Startseite > Archiv > 03 - 2004 > „Wenn alles Gnade ist, gibt es keine Gnade mehr“
CHRISTENTUM
Aus Nr. 03 - 2004

„Wenn alles Gnade ist, gibt es keine Gnade mehr“


„Das Nützlichste scheint mir das Unterscheidungsvermögen zu sein, das der ganzen thomistischen Tradition eigen ist. Der Verzicht darauf, zu unterscheiden, was unterschieden ist, führt zur Verwirrung und leugnet das, was man eigentlich verteidigen wollte. Wenn alles Gnade ist, gibt es keine Gnade mehr.“ Interview mit Kardinal Georges Cottier, Theologe des Papstes.


von Gianni Valente


Kardinal Georges Cottier.

Kardinal Georges Cottier.

Der Dominikaner Georges Cottier, Theologe des Päpstlichen Hauses und heute auch Kardinal, hat sein Büro in der ersten Loggia des Apostolischen Palastes. Man kommt über das Lapidarium dorthin, einen Korridor mit Tausenden von Votivsteinen und alten Grabsteinen, die, ganz oder im Fragment, in die Wände eingefügt sind. Vielleicht ist es die Stille, vielleicht die die Türen öffnenden Schweizer Garden, die antiken lateinischen und griechischen Inschriften auf den Marmorfragmenten: all das erweckt den Eindruck, daß man sich hier an einem der reserviertesten, „abgeschirmtesten“ Orte des Vatikans befindet.
Eine Journalistin soll ihn einmal – vielleicht aus Provokation – gefragt haben, wie es denn so wäre, hier, „im Herzen der letzten, noch bestehenden absoluten Monarchie zu arbeiten“. Und Cottier hatte darauf nur gesagt: „Ich bin Republikaner.“ Dem Nachfolger Petri bei der Erfüllung seiner Aufgabe zu helfen, ist nämlich Sache freier Männer, nicht die von Höflingen. Das bezeugt das gesamte Leben dieses 82jährigen Schweizers, der so vieles von dem, was sich in der Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg getan hat – Glückseliges oder Mühseliges, Tröstliches oder Trostloses –, hautnah miterleben konnte. Und der seit fast 15 Jahren mit professioneller Strenge und missionarischer Hingabe den ihm übertragenen heiklen Job des „Korrekturlesers“ sui generis ausübt (er ist es, der fast alle vom amtierenden Papst unterzeichneten Texte gegenliest und, für Theologie und Glaubenslehre, das nihil obstat gibt. „Ich schreibe nichts von dem, was in den päpstlichen Texten steht. Ich korrigiere nur,“ sagt er über sich selbst).

Entschuldigen Sie die etwas banale Frage, aber wie sieht der Beruf des „Theologen des Papstes“ eigentlich aus?
GEORGES COTTIER: Es handelt sich um eine Figur, die es seit dem Mittelalter gibt. Von drei oder vier Ausnahmen einmal abgesehen, in denen Franziskaner-Päpste franziskanische Theologen wählten, wurde dieses Amt immer Dominikanern anvertraut. Deswegen bin ich hier. In den vergangenen Jahrhunderten, als sich der päpstliche Hof für lange Perioden verlagerte, wie während der Aufenthalte in Orvieto oder Viterbo, gaben diese Theologen, „Lehrmeister des Heiligen Palastes“ genannt, wahrscheinlich für den gesamten Hofstaat Theologielektionen. Heute besteht die Arbeit darin, fast alle Texte des Heiligen Vaters gegenzulesen, ausgenommen die diplomatischer Natur, um ein theologisches Urteil darüber abzugeben. Der Papst stützt sich auf viele Mitarbeiter, und es gibt viele Dinge, die es zu beachten gilt. Zunächst einmal müssen die Texte harmonisch gestaltet werden. Wenn sie aus unterschiedlicher Quelle kommen, muß den Texten die Prägung des Papstes gegeben werden. Aber auch die Klarheit der Texte muß gewährleistet sein, weil alles, was der Papst sagt oder schreibt, von allen Gläubigen verstanden werden muß, kein Raum für Mißverständnisse bleiben darf. Und auch der Papst muß sich in seinen Lehräußerungen an verschiedene Kriterien halten. Es ist z.B. nicht gut, wenn sich der Papst zu Problemen äußert, die noch Gegenstand theologischer Diskussion sind, denn wenn er zu diesen Themen etwas sagt, heißt das, daß es darüber nichts mehr zu diskutieren gibt. An Arbeit fehlt es also wirklich nicht.
Die Auferstehung Christi, Detail, Miniatur aus den Ore Torino-Milano, eines der drei Teile der Handschrift Très belles heures von Herzog Berry, 15. Jh., Stadtmuseum für Kunst des Altertums, Turin.

