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FAO-BERICHT
Aus Nr. 12 - 2003

NOTSTAND. Geißel des Hungers nun auch in Palästina.

Ein tagtägliches Massaker


Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler kommentiert die neuen Zahlen zum Problem der Unterernährung und warnt vor der Situation der besetzten Gebiete in Palästina: „Wir haben es hier mit einer humanitären Katastrophe zu tun. Das Ausmaß der Unterernährung in Gaza entspricht dem der ärmsten subsaharianischen Länder.“ Interview.


von Paolo Mattei


„Eine wirklich absurde Situation: die FAO ist der Meinung, daß der Planet problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren kann, und wir sind kaum mehr als sechs Milliarden. Es ist keine Fatalität, es gibt kein Naturgesetz, das dieses tagtägliche Massaker erklären kann.“ So kommentierte der Schweizer Soziologe Jean Ziegler die am 16. Oktober anlässlich des 23. Ernährungstages in Umlauf gebrachten Daten über die Unterernährung. Daten, die auch in dem 2003er Bericht über die Ernährungslage auf der Welt enthalten sind und die am 25. November öffentlicht gemacht wurden. Ziegler, der in der Vergangenheit Dozent an der Universität Grenoble, Bern und an der Sorbonne war, unterrichtet seit 1977 an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Genf. An dieser Hochschule leitet er auch das Soziologie-Labor der Gesellschaften der Dritten Welt. Er ist auch UNO-Sonderrelator für das Recht auf Ernährung. In dieser offiziellen Eigenschaft hat er erst kürzlich bekanntgegeben – was auf israelischer Seite so manche Polemik ausgelöst hat –, daß in Palästina „Hungeralarm“ gegeben werden müsse, was darauf zurückzuführen ist, daß die Territorien so lange Zeit von der israelischen Armee besetzt wurden. Er hat verschiedene Bücher geschrieben (über das Thema der Unterernährung; besonderen Anklang fand sein 1999er Werk Wie ich meinem Sohn den Hunger in der Welt erkläre), vor wenigen Monaten erschien in Italien Die Privatisierung der Welt. Herren, Beutejäger und Söldner des globalen Marktes, in dem Ziegler in einfacher Sprache und auch für Laien verständlich die widersprüchliche Dynamik des globalen Handels, dessen Protagonisten und Opfer beschreibt.
Vorbereitung der Essensausgabe in dem Dorf Akot im Sudan und Nahrungshilfen in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Rafah.

Vorbereitung der Essensausgabe in dem Dorf Akot im Sudan und Nahrungshilfen in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Rafah.


