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NOVA ET VETERA
Aus Nr. 06/07 - 2010

Archiv 30Tage

Seine Geduld erwartet uns


„Der Herr ist ein Vater, der an der Tür wartet. Der uns erblickt, wenn wir noch fern sind, uns freudig entgegenläuft, uns um den Hals fällt und liebevoll küsst... So wird unsere Sünde dann fast wie ein Juwel, das wir ihm schenken können und mit dem wir ihm den Trost schenken, den er braucht, um zu verzeihen... Man ist ein Herr, wenn man Juwele schenkt, und es ist keine Niederlage, sondern freudiger Sieg, Gott siegen zu lassen!“


von Stefania Falasca


Msgr. Albino Luciani in seiner Zeit als Bischof von Vittorio Veneto.

Msgr. Albino Luciani in seiner Zeit als Bischof von Vittorio Veneto.

Manchmal gibt es ganz einfach keinen Zweifel daran, daß es die Vorsehung ist, die die Dinge lenkt. Genau das trifft auf den heiligen Beichtvater von Rom zu, den Jesuitenpater Felice Cappello, und auf Papst Luciani. Die beiden wurden nicht nur in demselben Taufbecken der Pfarrkirche von Canale getauft, waren nicht nur entfernte Verwandte – der eine (Pater Cappello) war für den anderen wie ein Vorbild, dem es nachzueifern galt. Kommen Sie ruhig in die Pfarrkirche von Agordo: der Pfarrer, Msgr. Lino Mottes, der beide sehr gut kannte, wird Sie dann in einen im Halbdunkel liegenden Winkel der Kirche führen, auf einen Beichtstuhl deuten und sagen: „Sehen Sie, das da ist er, das war sein Beichtstuhl. Wenn er nach Agordo kam, war Pater Felice immer hier.“ Dann wird er Ihnen einen anderen zeigen, davor, gleich neben einer Muttergottesstatue: „Der dagegen war der von Albino Luciani.“ Eine Zeitlang hatte es die Hand von „dem da oben“ so bestimmt. Daß sie so angeordnet waren, einer vor dem anderen. Im Beichtstuhl. Einer vor dem anderen beim Spenden des Sakraments der Versöhnung. Es waren die Jahre 1936-1937. Der spätere Johannes Paul I. war damals ein junger Priester, einer, den kein Geringerer als der Bruder von Pater Felice, Msgr. Luigi Cappello, damals Erzpriester der Kirche Santa Maria Nascente von Agordo, unbedingt als seinen Kaplan gewollt hatte. Damals kam Pater Felice jeden Sommer in den Ferien hierher. Er hatte sich bereits als Kanonist und allseits geschätzter Professor der Universität Gregoriana einen Namen gemacht, stand schon bald in dem Ruf, auch ein heiliger Beichtvater zu sein. Und so spielte sich auch hier letztendlich dieselbe Szene ab wie in Sant’ Ignazio in Rom. Wie soll man beschreiben, wie lang die Schlange von Menschen war, die sich vor seinem Beichtstuhl einfand, wie sehr dieses kleine Kabuff mit dem Gitterfenster wie eine Quelle frischen Wassers wurde für die, die dürsteten? Nur wenige Minuten. Nur wenige Worte, die seinen. Stets dieselben. Und auch längst verblühte Leben, gealterte Herzen erfuhren dann, daß man immer neu beginnen konnte. Und kamen wieder. Mit neuem Mut, neuer Zuversicht. Auch Luciani harrte, mit keineswegs geringerer Güte, seiner Schäfchen. Aber die, welche in seinem Beichtstuhl niederknieten, waren weniger verirrte Schäfchen als vielmehr wilde, ungezogene Erstkommunionskinder, lebhafte Jungen und Mädchen, die weder Zucht noch Ordnung kannten. So sah er sich denn auch so manches Mal gezwungen – nachdem er sich die ganze Geduld des Herrn angelegt hatte – aus dem Beichtstuhl zu kommen, um ein Machtwort zu sprechen, für Ruhe zu sorgen. Wenn die Ferien Pater Felices dann zuende waren und er nach Rom zurückkehrte, gesellten sich auch seine Beichtkinder bereitwillig zu der Schlange, die vor dem Beichtstuhl von Kaplan Don Albino wartete. Wie oft hatte er von Pater Felice diese Ermahnung gehört: „Sermo brevis et rudis. In Meinungen und Urteilen lasse man dennoch nie Strenge walten. Die will der Herr nicht. Man finde immer die Lösung, die den Seelen Raum zum Atmen läßt.“ Wie sehr die Nähe dieses großen Kenners der festen Lehre und der unbeugsamen Prinzipien, der im Beichtstuhl alles der Gnade des Herrn anvertraute, Luciani beeinflußt hat und wie wichtig jene Zeit für ihn war, hat er selbst einmal gesagt, genau genommen zwei Monate vor seiner Wahl zum Papst. Am 29. Juni 1978, als er zum letzten Mal nach Agordo zurückkehrte. Bei der Homilie in der Kirche, in der er Kaplan gewesen war, bezeichnete er jene Jahre als die schönsten seines Lebens: „Ich habe viele Beichten gehört! Wieviele Beichten habe ich gehört!...“ Und wenn es eines gab, was er sein Leben lang wohl Hunderte von Malen gesagt hat, dann ist es das: „Wie sehr irren sich doch diejenigen, die nicht hoffen! Judas hat eine große Dummheit begangen, an jenem Tag, als er Christus für dreißig Silberlinge verraten hat, aber eine noch größere hat er begangen, als er glaubte, seine Sünde wäre zu groß, um vergeben werden zu können. Keine Sünde ist zu groß, keine einzige! Keine ist größer als Seine grenzenlose Barmherzigkeit!“.