Die Auferstehung Christi, Detail, Miniatur aus den Ore Torino-Milano, eines der drei Teile der Handschrift Très belles heures von Herzog Berry, 15. Jh., Stadtmuseum für Kunst des Altertums, Turin.

Welche waren die anspruchsvollsten Dokumente, die Ihrer Supervision vorgelegt wurden?
COTTIER: Wenn ich an meine Anfangsjahre denke, war die erste „große“ Arbeit, die ich in den Händen hielt, die Sozialenzyklika Centesimus annus. Dann noch Ut unum sint über den Ökumenismus, die Moralenzyklika Veritatis splendor, und Fides et ratio... auch der Katechismus der Katholischen Kirche, für mich eine der schönsten Früchte, die dieses Pontifikat hervorgebracht hat, dessen Reichtum noch nicht ganz ausgeschöpft worden ist. Daher wird jetzt auch bald das Kompendium im Frage-Antwort-Stil erscheinen.
Welches dieser Dokumente war am „arbeitaufwendigsten“?
COTTIER: An Veritatis splendor wurde lange gearbeitet – ich habe mindestens fünf Versionen davon gesehen. Der Papst ließ uns zu langen Arbeitssitzungen zusammenkommen, um die einzelnen, aufeinanderfolgenden Entwürfe zu lesen.
Können Sie uns einen Fall erzählen, in dem Sie einen Text des Papstes korrigiert haben?
COTTIER: Ich erinnere mich an einen der ersten Texte, die ich überprüft habe. Es war eine Rede an einen vom Papst empfangenen wohltätigen Verein, den ich nicht kannte, und an den ich mich auch nicht mehr erinnere. Das Schema der Papstrede war ein wenig von ihnen selbst vorbreitet worden. In dem Text gratulierte ihnen der Papst dazu, daß er einen diesem Werk gewidmeten Sonntag ausgerufen hatte. Kurzum: der Papst wurde fast schon zu einer Art Werbesponsor dieser Initiative. Das schien mir nun doch zu vermeiden – nicht unbedingt aus theologischen Gründen, aber wegen des einfachen Gebots der Vorsicht.
Apropos päpstliches „Sponsern“: das wollte, wie es scheint, der eine oder andere auch für den Film The Passion von Mel Gibson erhaschen.
COTTIER: Ich war zu einer Vorführung des Filmes eingeladen worden, bevor er in die Kinos kam. Aber ich beschloß, nicht hinzugehen. Das physische Leiden Christi war fürchterlich, wie das aller damaligen, zum Tod durch Kreuzigung Verurteilten. Aber in ihm, wahrem Gott und wahrem Menschen, in seiner Seele, aufgrund seiner göttlichen, mit dem Vater vereinten Person, war das Leiden des Gottesknechtes, von dem der Prophet Jesaja spricht, gegenwärtig. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie man dieses Geheimnis des Leidens Christi sui generis in einem Film darstellen soll. Die Filmtechnik hat eine Unmittelbarkeit, die ich in der Mal- oder Bildhauerkunst nicht sehe. Weil der Maler eine gewisse Distanz bewahrt, und in diese Distanz lassen sich Gebet und Meditation einfügen. Die Malkunst respektiert und reflektiert das Geheimnis besser. Ich muß gestehen, daß ich mit der Unmittelbarkeit der Filmindustrie so meine Probleme habe.
Und doch hat um den Film eine merkwürdige Mobilmachung katholischer Vereinigungen und Persönlichkeiten stattgefunden.
COTTIER: Ich habe gehört, daß Kardinal Lustiger gesagt hat: dem Film ziehe ich das Bild vor. Und dem Bild ziehe ich das Sakrament vor...
Kommen wir wieder auf Ihre Arbeit zu sprechen. Die zahlreichen päpstlichen Beiträge lösen in den vatikanischen Palästen einen Eifer der Nachahmung aus. Am Fließband produzierte Dokumente, Instruktionen, Vademecum.
