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DAS WUNDER VON GALLIPOLI
Aus Nr. 02/03 - 2010

„Ich werde meinen Himmel damit verbringen, auf Erden Gutes zu tun“


Dieses Jahr feiern wir den 100. Jahrestag eines der außergewöhnlichsten Wunder der hl. Therese von Lisieux: gemeint ist die Lösung der finanziellen Probleme des Karmels von Gallipoli im Jahr 1910, die für die Kirche die Bestätigung ihres „kleinen Weges“ war und den Weg zur Seligsprechung Thereses ebnete.


von Giovanni Ricciardi


Gallipoli auf einer Aufnahme von Anfang des 20.

Gallipoli auf einer Aufnahme von Anfang des 20.

Am 12. Juli 1897, von der Tuberkulose gezeichnet und dem Tode nahe, vertraute Sr. Therese vom Kinde Jesus, ihrer Schwester, der Priorin Agnes von Jesus, folgende Worte an: „Mir bleibt nichts. Alles, was ich habe, alles, was ich verdiene, ist für die Kirche und für die Seelen. Der Herr muss meinen Willen im Himmel erfüllen, denn ich habe meinen Willen auf Erden nie erfüllt.“ Ihre Schwester fragte sie: „Ihr werdet vom Himmel auf uns herabschauen, nicht wahr?“ Und Thereses überraschte Antwort lautete: „Nein, ich werde herunterkommen.“
Zehn Jahre später lag der französische Text der Histoire d’une âme, die Autobiographie Thereses, schon auf dem Schreibtisch von Papst Pius X. Inzwischen war auch eine inoffizielle italienische Übersetzung in Umlauf, die in die Hände von Sr. Maria Ravizza gelangt war, eine Ordensfrau, die 1905 in Lecce ein ihrer Kongregation anvertrautes Frauenkolleg leiten sollte.
Sie war es auch, die 1908 zum ersten Mal mit der Priorin des Karmels von Gallipoli über die junge Karmelitin aus Lisieux sprach, die ein paar Jahre zuvor im Ruf der Heiligkeit gestorben war. Mutter Maria Carmela vom Herzen Jesu war genauso alt wie Therese und hatte mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Auch ihre Klostergemeinschaft bekam die Wirtschaftskrise zu spüren, die damals ganz Italien erfasst hatte. Ein Jahr später war das Kloster dem Ruin nahe. Die Priorin lieh sich die Geschichte einer Seele und war so beeindruckt, dass sie es auch ihre Mitschwestern lesen ließ.
1910 waren dreihundert Lire eine stolze Summe – so hoch waren die Schulden, die das Kloster trotz der Näharbeiten der Schwestern und der Herstellung der Hostien für die Diözese auf sich geladen hatte. Mutter Maria Carmela war zuversichtlich, dass ihr die kleine Therese Gehör schenken würde. Anfang des Jahres beschloss sie, in der Santissima Trinità ein Triduum zelebrieren zu lassen, um mit Fürsprache Thereses vom Kinde Jesus einen Ausweg aus der verzwickten Finanzlage des Klosters zu finden. „Vertrauen wirkt Wunder“, hatte Therese einmal an ihre Schwester Céline geschrieben und sie ermahnt, niemals im Gebet nachzulassen. Die Antwort auf Mutter Maria Carmelas Gebete ließ nicht lange auf sich warten.
In der Nacht vom 15. auf den 16. Januar erschien ihr im Traum eine junge Karmeliten-Schwester. Sie lächelte ihr zu und forderte sie auf, ihr in das Zimmer zu folgen, in dem sich die Geldkassette mit dem Schuldschein befand: „Der Herr bedient sich der Seelen im Himmel ebenso wie der auf Erden“, sagte sie ihr. „Hier hast du 500 Lire; damit kannst du die Schulden deiner Gemeinschaft bezahlen.“ Als die Priorin einwand, dass die Schulden doch nur 300 Lire ausmachten, winkte sie ab: „Dann bleibt eben etwas übrig. Du kannst das Geld aber nicht bei dir in der Zelle behalten. Folge mir.“ Mutter Maria Carmela meinte, die Jungfrau Maria vor sich zu haben, doch als sie sie mit diesem Namen ansprach, wurde sie berichtigt: „Nein, meine Tochter, ich bin nicht unsere himmlische Mutter, sondern die Dienerin Gottes, Sr. Therese von Lisieux.“ Indem sie sich diesen Titel gab, nahm Therese praktisch die späteren Ereignisse vorweg: die Eröffnung des Seligsprechungsprozesses, der bereits vorbereitet und am 12. August jenes Jahres tatsächlich eingeleitet wurde. Am Morgen danach wurde zum Erstaunen der gesamten Gemeinschaft in der Geldkassette ein neuer 500-Lire-Schein gefunden.
Mutter Maria Carmela schrieb einen Brief nach Lisieux (siehe Kasten), in dem sie ausführlich von dem ihr widerfahrenen Wunder berichtete. Besonders gerührt war Mutter Agnes von Jesus über jene Stelle, an der die Priorin von Gallipoli ein Detail beschrieb, das ihr selbst eigentlich zunächst unbedeutend erschienen war. Als ihr Therese in dem Traum das Geld gegeben hatte und sich anschickte, zu gehen, hielt sie die Priorin auf und sagte zu ihr: „Wartet, Ihr könntet den falschen Weg gehen und euch verirren!“, Therese aber antwortete: „Nein, meine Tochter, mein Weg ist sicher, ich kann mich nicht verirren!“