„Wir sind alle Sünder“ (Johannes Paul I.)
Wenn er im Sommer nach Hause fuhr, machte Pater Cappello stets in Padua Station, um den Kapuziner Leopoldo Mandic zu besuchen, den heiligen Beichtvater, der 1983 zur Ehre der Altäre erhoben wurde. Auch Pater Cappello war also vor diesem kleinen Mönch aus Dalmatien niedergekniet, hatte als Pönitent dieselbe göttliche Barmherzigkeit auskosten können, die er selbst pausenlos von seinen Beichtstühlen aus spendete. Aber nicht nur Pater Cappello hatte bei ihm gebeichtet – auch Luciani. „Es war im März 1928,“ weiß der Bruder Lucianis, Edoardo, zu berichten. „Albino war noch ein Junge, ging aufs Knabenseminar in Feltre, und Pater Leopoldo hatte dem Seminar zusammen mit einem Bischof seinen Besuch abgestattet. Er nahm verschiedene Beichten ab, darunter auch die meines Bruders. Albino blieb diese Begegnung stets im Gedächtnis, er hatte das Heiligenbildchen von Pater Leopoldo immer bei sich.“ Auch seine Schwester Antonia erinnert sich an diese Geschichte: „Pater Leopoldo nahm ihm die Beichte ab, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und sagte zu ihm: ‚Mach dir keine Sorgen, geh nur deinen Weg‘.“ Am 30. Mai 1976 – Luciani war damals bereits Patriarch von Venedig – wollte er in der Kirche der Kapuziner in Padua die Messe feiern, neben der Beichtzelle des kleinen Mönches. Die Homilie war eine einzige bewegende Erinnerung an Pater Leopoldo und die Art und Weise, wie er Beichte hörte. „Wir sind alle Sünder,“ sagte er. „Das wußte Pater Leopoldo nur allzu gut. Das ist die traurige Wahrheit, und der müssen wir Rechnung tragen. Niemand kann es über kurz oder lang schaffen, in kleinen oder großen Dingen nicht zu fehlen. Doch wie schon Franz von Sales sagte: ‚Wenn du einen Esel hast und der auf dem Pflaster ausrutscht, was mußt du dann tun? Du wirst dann wohl kaum mit dem Stock auf ihn einschlagen – das arme Tier ist ohnehin schon arm genug dran. Nein, du mußt ihn am Halfter nehmen und ihm ins Ohr flüstern: ‚Nun komm schon, laß uns weitergehen. Das nächste Mal passen wir eben besser auf.‘ Das ist das System, und Pater Leopoldo hat dieses System voll und ganz umgesetzt. Ein Priester und Freund von mir, hat, als er bei ihm beichtete, zu ihm gesagt: ‚Pater, Sie sind allzu nachsichtig. Ich beichte ja wirklich gerne bei Ihnen, aber ich habe einfach das Gefühl, daß Sie zu nachsichtig sind.‘ Und Pater Leopoldo antwortete: ‚Aber wer ist da nachsichtig, mein Sohn? Der Herr war nachsichtig; schließlich bin nicht ich für die Sünden gestorben, der Herr ist für die Sünden gestorben. Er hätte großzügiger mit dem guten Schächer, mit den anderen, gar nicht sein können!‘.“ Und Luciani fuhr fort: „Auf der einen Seite stellt sich Jesus der Sünde entgegen, ‚Sühneopfer für die Sünden!