Herr Professor, wie beurteilten Sie die Zahlen des Hungers?
JEAN ZIEGLER: Laut der Daten der Weltbank leben eine Milliarde zweihunderttausend Menschen in extremster Armut. 75 % davon sind Bauern. Es ist absurd, daß die Bevölkerung, die den Großteil der Nahrungsmittel produziert, am meisten unter dem Hunger zu leiden hat. Die Daten über die Opfer von Armut und Hunger sind dramatischer als die offiziellen: jeden Tag sterben mehr als 100.000 Menschen. Ein tagtägliches Massaker. Aber auch laut der von den UNO-Sonderagenturen veröffentlichten Daten belief sich die Zahl der Todesopfer der wirtschaftlichen Unterentwicklung und der extremen Armut in den Drittweltländern im Jahr 2002 auf mehr als 58 Millionen. Hunger, Durst, Epidemien und lokale Konflikte, deren Ursache das Elend ist, in dem die Menschen leben, fordern jedes Jahr fast ebenso viele Opfer – Männer, Frauen und Kinder – wie der Zweite Weltkrieg in sechs Jahren. Für die Völker der Dritten Welt hat der Dritte Weltkrieg bereits begonnen.
Ein Krieg, der den globalen Waren- und Kapitalverkehr nicht aufhält...
ZIEGLER: Ganz und gar nicht. Grundlage der aktuellen kapitalistischen Globalisierung ist vor allem das ultraliberalistische Dogma, das Ende des 18. Jahrhunderts von Adam Smith, und Anfang des 19. Jahrhunderts von David Ricardo theoretisiert wurde. Ein Dogma, das nicht mißachtet werden darf, besagt, daß das Kapital von jeder Kontrolle frei sein muß, da es sich dort, wo sein Profit am größten wird, automatisch selbst leiten kann. Um das Problem der Verteilung zu lösen, theoretisierten die beiden Philosophen den „trickle down effect“, den „Wasserfalleffekt“: wenn die „Brotvermehrung“ erst ein gewisses Ausmaß erreicht hat, wird es praktisch automatisch zur Verteilung an die Armen kommen. Diese Theorie wird jeden Tag auf dramatische Weise von der Realität Lügen gestraft: es gibt keinen automatischen Prozess, der die Gewinne den Bedürftigen zuführt. Wir haben es in Wahrheit mit einer globalisierenden Dynamik zu tun, die zum reductio ad unum aller Verschiedenheiten tendiert, wie Philippe Zarifian meinte: „Die Globalisierung entspricht der von den großen Firmenchefs ausgearbeiteten satellitären Vorstellung des Globus... So ist der Traum des All-Einen, den heraufzubeschwören die platonischen Philosophen nie müde wurden, Wahrheit geworden. Das All-Eine ist das Territorium des verwirklichten Kapitalismus.“ Die Umsetzung dieser Vorstellung von der Welt bedeutet konkret Armut, Hunger, Tod. Die globalisierte Welt besteht aus einer Reihe kleiner Inseln des Wohlstands und des Reichtums, die auf einem Ozean dahinsterbender Völker treiben.
Wie funktioniert diese Art neuer Kapitalismus?
ZIEGLER: Die derzeitige Form des globalisierten Kapitalismus zwingt die Staaten der Dritten Welt, miteinander in Wettstreit zu treten im Kampf um die von ausländischen Firmen kontrollierten Investitionen. Das wiederum geht zu Lasten des sozialen Schutzes, der gewerkschaftlichen Freiheiten und der Verhandlungskraft der autochtonen Lohnempfänger. Die Industriebetriebe „delokalisieren“ die Fabriken in „Sonderproduktionszonen“, in denen zu niedrigen Löhnen gearbeitet und den Arbeitern praktisch überhaupt kein Schutz gewährt wird. Ein direkter Kurs auf die Armut also, eingeschlagen von einer Wirtschaft, die einen verzweifelten individuellen Konkurrenzkampf hochhält, in der die Arbeit prekär ist und die sozialen Statuten auf äußerst wackeligen Beinen stehen. Daß diese Art Wirtschaftsglobalisierung den Armen unserer Erde keinen Wohlstand bringt, ist eine für alle offensichtliche Tatsache. Denken wir nur an die absolute Unabhängigkeit der Gesetze von Raum und Zeit des Finanzkapitals, das sich in einer virtuell vereinigten Welt, einem Cyberspace, bewegt, und sich allmählich „abgenabelt“ hat: Millionen von Dollars „fluktuieren“ ohne Hindernisse, in absoluter Freiheit. Im Laufe jedes Arbeitstages des Jahres 2001 wurden ca. tausend Milliarden Dollar gehandelt. Davon entsprechen nur 13% der Zahlung eines Wirtschaftskredits; 87% sind reine Devisengeschäfte, die nicht den geringsten Wert schaffen. Das zirkulierende virtuelle Kapital auf der Welt ist derzeit 18mal mehr als der Wert aller in einem Jahr produzierten und auf der Welt disponiblen Güter und Dienstleistungen.
Und dann wäre da noch das Problem der Schulden, die den Entwicklungsländern die Luft abschnüren...
ZIEGLER: Und hier kommen die „Brandstifter-Feuerwehrleute“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) ins Spiel, die den armen Ländern ihre „structural adjustment plans“, bzw. die „Steuerdisziplin“ aufzwingen, die „Bilanztransparenz“, die Privatisierung der Industrie und der nationalen Ressourcen, die Liquidierung der öffentlichen Dienstleistungen, wie Krankenhäusern und Schulen, für die bezahlt werden muß, die Abschaffung des Großteils der sozialen Subventionen... Eine absolute (und – wie Joseph Stiglitz in seinen Studien bewiesen hat – unter vielen Aspekten dumme) Treue zum Dogma der Liberalisierung der Märkte, der Idee der stateless global governance, den Grundprinzipien der „neoliberalen doxa“ – Profitmaximierung, grenzenloser Wettbewerb, Unversalisierung des Handelsaustausches und Liquidierung der autochtonen Kulturen –, die das Elend in Ländern wie Niger, Guinea, Mauretanien, Sambia noch vergrößert hat... Der IWF setzt die neoliberale Ideologie in Gang, die den Anspruch stellt, die die Wirtschaftsgeschehnisse regelnden „Naturgesetze“ in symbolische Begriffe umzusetzen. Er macht sich zum Träger eines „Wirtschaftsfatalismus“, verleiht den Wirtschaftsdeterminismen eine fatale Macht, befreit sie von jeglicher Kontrolle. Keine Regierung, keines verschuldeten Drittweltlandes, hat auch nur die geringste Möglichkeit, dem IWF eine souveräne Politik entgegenzuhalten, die sich vor allem an der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung orientieren könnte.
Jm November haben Sie öffentlich in Palästina „Hungeralarm“ geschlagen...
ZIEGLER: In Palästina spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab. Das Ausmaß der Unterernährung in Gaza entspricht dem der ärmsten subsaharianischen Länder. Ich möchte hier nur ein paar Daten nennen: 22% der Kinder unter fünf sind unterernährt, und 15,6% leiden an Anämie, was zu bleibenden körperlichen und geistigen Schäden führen kann. Die meisten Familien essen einmal am Tag, und diese Mahlzeit besteht oft nur aus ein bißchen Tee und Brot. Die Zahl der Armen hat sich seit 2000 verdreifacht. 60% der Palästinenser – 75% in Gaza, 50% in West Bank – leben in bitterster Armut; das Pro-Kopf-Einkommen ist nur noch halb so groß wie vor zwei Jahren; das Überleben von mehr als der Hälfte der palästinensischen Bevölkerung hängt ausschließlich von den humanitären Hilfen ab. Und nicht selten können die Hilfen von den NGOs nicht verteilt werden, weil die Laster von der Armee aufgehalten werden; so bleiben dann Tonnen von Nahrungsmitteln tagelang liegen und verderben.
Kinder in Liberia stehen bei der Essensausgabe Schlange