Die Geldkassette, in der der 500-Lire-Schein lag.

Die Geldkassette, in der der 500-Lire-Schein lag.

„Kein Wunder hat mich so tief berührt wie dieses“
So hatte Sr. Therese vom Kinde Jesus ihren „kleinen Weg“ bestätigt, der nun ohne Zaudern beschritten werden konnte. Am 4. März 1910 antwortete Mutter Agnes der Priorin von Gallipoli: „Liebe verehrte Mutter, Ihr könnt euch sicher vorstellen, mit welcher Freude wir Euren interessanten Brief gelesen haben. Als sie noch auf Erden weilte, hat Therese zu uns gesagt: ‚Wenn mein Weg des Vertrauens und der Liebe nicht vertrauenserweckend ist, verspreche ich euch, euch nicht im Irrtum verharren zu lassen. Ich werde zurückkehren, um es euch zu sagen, und wenn der Weg sicher ist, werdet auch Ihr es wissen‘. Und nun sagt dieser Engel gerade zu Euch, liebe Mutter in Jesus, wie die Dinge stehen: ‚Mein Weg ist sicher und ich habe mich nicht verirrt‘. Ihr habt diesen Satz wahrscheinlich nur im wörtlichen Sinne verstanden, aber das ist nicht alles. Ich finde es bemerkenswert, dass Therese gerade jetzt, wo man sich mit ihrer Causa beschäftigt, gekommen ist, um uns das zu sagen. Gerade in dem Moment also, in dem ihr ‚Weg‘ studiert wird. Glaubt mir, meine liebe Mutter, die kleine Therese hat seit ihrem Tod viele Wunder gewirkt, aber keines hat mich so tief berührt wie dieses letzte.“
Auch aus diesem Grund wurde dem Wunder von Gallipoli eine Sondersitzung des Seligsprechungsprozesses gewidmet. In den letzten Jahren ihres Lebens hatte die Heilige vor allem im so genannten „Manuskript B“ die Lehre ihres „kleinen Weges“ zusammengefasst, der ihr wegen seiner schlichten Klarheit ein Jahrhundert später den Titel Kirchenlehrerin einbringen sollte. Darüber hatte sie oft mit einer befreundeten Schwester gesprochen, Sr. Maria von der Dreifaltigkeit, die ebenfalls beim Prozess aussagte. Auch ihr war das Versprechen gemacht worden, vom Himmel über die Richtigkeit der erhaltenen Lehren unterrichtet zu werden: „Sr. Therese fragte mich einmal, ob ich nach ihrem Tod den kleinen Weg des Vertrauens und der Liebe verlassen würde. ‚Natürlich nicht!‘ sagte ich ihr: ‚Ich glaube so fest daran, dass ich selbst dann, wenn der Papst höchstpersönlich mir sagen würde, dass Ihr euch getäuscht habt, es nicht glauben könnte‘.‚Oh‘, sagte sie aufgeregt: ‚man muss vor allem dem Papst glauben, aber habt keine Angst, dass er Euch sagen könnte, einen anderen Weg einzuschlagen; ich werde ihm nicht die Zeit lassen, denn wenn ich erst einmal im Himmel bin und erfahren sollte, dass ich dich verleitet und dem Irrtum zugeführt habe, würde ich sofort vom lieben Gott die Erlaubnis erhalten, dich davon in Kenntnis zu setzen‘.“
Nach dem Inhalt dieser Lehren befragt, erklärte Sr. Maria von der Dreifaltigkeit: „Das, was Sr. Therese ihren ‚kleinen Weg der geistlichen Kindschaft‘ nannte, war das ständige Thema unserer Gespräche. ‚Die Privilegien Jesu sind für die Kleinsten‘, pflegte sie zu sagen. Ihr Vertrauen, ihre Hingabe, Einfachheit, Aufrichtigkeit, ihre kindesgleiche Demut, waren grenzenlos und wurden mir von ihr als Vorbild gezeigt. Eines Tages, als ich ihr sagte, dass ich gerne mehr Kraft und Energie auf die Übung dieser Tugend verwenden würde, entgegnete sie: ‚Und wenn der liebe Gott will, dass du einfach und wehrlos bist wie ein Kind, glaubst du, dann weniger wert zu sein? Akzeptiere es also, bei jedem Schritt zu wanken, ja, sogar zu fallen, dein Kreuz mit Mühe zu tragen, liebe deine Ohnmacht; deine Seele wird mehr davon profitieren als wenn du, von der Gnade
Vorderansicht des auf wundersame Weise erhaltenen Geldscheins im Kloster von Gallipoli.