‘, auf der anderen stellt er sich aber den Sündern nicht entgegen, sondern begegnet ihnen. Schlagt einmal das Evangelium auf, er stellt sich der Sünde entgegen, sagt Johannes der Täufer: ‚Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt‘, oder Paulus: ‚Er ist für die Sünden gestorben‘. Keine Sünden! Der Herr will die Sünde nicht. Auf der anderen Seite wieder: wieviel Güte! Wieviel Barmherzigkeit mit den Sündern! Ich bin tief bewegt, wenn ich daran denke, daß Paul VI. Pater Leopoldo seliggesprochen hat; aber der erste Heiliggesprochene, der erste Mensch, der vor allen Leuten heilig erklärt wurde, war ein Dieb. Am Kreuz hat Jesus zu ihm gesagt: ‚Noch heute wirst du mit mir ins Paradies eingehen.‘ Ein Mörder, ein gemeiner Dieb! ... Wieviel Güte den Sündern gegenüber! Und als sie ihm die Ehebrecherin brachten: ‚Hat dich niemand verurteilt?‘. ‚Niemand, Herr‘. ‚Frau, auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von nun an nicht mehr‘.“ Auf Pater Leopoldo zurückkommend sagte er: „Er hat diesen Aspekt Jesu ganz genau nachgeahmt: auch er, wie Jesus, fürchtete die Sünde, vergoß Tränen um die Sünde – mit den Sündern aber verhielt er sich ganz anders. Einmal hat einer zu ihm gesagt: ‚Pater, Sie hören doch schon seit so vielen Jahren Beichte, es gibt sicher nichts, was Sie nicht gehört haben, die Sünde kann doch keinen Eindruck mehr auf Sie machen!‘. ‚Aber was sagst Du da! Wenn ich daran denke, daß die Menschen ihr ewiges Heil aufs Spiel setzen für so unwichtige, vergängliche Dinge, läßt mich das erzittern!‘. Er erzitterte, vergoß Tränen wegen der Sünde. Den Sünder aber empfing er wie einen Bruder, einen Freund, und gerade aus diesem Grund war es auch so leicht, bei ihm zu beichten. Einmal kam ein Mann zu ihm, der seit 20 Jahren nicht mehr gebeichtet hatte. Er beichtete ihm seine Sünden, und als er fertig war, war Pater Leopoldo schon aufgestanden, ergriff seine Hände und sagte zu ihm: ‚Danke, danke, daß Du zu mir gekommen bist, daß Du nach so vielen Jahren Deine Reue bei mir abgeladen hast.‘ Er war es, der dankte!... Und das zeigt, was er ist, was Pater Leopoldo für uns ist: der Spiegel der Güte des Herrn.“ Auf diese Güte bezog sich Luciani immer wieder. Nie vergaß er, auf sie zu verweisen. Auch in den wenigen Generalaudienzen, die er als Papst gegeben hat. „Wieviel Güte, wieviel Barmherzigkeit muß man haben, und auch die, die fehlen...“ So am 6. September 1978 bei seiner ersten Generalaudienz. Und als er die Demut ansprach, verstanden alle, daß das aus dem Bewußtsein erwuchs, arme Sünder zu sein, aus der erlebten Erfahrung der Vergebung: „Ich beschränke mich darauf, eine dem Herrn so teure Tugend zu empfehlen, der gesagt hat: ‚Lernt von mir, der ich sanft und von Herzen demütig bin‘. Das, was ich jetzt sagen will, mag vielleicht unangebracht erscheinen, aber ich sage es trotzdem: Der Herr liebt die Demut so sehr, daß er manchmal schwere Sünden erlaubt. Warum? Damit diejenigen, welche diese Sünden begangen haben, nachdem sie bereut haben, demütig bleiben. Man wird kaum das Verlangen verspüren, sich für einen Engel zu halten, wenn man die Gewißheit hat, schwer gefehlt zu haben. Der Herr hat oft ermahnt: seid demütig. Auch wenn ihr Großes getan habt, so sagt:‚Wir sind unnütze Knechte‘.“