Kinder in Liberia stehen bei der Essensausgabe Schlange

Der Grund für die derzeitige Situation ist also im Krieg zu suchen.
ZIEGLER: Ja, sicher, aber unter einem politischen Aspekt. Israel ist, als Besatzungsmacht, für das Überleben der Bevölkerung verantwortlich. Die ständigen Ausgangssperren und Militäraktionen ermöglichen es den Leuten jedoch oft nicht einmal, sich das Lebensnotwendige zu verschaffen. Die Schwierigkeiten, sich frei zu bewegen, schränken nicht nur die Freiheit ein, sondern auch das Recht auf Ernährung, auf Gesundheit. Und so hat es die Besetzung der Gebiete mit sich gebracht, daß die Menschen Hunger leiden müssen.
Herr Professor, sind Sie der Meinung, daß die im Oktober von der FAO gestartete Initiative der Internationalen Allianz gegen den Hunger beim Kampf gegen die Armut auf der Welt einen Schritt vorwärts darstellt?
ZIEGLER: Ja, das glaube ich schon. Immerhin ist nun zum ersten Mal die bürgerliche Gesellschaft gerufen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Es ist eine sehr lobenswerte, absolut notwendige Initiative, die für die Hoffnung steht, die öffentliche Meinung möge in den internationalen Organismen Gewicht haben. So gesehen kann die Allianz eine ganz hervorragende Arbeit leisten.
Sie sind also der Meinung, daß die internationalen Organismen nützlich dabei sind, die Geißel der Armut zu bekämpfen...
ZIEGLER: Natürlich. Die Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, wie die UNICEF, das WFP, die FAO, sind üblicherweise sehr bürokratisiert, legen aber doch auch – von einigen Ausnahmen abgesehen – vor Ort eine große Effizienz an den Tag, leisten eine ganz großartige Arbeit. Die FAO bewundere ich sehr, ihren Einsatz für die Entwicklung und die weltweite Hilfeleistung im Bereich der Landwirtschaft, deren Modernisierung.
Gibt es außer den internationalen Organisationen noch andere Initiativen, die Grund zur Hoffnung geben?
ZIEGLER: Ja, beispielsweise das Projekt „Fome zero“ in Brasilien, mit dem den 22 Millionen Hunger leidenden Menschen dort geholfen werden soll. Ein Projekt, das internationale Dimensionen hat. Lula hatte darüber hinaus im Juni in Evian eine großartige Idee: durch eine Steuer auf den Waffenhandel einen weltweiten Fonds zur Bekämpfung des Hungers zu schaffen; immerhin handelt es sich dabei um eine Art Handel, die überaus „rentabel“ ist. Man könnte damit auch die Menge der Waffen reduzieren, die im Handel sind, weil die Anwendung einer Steuer die Preise in die Höhe schnellen ließe.


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