Vorderansicht des auf wundersame Weise erhaltenen Geldscheins im Kloster von Gallipoli.

Ein Wunder, das ein Jahr gedauert hat
Aber das „Wunder von Gallipoli“ blieb nicht auf das Ereignis im Januar 1910 beschränkt. Dem ersten „Geschenk des Himmels“ folgten weitere, und immer zu dem Zweck, dem Kloster finanzielle Probleme zu ersparen. Die Ende Januar gezogene Bilanz ergab einen Überschuss von unerklärlichen 25 Lire – und das sollte bis April so weitergehen.
Im Monat Mai träumte Mutter Carmela erneut von Therese. Sie versprach ihr, dass sich das Wunder wiederholen und sie in der Kassette einen neuen 50-Lire-Schein finden würde. Statt einem waren es sogar drei, und im August tauchten weitere 100 Lire auf. Es war der Monat, in dem in Lisieux der Seligsprechungsprozess eröffnet wurde.
Um diese drei wundersamen Ereignisse zu klären, kam Msgr. de Teil, Vizepostulator der Causa, nach Gallipoli. Mutter Carmela erzählte ihm, was sie an die Priorin von Lisieux geschrieben hatte.
In der Zwischenzeit hatte auch der Bischof von Nardò, Nicola Giannattasio, erfahren, dass die Priorin in den Besitz einer beachtlichen Summe Geldes gekommen war. Er wusste, dass die Karmelitinnen die schlichte Klosterkirche verschönern lassen wollten und dafür ca. 300 Lire brauchten. Und er wusste, dass sie sich mit dieser Bitte an die kleine Schwester aus Lisieux gewandt hatten. Um also seine Verehrung Thereses zu zeigen und den ersten Jahrestag des Wunders würdig zu feiern, wollte er dem Karmel dieselbe Summe spenden, die im Januar ein Jahr zuvor gefunden worden war. Er nahm einen 500-Lire-Schein und steckte ihn in einen Umschlag, legte seine Visitenkarte bei und schrieb darauf: „In memoriam, mein Weg ist sicher, ich habe mich nicht verirrt, Sr. Therese vom Kinde Jesus an Sr. Maria Carmela, Gallipoli, am 16. Januar 1910. Orate pro me quotidie ut Deus misereatur mei“. Auf diesen – unverschlossenen – Umschlag schrieb er noch einmal „In memoriam“. Den Umschlag steckte er dann in einen anderen größeren Umschlag und verschloss ihn mit einem Wachssiegel, das seine Bischofsinsignien trug. Statt der Adresse schrieb der Bischof folgende Anweisung darauf: „Bitte in die übliche Kassette legen und von der Mutter Priorin, Sr. Maria Carmela vom Herzen Jesu, am 16. Januar 1911 öffnen lassen.“ Er ließ den Umschlag in den Karmel bringen und begab sich ein paar Tage später selbst dorthin, um anläßlich des Jahrestages die Exerzitien zu predigen.