Msgr. Albino Luciani spendet Kindern die Kommunion. Es ist die erste Messe, die er als Bischof in seinem Heimatort zelebriert.

Msgr. Albino Luciani spendet Kindern die Kommunion. Es ist die erste Messe, die er als Bischof in seinem Heimatort zelebriert.

„Was würde aus mir Ärmstem werden, wenn es die Beichte nicht gäbe?“ (Der hl. Pfarrer von Ars)
Von den Beichtvätern Albino Lucianis erinnern sich besonders einige Mönche von Certosa in Vedana an ihn, einem Kloster, in das er sich seit der Zeit in Belluno oft und gerne zurückzog, und das er auch während seiner Zeit in Vittorio Veneto frequentierte. Und wenn in den 33 Tagen seines Pontifikats auch der Jesuit Paolo Dezza sein Beichtvater war, wie bereits bei Paul VI., so kam es doch oft vor, daß er, wenn er sich in Venedig aufhielt, im Beichtstuhl von Pater Leandro Tiveron niederkniete, ebenfalls Jesuit. Der zurückhaltende, wortkarge Pater Tiveron sagte über seinen illustren Pönitenten nach dessen Tod nur wenige Worte: „Luciani war ein Vorbild an Mut und unerschütterlichem Gottvertrauen, einer mit großer Geisteskraft gepaarten Demut.“ Diese Worte verweisen wieder einmal auf jene gute, einfache und geheimnisvolle menschliche Geschichte, der er als Kind im Glauben seiner Mutter begegnet war, in Don Filippo Carli, seinem Pfarrer aus Canale, oder bei Pater Cappello, seinem Freund, der mit diesem gleichaltrig war. Und so wurde er nicht müde, an die Gebete zu erinnern, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, an seine Kindheit in Canale, jene Episoden voller Nächstenliebe, für Christus empfundener tiefer Verehrung und Liebe, die er als Kind erfahren hatte. Seinem Pfarrer, das muß gesagt sein, fühlte er sich in tiefer Dankbarkeit verbunden. Wenn er Priester geworden war, dann verdankte er es ihm. Von ihm hatte er gelernt, daß es für einen Priester nichts Größeres, Fruchtbareres gibt als zu taufen, die Eucharistie zu spenden, von den Sünden loszusprechen. In persona Christi. Von ihm hatte er auch diese ganze Ehrlichkeit und Demut bei der Beichte gelernt: „Seht ihr,“ sagte Luciani einmal bei einer Begegnung in der Fastenwoche, „der Herr hat uns die Beichte gegeben als Werkzeug Seiner Barmherzigkeit und folglich des Friedens für uns. Man darf sich nicht zu sehr sorgen, zuviel Angst haben. Und man muß sich auch nicht über begangene Sünden grämen. Habt ihr sie gebeichtet? Nun gut, Schwamm drüber, denken wir nicht mehr daran. Sicher, die Beichte muß einfach sein, klar. Der ein oder andere, der zum Beichten geht, ergeht sich vielleicht in einer allzu komplizierten Gewissenserforschung, weil er meint: ich muß einen guten Eindruck machen. ‚Das ist nicht der Ort, an dem man einen guten Eindruck machen muß!‘ pflegte mein Pfarrer immer zu sagen. Es ist auch nicht einfach: man sagt besser das, was man zu sagen hat, mit wenigen, klaren Worten. Das, was geschehen ist, in Kürze, mit Demut, ohne lange um den heißen Brei herumzureden... Und wichtiger, als sich in allzu komplizierte Gewissenserforschungen zu verrennen, ist es, den Herrn zu bitten, uns den Schmerz dieser Sünden spüren zu lassen.