COTTIER: Manche Bischöfe sagen, daß sie nicht einmal die Zeit haben, alles zu lesen, was der Hl. Stuhl und die Römischen Dikasterien produzieren. Ich würde doch einen Unterschied machen, was den Papst betrifft. Mit den Schriften von Johannes Paul II. ist der ganze Schrank hier voll. Für die von Paul VI. reichen diese beiden Regale [er weist auf die in seinem Büro untergebrachten Textsammlungen, Anm.d.Red.]. Und von Pius XI. gibt es nur sehr wenige offizielle Texte. Für Audienzen und öffentliche Begegnungen schrieb Pius XI. fast nie etwas Offizielles. Er sprach aus dem Stehgreif. Aber das geht heute nicht mehr. Schon deshalb, weil da immer irgendein Aufnahmegerät sein kann, und die Journalisten doch immer nach ihrer eigenen Interpretation schreiben würden, was der Papst gesagt hat, und der Hl. Stuhl vielleicht noch zu Dementierungen gezwungen wäre, wenn irgendetwas Unrichtiges in Umlauf gebracht würde. Daher muß, auch wenn er nur eine kleine Gruppe empfängt, da immer ein Text sein, vielleicht nur ein kurzer, aber eben doch etwas, das offiziell ist und Autorität hat. Das geht zulasten der Spontaneität. Wenn jemand spontan ist, dann der derzeitige Papst, und dieser Mechanismus muß auch für ihn eine Art Strafe sein. Aber er kann sich dem nicht entziehen, wie auch wir uns nicht entziehen können. Auch, weil da ein gewisser Druck besteht, dem er Rechnung tragen muß. Bis zu den Sechzigerjahren wurde sehr wenig gereist. Heute kommen alle nach Rom, alle Tagungen wollen eine Papst-Audienz ...
Es ist also nicht so, daß nur der Papst „produziert“...
COTTIER: Das Konzil hat zur Schaffung neuer römischer Dikasterien geführt, derer es zuerst sehr wenige gab. Allen Dikasterien, aus mehr oder weniger angemessenen Gründen, liegt daran, Dokumente zu produzieren, manchmal auch sehr umfassende. So entsteht der Eindruck eines Papierbergs, der die oft gültigen Inhalte unter sich begräbt. Es ist eine Frage des Verdauungsrhythmus’, wenn Sie mir diesen trivialen Vergleich erlauben. Und es ist eine Sache, die Fragen aufwirft, vielleicht überdacht werden sollte. Ist es eine normale Entwicklung? Außerdem muß sich die ganze Welt, angesichts der Entwicklung der Medien, neuen Problemen stellen, und die sollten auch in der Kirche angegangen werden.
Angesichts so vieler Aussagen stellt sich wieder die heikle Frage der Maßgeblichkeit der einzelnen Wortäußerungen und des Grades der gebotenen Zustimmung.
COTTIER: Man muß sich Paragraph 25 von Lumen gentium vor Augen halten, wo es heißt, daß, je nach behandeltem Thema, in jeder Äußerung das Ausmaß erkannt werden kann, in dem der Papst selbst seine Autorität einsetzt. In Evangelium vitae, wo von Abtreibung und Euthanasie die Rede ist, auch wenn es sich nicht um eine unfehlbare Glaubensdefinition im eigentlichen Sinne handelt, spricht der Papst beispielsweise mit Vollmacht des kirchlichen Lehramtes. Die Autorität der Kirche ist in diesen Dingen in Anspruch genommen. Es handelt sich um das ordentliche kirchliche Lehramt.
Von links, Msgr. Pierre Mamie, zukünftiger Bischof von Lausanne, Genf und Fribourg, Kardinal Charles Journet und Georges Cottier in Rom während der Arbeiten des II. Vatikanischen Konzils.

Von links, Msgr. Pierre Mamie, zukünftiger Bischof von Lausanne, Genf und Fribourg, Kardinal Charles Journet und Georges Cottier in Rom während der Arbeiten des II. Vatikanischen Konzils.

