Ein romanisches Juwel inmitten der Berge
Die Ursprünge der Kirche San Pietro al Monte im norditalienischen Civate gehen auf eine Legende zurück. Aber mehr noch als jedes Dokument sprechen hier Steine und Fresken Bände. Wie das, auf dem der Kampf der von Erzengel Michael geführten Engel gegen den riesigen roten Drachen dargestellt ist, der das von der mit der Sonne bekleideten Frau geborene Kind verschlingen will, wie es im 12. Kapitel der Apokalypse heißt.
von Giuseppe Frangi
Die Kirche San Benedetto, von San Pietro aus gesehen, am Fuß des Monte Civate
Aber wer hat sie denn eigentlich bauen lassen – und aus welchem Grund? Die Legende erzählt, daß sie der Langobarde Desiderius errichten ließ, als Einlösung eines Gelübdes: sein Sohn Adelchi, der ein sich unter den Altar geflüchtetes Wildschwein getötet und sich somit eines Sakrilegs schuldig gemacht hatte, war zur Strafe geblendet worden. Der verzweifelte Vater flehte um Gnade, und im Traum wurde ihm gesagt, daß sein Sohn sein Augenlicht wieder bekommen würde, wenn er an jener Stätte eine Kirche errichten ließe. So geschah es dann auch, wie die lateinische Chronica medolanensis berichtet, ein Manuskript, das sich heute in der Nationalbibliothek in Paris befindet. Und noch ein weiteres interessantes Detail anfügt: Desiderius hätte von Papst Hadrian für seine Kirche Reliquien erbeten, der ihm prompt eine Reliquie des Petrus, wie auch eine von Papst Marcellus (und hier geht die Rechnung der Geschichte auf, denn Papst Marcellus ist tatsächlich auf dem Fresko aus dem 12. Jahrhundert, gleich im Eingang, dargestellt) gegeben hätte. Ein Dokument aus dem Jahr 845 ist dagegen der erste historische Beweis für die Existenz der Kirche San Pietro. Man sagt, daß es hier eine Gemeinschaft von 35 Mönchen gegeben haben soll, die nach der Benediktiner-Regel lebten: eine nicht gerade kleine Gemeinschaft, die in einem Gebäude untergebracht war, das es heute nicht mehr gibt. Und dann wäre da noch ein Bericht aus dem Jahr 859, wo es heißt, daß der Erzbischof von Mailand, Angilbertus II. (der den berühmten Goldaltar in der ambrosianischen Basilika in Auftrag gegeben hatte) die Reliquien des hl. Calocerus, einem Märtyrer, der im ersten Jahrhundert gelebt haben soll, von Albenga nach Civate übertragen ließ. Eine andere antike Kirche mit anliegendem Kloster im Dorf Civate ist ebenfalls diesem Märtyrer geweiht.
Aber das vielleicht wichtigste Datum, jenes, das für San Pietro und San Benedetto entscheidend war, ist der September 1097. An diesem Tag ist nämlich der Erzbischof von Mailand, Arnolfus III., gestorben und hier in Civate bestattet worden: man hatte ihn 1093 auf den ambrosianischen Sitz gewählt – allerdings unter derart dubiosen Umständen, daß seine Ernennung anfänglich von Papst Urban II. für ungültig erklärt worden war. In Erwartung der Ratifizierung hatte sich Arnulfus nach San Pietro al Monte di Civate zurückgezogen, um dort zu beten. Er blieb zwei Jahre – bis die Bestätigung aus Rom eintraf. All das zeigt, wie sehr sich der Bischof der ehemaligen monastischen Niederlassung verbunden fühlte und bestätigt auch die von Kunstkritikern aufgestellte Hypothese, nach der die umfassenden Arbeiten zur Ausschmückung von San Pietro gerade aus jener Zeit stammen sollen.
