NOVA ET VETERA
Aus Nr. 11 - 2010

Einführung


„Die menschliche Natur ist also eine gefallene Natur: beraubt der Gnade, die sie bekleidete, verwundet in ihren eigenen natürlichen Kräften und dem Reich des Todes unterworfen, der auf alle Menschen übergegangen ist.“
Paul VI., Credo des Gottesvolkes


von Lorenzo Cappelletti


Das Interview, das wir hier erneut veröffentlichen, erschien im Anschluss an die Publikation der Akten eines Kongresses, der im November 1994 zum Thema Die Katholiken und die pluralistische Gesellschaft. Der Fall der „unvollkommenen Gesetze“ in Rom stattfand. Neben einer umfassenden kritischen Rezension des Buches durch Massimo Borghesi veröffentlichte 30Tage auch ein Interview mit Pater Nello Cipriani. Dieser hatte an besagtem Kongress teilgenommen mit einem Vortrag zum Thema „Die Rolle der Kirche in der Zivilgesellschaft: die patristische Tradition“.
Das Thema der unvollkommenen Gesetze ist immer noch von großem Interesse, vor allem im Bereich des historisch-politischen Realismus. Nicht umsonst konnte Piero Ostellino in seinem Leitartikel im Corriere della Sera ( 20. Oktober) mit implizitem Bezug auf dieses Thema feststellen: „Es ist nicht Aufgabe des Staates, die Bürger glücklich zu machen, sondern die Bedingungen zu schaffen, die es ihnen erlauben, frei nach ihrem eigenen (subjektiven) Glücksideal zu streben.“
In besagtem Interview stellte P. Cipriani fest, dass der Staat auf die allen zugute kommende Gütergemeinschaft gegründet ist und in seiner Gesetzgebung den Gebrauch dieser Güter regeln muss, um Eintracht und Frieden zwischen den Bürgern zu fördern. Gerade aus diesem Grund müsse, der gesunden augustinischen Vorstellung entsprechend, eine gewisse „Unvollkommenheit“ der Gesetze in Betracht gezogen werden (auch wenn sie sich natürlich nicht gänzlich von der Gerechtigkeit entfernen dürfen). Augustinus sagte: „Nur wenige Menschen akzeptieren es, sich der Gerechtigkeit Gottes, dem ewigen Gesetz zu unterwerfen. Der größte Teil dagegen verfolgt das persönliche bonum, den Nutzen, den persönlichen Vorteil, das Eigeninteresse.“ Im Gespräch mit seinem Freund Evodius, der meint, dass „das zur Regierung des Volkes erlassene Gesetz zu Recht einiges erlaube, was die göttliche Vorsehung dagegen mit Strafen belege, weil jenes nur das berücksichtige, was notwendig sei, um den sozialen Frieden zu gewährleisten und was man menschlich gesehen befehlen könne“, bekräftigt Augustinus, dass er „diese Unterscheidung gutheiße und anerkenne, obwohl sie am Anfang stände und unvollkommen [ minus perfecta] sei, dafür aber zuversichtlich und auf erhabene Wirklichkeiten abzielend. Denn du hast Recht zu meinen, dass dieses Gesetz, gegeben zur Verwaltung der Bürgerschaft, vieles unbestraft lässt, was dennoch von der göttlichen Vorsehung bestraft wird. Denn nur weil dieses Gesetz nicht alles umfasst, heißt es nicht, dass das, was es enthält, abgelehnt werden muss“ (De libero arbitrio I, 5, 13).
Aber das Thema der Unvollkommenheit der Gesetze ist auch aus dem Grund von großem Interesse, weil es dazu anhält, sich in dem, was die Erbsünde betrifft, nicht vom depositum fidei zu entfernen. P. Cipriani sagt im Interview weiter: „Es gibt heute eine Verwirrung, die nicht nur das Verständnis der Unterscheidung zwischen Natur und Gnade erschwert, sondern auch das Verständnis der Natur selbst: nämlich welches ihre wahrsten und tiefsten Ansprüche sind und worin in der Natur selbst jene Neigungen liegen, die die Frucht des Egoismus und der Sünde sind.“ Im Grunde genommen ist es nur diese ganz auf die Wirklichkeit der Erbsünde gegründete Unterscheidung, „die es Augustinus ermöglicht hat, eine sehr realistische Sicht von den Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu haben, von der Beziehung zwischen den weltlichen Gesetzen und dem ewigen Gesetz“.
Ich wünsche Ihnen eine gute “Erst-” und – warum nicht? – vielleicht auch “Zweitlektüre“ des Textes!


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