“ Die Geduld bei der klaren Darlegung der Formeln des Katechismus, mit für allen verständlichen und effizienten Beispielen, hatte für Luciani stets Vorrang. „Bei einer Katechismusstunde in Canale,“ erinnert sich seine Schwester Antonia, „erklärte Albino die Bedeutung der Beichte einmal anhand von Beispielen, die der heilige Pfarrer von Ars angeführt hat, der zu sagen pflegte: ‚Was würde aus mir Ärmstem werden, wenn es die Beichte nicht gäbe? Was würde aus uns werden?‘. Und er empfahl, oft zur Beichte zu gehen. ‚Wickeln die Mütter ihre Kleinkinder vielleicht nicht oft?‘ sagte Albino. ‚Und so ist auch die Seele: wir werden immer fehlen, müssen uns immer waschen, nicht einmal, zweimal im Jahr, wir müssen oft beichten, wann immer es geht‘.“ Seinen Priestern legte er ausdrücklich ans Herz: „Seien wir dem treu, was der Kodex frequenter meint. Verschiedene Synoden sagen: jede Woche. Versucht, treu zu sein. Das macht vielleicht ein bißchen Mühe, aber wir werden uns dann besser fühlen, zufriedener sein, können wieder Kraft schöpfen. Auch die ständige Reue, das ständige Sich-Demütigen ist wichtig und heilsam.“
Seine Jahre als Patriarch von Venedig waren die schwierigsten für Albino Luciani. Denn gerade dort, in Venedig, mußte er voller Bitterkeit erkennen, wie weit entfernt dieses so teure christliche Erbe vom Horizont des Lebens entfernt war. „Immer öfter hört man sagen: ‚Die Sünde gibt es nicht.‘ Diese Art zu denken, die gerade sehr in Mode ist, ist beängstigend,“ schrieb er in einem Brief an die Pfarrer, und fuhr fort: „Es gibt Priester, die nicht mehr an die Beichte glauben... Sünden hat es immer viele gegeben, das muß gesagt werden, auch das christliche Mittelalter war voll davon. Aber die Menschen wußten, daß sie sündigten, brachen das Gesetz auch mit schlimmen Sünden, aber hörten doch nicht auf, auch das gebrochene Gesetz zu beachten und hätten sich niemals träumen lassen, die Sünde zu leugnen. Jetzt jedoch sagen sie, daß es keine Gesetze gibt, und noch weniger Sünden... und gerade das ist so beängstigend!“ Im Jahr 1974 sagte er bei den geistlichen Exerzitien für den Klerus: „Ich habe keineswegs den Wunsch, mich zum Spezialisten in Irrlehren aufzuschwingen. Aber manchmal übermannt mich doch die Versuchung, auf Spuren von Quietismus und Semiquietismus, von Pelagianismus und Semipelagianismus in Schriften und Ansprachen hinzuweisen, in denen die pastorale Arbeit beschrieben wird, als ob alles von den Menschen abhinge, oder von uns Menschen gesprochen wird als ob wir mit der Sünde nichts mehr zu tun hätten...“ Und diesen Priestern, die einen Rückgang der Beichten beklagten, gab er die entschlossene Antwort: „Die Todsünde entblößt unsere Seelen. Raubt der Seele die Gnade. Den Traktat De gratia habt ihr gemacht, und ihr kennt die Auswirkungen der Gnade auf die Seele... Die Beichte ist die Bank, an der das Blut Christi ausgeteilt wird; eine Rot-Kreuz-Station, wo die von der Sünde gebrochenen Knochen wieder eingerenkt werden. Eine wirklich wunderbare Sache... Aber ich wiederhole: wie kann man, wenn die Gewissenserforschung nicht gut erklärt wird, Schmerz, gute Vorsätze und andere Dinge beichten? Und ich wiederhole vor allem eines: wer wird schon beichten gehen, wenn ihr nicht gesagt habt, was die Gnade Gottes ist, wie wertvoll sie ist?“