Nach seiner Ankunft erfuhr er, dass der Umschlag unversehrt angekommen war und sich, seinem Wunsch gemäß, in der Kassette befand. Er bat Mutter Carmela, ihn zu holen, das Siegel zu brechen und ihn zu öffnen. Als sie ihm den Umschlag reichte, stellte Msgr. Giannattasio zu seiner großen Überraschung fest, dass sich nun vier Geldscheine darin befanden: zwei 100-Lire-Scheine und zwei 50-Lire-Scheine, also insgesamt 300 Lire. Der Bischof glaubte zunächst, der von ihm in den Umschlag gelegte Geldschein wäre gegen andere, von geringerem Wert, ausgetauscht worden. Dann aber sah er, dass sein 500-Lire-Schein immer noch da war; er befand sich nach wie vor in dem kleineren Umschlag, in den er ihn selbst gelegt hatte. Das war vollkommen unverständlich. Die Priorin sagte: „Da ist Ihr Geld, zählen Sie es. Sind die 300 Lire mehr vielleicht nicht die Summe, die die Gemeinschaft so vertrauensvoll von Sr. Therese erbeten hat?“.
Eigentlich ist es nicht sehr überraschend, dass Therese gerade von einer so „vertrauensvollen“ Bitte gerührt worden ist, der Bitte eines Kindes, um die es ja auch bei ihrem „kleinen Weg“ geht. Schließlich wusste Therese nur allzu gut, wie man sich fühlt, wenn man eine Schuld nicht begleichen kann. In der letzten Phase ihrer Krankheit hatte sie sehr zu ihrem Bedauern erfahren müssen, dass man sie auch vom Totenamt freigestellt hatte, das jede Karmelitin für die verstorbenen Mitschwestern aller Klöster der Welt beten muss. Damals sagte sie zu Mutter Agnes: „Ich habe kein Werk meinerseits, auf das ich mich vertrauensvoll stützen könnte. Wie gern hätte ich mir sagen können: ich habe all meine Totenämter erfüllt. Aber diese Armut war für mich ein wahres Licht, eine wahre Gnade. Ich habe geglaubt, dass ich in meinem Leben keine einzige Schuld dem Herrn gegenüber gut machen könnte, das aber anzunehmen war für mich ein Quelle wahren Reichtums, eine Kraft. Ich habe daher folgendes Gebet gesprochen: ‚Lieber Gott, ich bitte dich, begleiche die Schuld, die ich den Seelen im Fegefeuer gegenüber habe, aber tue es als Gott, also unendlich besser als ich es hätte tun können, wenn ich mein Totenamt gebetet hätte‘. Da kamen mir voller Wehmut die schönen Worte des Johannes vom Kreuz in den Sinn: ‚Jede Schuld muss getilgt werden!‘. Ich habe das immer auf die Liebe übertragen. Ich spüre, dass eine solche Gnade unbezahlbar ist! Man findet einen Frieden, der so groß ist, dass er unendlich arm ist, da man allein auf den barmherzigen Gott zählen kann.“
Dieser Liebe, dieser Armut, diesem Frieden hatte Therese vom Himmel aus noch eine überfließende und überaus konkrete Nächstenliebe hinzugefügt.


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