Petersplatz, 30. Mai 1998.

„DAS ZEUGNIS DES SOHNES GOTTES“
Sein letzter öffentlicher Beitrag wurde am Weihnachtsabend im TG2 [Tageschau im 2. italienischen Fernsehen, Anm.d.Red.] verlesen. Ein Text, in dem sich Gebet, Poesie und Urteil über die Befindlichkeit der Kirche und der Welt miteinander verflochten. An drei Worte erinnere ich mich noch als „Funken“, um das Bild aus dem Buch der Weisheit wiederaufzugreifen (vgl. 3, 7), das Giussani so teuer war: „...was bleiben muß, sind die Funken. Sie muß man fangen, wie die Hand eines Kindes Glühwürmchen fängt“.
Erste Anmerkung: „Ein neues Sein ist an jenem Ort aufgeblüht“. Dieses „aufgeblüht“ hat mir sofort den Satz ins Gedächtnis gerufen, den Giussani im fernen 1991 zu einem gemeinsamen Freund gesagt hat. Einen Satz des Heraklit: „Die verborgene Harmonie ist mächtiger als die erklärte Harmonie.“ Christus ist die Blüte Mariens. Wie oft hat der ambrosianische Priester, beim Gebet des Weihnachtshymnus des hl. Ambrosius wiederholt: „Fructusque ventris floruit / Und die Frucht des Leibes blühte auf.“
Zweite Anmerkung: „Alles geht aus ihm hervor, aber hier dominiert die Neuheit eines Lebens.“ Im Geheimnis Jesu Christi, wahrer Gott und wahrer Mensch, dominiert für uns seine Menschheit. Dominiert der Umstand, daß Er, der ewig ist, ewig bleibt, begonnen hat, in der Zeit zu existieren. Ich möchte hier an Augusto Del Noce erinnern, der gesagt (und geschrieben) hat, daß in der Theologie Giussanis die Zeit Vorrang hat vor der Ewigkeit. Wenn der Sohn Gottes nicht unsere Menschheit angenommen hätte, wenn er nicht in der Zeit Gesten eines flüchtigen Augenblicks gesetzt hätte, hätten Ihn die beiden Blinden von Jericho nicht vorbeikommen hören, und dann hätten auch wir nicht mit ihnen gemeinsam gerufen: „Transit Iesus ut clamemus / Jesus kommt vorbei, damit wir fragen können.“ Soweit Augustinus.
Dritte Anmerkung: „Aus der Erinnerung und dem Gedächtnis dieses Umstands geht das Zeugnis des Sohnes Gottes immer deutlicher hervor...“ Das Zeugnis über Christus (vgl. 1Kor 1, 6). Und da mußte ich sofort an jenen 19. März 1979 denken, an die Aula Magna der römischen Lateran-Universität, wo Giussani die Geschichte von GS und CL Revue passieren ließ, um bei einem Punkt „des Heute und des Morgen“ anzukommen, dem „Endpunkt“: „Wir machen Christus gegenwärtig durch die Veränderung, die Er in uns wirkt. Das ist das Konzept des Zeugnisses.“ Diese Worte, wenige Monate nach Beginn des neuen Pontifikats gesprochen, bekräftigten den Lebensweg eines armen Christen, ihn vorwegnehmend. Wie die schönen Worte der Psalmen: „Ich bin verstummt, ich tue den Mund nicht mehr auf. Denn so hast Du es gefügt“ (Ps 39, 10). Wie die Worte Giussanis anläßlich seines 80. Geburtstags: „Die Dinge, die geschahen, als sie geschahen, lösten Staunen aus, so sehr war es Gott, der sie bewirkte und aus ihnen die Handlung einer Geschichte machte, die vor meinen Augen geschah, und mir geschieht.“
Zu Weihnachten die letzten öffentlichen Worte Giussanis. Um die Wahrheit zu sagen, sind seine letzten öffentlichen Worte an alle, die der heiligen Messe vom 11. Februar, Jahrestag der päpstlichen Anerkennung der Bruderschaft Comunione e liberazione, wenige Tage, bevor sich sein Gesundheitszustand drastisch verschlechterte: „Erinnern wir uns oft an Jesus Christus, denn das Christentum ist die Botschaft, daß Gott Mensch geworden ist, und nur, wenn wir unsere Beziehungen zu Christus soviel wie möglich leben, ‚riskieren‘ wir, es Ihm gleichzutun.“
Die Worte Giussanis sind ein Trost im Leben. Und wenn uns der Herr in diesen Tagen gibt, für ihn und mit ihm zu beten, ist es weniger die Erinnerung an die Worte, als vielmehr das Sich-Erneuern dieser Rührung, das das Gesicht mit Tränen benetzt, weil uns gegeben war, diese Präsenz zu erkennen und zu lieben. Der Unterschied zwischen seiner Liebe und meiner Armseligkeit hatte sich nicht aufgelöst, sondern beide wurden von ein- und derselben Gnade umarmt. Und wie wahr waren in diesem Moment die Worte des Thomas von Aquin: „Gratia facit fidem / Die Gnade schafft den Glauben.“ Diese Tränen waren Tränen der Freude („Habet et laetitia lacrimas suas / Auch die Freude hat ihre Tränen,“ Ambrosius), Tränen einer Erkenntis („Lacrimae confessionis / Tränen der Erkennntnis“, Ambrosius).
Giussani starb am 22. Februar, in der römischen Liturgie Tag der Kathedra Petri. Im Brevier standen folgende Worte von Papst Leo dem Großen zu lesen: „Die Pforten der Hölle können diese Erkenntnis des Glaubens nicht verhindern, die auch den Banden des Todes entkommt. Und wirklich: diese Erkenntnis erhebt zum Himmel.“ Mich, der ich, aus Gnade wie ein Kind, hier auf Erden jetzt noch mehr allein, aufschaue mit fragendem Blick. Dich, der Du nun in Herrlichkeit Ihn von Angesicht zu Angesicht schaust, den zu erkennen und zu lieben Du mir geholfen hast. So, von Angesicht zu Angesicht, kannst Du bei der Muttergottes erreichen, daß sie sich – wie Du mir bei einer unserer letzten Begegnungen gesagt hast, um mich in meiner schwachen Hoffnung zu bestärken – nicht nur als Königin des Himmels, sondern auch der Erde zeigt.


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