Pater Leopoldo Mandic in seiner Beichtzelle.

Pater Leopoldo Mandic in seiner Beichtzelle.

„Da quod iubes, iube quod vis“ (Augustinus)
Im Januar des Jahres 1965 hielt Albino Luciani, Bischof von Vittorio Veneto, für Priester verschiedener Diözesen Venetiens einen Kurs geistlicher Exerzitien. Seinem Wunsch nach sollten diese Begegnungen unter folgendem Motto stehen: Historia salutis. Begonnen hat er dabei mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. „Der Barmherzige Samariter ist Jesus,“ sagte er, „der unglückliche Reisende sind wir anderen.“ Und dann fuhr er fort: „Historia salutis bedeutet folgendes: Der Herr läuft den Menschen hinterher.“ Er hatte damit soviel Erfolg, daß der Text dieser Begegnungen veröffentlicht wurde. Einige Passagen befaßten sich mit der Gnade. Das Konzil von Trient – so Luciani – sagt: „Niemand soll wagen, jene kühne Behauptung zu akzeptieren, die auch von den Kirchenvätern verworfen wird, und laut der es unmöglich ist, die Gebote des Herrn zu beachten. Denn Gott gebietet keineswegs Unmögliches, sondern gemahnt, wenn er gebietet, das zu tun, was getan werden kann, von ihm zu verlangen, wozu man selbst nicht fähig ist; gleichzeitig hilft er uns dann, dazu fähig zu sein.“ Augustinus sagte: „Agnosce ergo gratiam eius cui debes quod non commisisti; erkenne also die Gnade Dessen, in dessen Schuld du stehst, wenn du nicht gewisse Sünden begangen hast, und weiter: „Nullum est peccatum quod fecit homo, quod non possit facere et alter homo, si desit rector a quo factus est homo,“ es gibt keine von Menschen begangene Sünde, die ein anderer Mensch nicht begehen könnte, wenn die Hilfe Dessen ausbleibt, der die Menschen gemacht hat.“ Lucianis Kommentar dazu lautete wie folgt: „Das Paradies ist ein wenig weit oben, und wir tun uns schwer, es zu erreichen. Das ist also dasselbe wie bei einem kleinen Mädchen, das Kirschen entdeckt hat, sie aber nicht greifen kann: da muß also der Papa her, der ihr unter die Achseln greift, und sagt: Nun los, Kleine, mach schon! Und dann hebt er sie hoch, und sie kann die Kirschen erreichen und essen. So verhält es sich auch mit uns. Wir fühlen uns vom Paradies angezogen, aber es ist für unsere schwachen Kräfte zu weit oben. Wenn da der Herr mit seiner Gnade nicht kommt, keine Chance! Augustinus hat in einem Gebet sehr oft eines wiederholt: „Da, Domine, quod iubes, et iube quod vis!“ Herr, ich kann es nicht erreichen, hilf du mir, das zu tun, was du befiehlst, danach befehle mir, was du willst, aber nachdem du mir die Gnade gegeben hast, es tun zu können. Alles ist möglich mit der Gnade des Herrn. Wir brauchen Seine Gnade. Laßt mich euch also jetzt ein paar Worte zum Gebet sagen.“ Und dann erzählte er folgende Episode: „Pater McNabb, der berühmte Dominikaner, der in London predigte, hat gesagt: ‚Wenn ich im Beichtstuhl sitze, ziehe ich mir die Geduld des Herrn an. Und was immer sie mir auch sagen, ich rege mich nie auf; auch wenn es schreckliche Sünden sind. Ich sage mir dann: der Herr wird verzeihen, er ist gekommen, hat sich gedemütigt... nur Mut, nur Mut... Es gibt nur eine Ausnahme: wenn einer kommt und sagt, daß er das Gebet vernachlässigt hat. ‚Und Sie haben wirklich nie gebetet?‘. ‚Nein, Pater, ich habe nie gebetet.‘‚Ah,‘ sagt er, ‚und in dem Moment würde ich wirklich liebend gern meine Hand hinter dem Gitterfenster hervorstrecken und ihm ein paar saftige Ohrfeigen verabreichen!‘.“ „Aber wie kommt es, daß man in dieser Welt, mit diesem unserem Hang zum Bösen, unserer Schwäche, nicht betet?“ fährt Luciani dann fort. „Das bedeutet, daß man die Augen vor der Realität verschließt, daß man wirklich gar nichts verstanden hat... man kann doch unmöglich ohne das Gebet auskommen, ohne das Vertrauen in die Gnade Gottes. ‚Ich will, daß ihr bittet,‘ hat Jesus selbst gesagt, und daß ihr auch ‚beharrlich darum bittet... ‚Ich will, daß ihr bittet.‘ ‚Es genügt, daß ihr bittet, daß ihr Vertrauen habt, Hoffnung.‘ Omnia possibilia sunt credenti. ‚Von meiner Seite aus kann alles getan werden, wenn du nur Vertrauen hast‘. Wie oft... Ich erhoffe von Deiner Güte, wie es im Hoffnungsakt heißt, bedeutet: ich harre aus voller Gewißheit. ‚Als sicher erwarten,‘ sagte Dante. Die Hoffnung ist nicht fakultativ, sie ist eine Pflicht...“.


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