Der mit Fresken geschmückte Altar in der kleinen Apsis der Kirche San Benedetto
Wenn man herauskommt, fällt der Blick auf die majestätische Treppe mit 23 groben Steinstufen, die zu San Pietro hochführen. Und hier erwartet den Besucher die erste Überraschung: die Fassade von San Pietro ist konvex: erinnert an – oder besser: ist – eine Apsis, ähnlich der in San Piero a Grado in Pisa, an der Stätte, wo der Überlieferung nach Petrus an Land gegangen sein soll. Um die Apsis herum verläuft ein Bogengang, der sich mit seinem eleganten Biforium zum Tal hin öffnet. Die Gründe für diese faszinierende, aber merkwürdige Apsis-Fassade sind im Jahr 1097 zu suchen, und haben mit Erzbischof Anspertus zu tun. Er soll nämlich der Kirche ein anderes Gesicht gegeben haben, indem er deren Ausrichtung umkehren, den Altar auf den Berg hin richten ließ. So wurde die alte Apsis zur neuen Fassade, und die darunter befindliche Krypta, die ihre ursprüngliche Ausrichtung behalten hat, erscheint heute, im Bezug zu dem Plan der Kirche, umgedreht.
War Anspertus aber auch derjenige, der die bedeutendsten Künstler seiner Zeit damit beauftragte, die Kirche mit Fresken und Stuck-Arbeit auszuschmücken? Deren bereits vor 50 Jahren von dem namhaften lombardischen Mittelalterexperten Pietro Toesca vorgenommene Datierung, die auf stilistischen Vergleichen basiert, deckt sich jedenfalls mit der von der Geschichte des Anspertus nahegelegten. Nämlich dem Anfang des 12. Jahrhunderts, einer Zeit, die noch von der Byzantinischen Schule dominiert war. Nach Civate kam u.a. auch jener große Meister, dem die auf der großen Lünette am Eingang dargestellte Szene zugeschrieben wird, die die am Anfang des 12. Kapitels der Apokalypse beschriebenen Ereignissen zeigt.
Einige Ansichten der Kirche San Pietro
Nachdem man diese tiefen Gewölbe der Endonarthex hinter sich gelassen hat, kommt man in das große, mehr als 20m lange Schiff von San Pietro. Und hier erblickt der sich umdrehende Betrachter schließlich das große Fresko der Apokalypse. In herrlicher Farbenpracht, die dank des trockenen Klimas des Monte Pedale erhalten werden konnte, ersteht hier vor unseren Augen der Kampf der von Erzengel Michael geführten Engel gegen den riesigen Drachen wieder, der das Kind der Frau verschlingen will, die „mit der Sonne bekleidet“ ist, wie es in Kapitel 12 der Apokalypse heißt. Die Schar der mit schlanken Speeren bewaffneten Engel, tanzend bewegt, und mit grünen, roten oder blauen Heiligenscheinen, gelingt es schließlich den Drachen zu besiegen, „Der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen“. Unmöglich kann der Betrachter von der perfekten Harmonie dieser Komposition nicht beeindruckt sein, die die komplexe Erzählung der Apokalypse in einer einzigen Szene zusammenfaßt und dabei dem Ganzen doch eine so außergewöhnliche Einheit verleiht. Die 1000 Jahre Geschichte, die uns davon trennen, scheinen mühelos „überbrückt“, so plastisch ist das Dargestellte.
Und dann wäre da noch ein weiteres Schmuckstück: das lichtüberflutete Ziborium, das mit Basrelief-Stuckarbeiten geschmückt ist; wie auch das, berühmtere, der Basilika Sant´Ambrogio. An der Seite vor dem Eingang ist Christus am Kreuz dargestellt. Der Blick des Herrn ist voller Liebe, wie um klarzumachen, daß er mit seinen ausgestreckten Armen die ganze Menschheit umfangen will. Darunter sind Maria und Johannes dargestellt, die, wie von einem glühenden Verlangen getrieben, auf ihn zueilen. „Mors superat mortem“, steht unter dieser Szene. An der rechten Seite des Ziboriums, in der wunderschönen Auferstehung, kann man den Engel erkennen, der auf dem leeren Grab thront, mit ausgestreckten Flügeln, wie in einem Anflug von Glückseligkeit. Der Künstler, dem Diktat des Markus-Evangeliums folgend, zeigt Maria Magdalena und Maria, Mutter des Jakobus, die gekommen sind, um den Leib des Herrn zu salben: letztere hat vor Überraschung das Gefäß mit den kostbaren Ölen fallen lassen, das ins Leere rollt, sich deutlich gegen den weißen Hintergrund abhebend. Und wenn man sich die deutlich zu sehende Schrift so ansieht, auf der die Namen aller Figuren zu lesen sind, ist das fast schon, als würde man sich in ein Comic-Heft der Antike vertiefen. In dem nichts banal, sondern jede Darstellung für alle und jeden zugänglich ist.