Über diese Dinge gibt es viele Mißverständnisse. Beispielsweise über die Unfehlbarkeit des Papstes.
COTTIER: Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich einmal mit einem protestantischen Pastor hatte, der die Unfehlbarkeit mit „Unsündigkeit“ verwechselte. So als würde der petrinische Primat den Papst vor den Folgen der Ursünde gefeit machen. Der Papst ist ein Mensch wie die anderen. Nehmen wir einmal an, daß ein Papst schwer sündigt: um in den Stand der Gnade des Herrn zurückzukehren, ist auch für ihn der einzige Weg das Sakrament der Beichte, wie für alle. Das ist offensichtlich, aber heute ist die Verwirrung dermaßen groß, daß man den Eindruck hat, das wären ganz große Neuigkeiten.
Vielleicht sollte man sie dann wiederholen.
COTTIER: Das Eintreten des Charismas der Unfehlbarkeit geschieht nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Wie vom I. Vatikanischen Konzil definiert, ist es nicht Aufgabe des Papstes, neue Lehren vorzubringen, sondern das zu hüten, darzulegen und zu verteidigen, was bereits im apostolischem depositum, bzw. den Offenbarungswahrheiten, Gegenstand des Glaubens, vorhanden ist, wenn auch implizit. Und die Offenbarung ist erfüllt mit dem Tod des letzten Apostels. In dieser treuen Darlegung des Glaubens der Apostel ist der Beistand des Heiligen Geistes absolut und garantiert die Unfehlbarkeit der Definitionen. Es ist nicht so, daß der Papst seine Ideen oder persönlichen Meinungen als unfehlbar erklärt...
Das führt zu einer gewissen „Eingrenzung“ des Feldes...
COTTIER: Unfehlbare Definitionen gibt es nur in Sachen des Glaubens und der Moral. Wenn der Papst beispielsweise eine Diagnose zu einem Problem abgibt, das den Bereich der Kultur oder der Politik berührt, kann die Unfehlbarkeit gewiß nicht in Anspruch genommen werden.
Hier begeben wir uns in den Bereich von der Vorsicht her gebotener Entscheidungen...
COTTIER: Pius XI. fragte sich, als er über die Folgen der Lateranverträge sprach: „Und was wird morgen sein?... Das wissen wir nicht.“ Im wandelnden Fließen der geschichtlichen Umstände könnte eine Entscheidung, die heute angemessen erscheinen mag, das vielleicht schon einige Zeit später nicht mehr sein. Der ein oder andere schließt daraus, daß sich die Kirche widerspricht. Aber die meiste Zeit ist da der Wunsch der Hirten, das zu entschlüsseln, was auch La Pira, nach Papst Johannes XXIII. und dem Konzil, die „Zeichen der Zeit nannte.“
Darüber hat Ihr Lehrer Journet sehr schöne Worte geschrieben, beispielsweise in Théologie de l’Église...
COTTIER: Er erklärte darin, daß sich der der Kirche versprochene göttliche Beistand „manchmal darauf beschränkt, ihre physische und empirische Existenz sicherzustellen“, und sie nicht vor „Prüfungen, Zaudern, und auch nicht Fehlern in der Leitung“ bewahrt. Weshalb er auch die Freiheit als verständlich beurteilte, mit der selbst Historiker wie Ludwig von Pastor, „dem es an päpstlichen Zustimmungen nicht gefehlt hat, ein rückblickendes Urteil über das glückliche oder verheerende Wesen der Politik der Päpste abgeben konnten.“
Ist es unter dieser Perspektive vielleicht nicht legitim und nützlich, den Primat des Nachfolgers Petri – wie von Jesus Christus gewollt und von der Kirche definiert – von Interpretationen im Sinne weltlicher Hegemonie zu unterscheiden, die im Laufe der Geschichte, auch in der Kirche, von diesem Primat gegeben wurden?
COTTIER: Die kirchlichen Ereignisse mit einem kritischen Augen zu betrachten, heißt nicht, destruktiv zu sein. Die Kirche hat immer gelehrt, daß Papst-Sein oder Bischof-Sein ein Dienst ist. Aber wenn die Autorität des Papstes über die Kirche auch von katholischen Fürsten bestritten wurde, kam es vor, daß man die Notwendigkeit verspürte zu bekräftigen, daß die kirchlichen Ämter legitime Gewalten wären wie die anderen. Und von dieser Verwirrung im Anschein sind wohl noch heute Spuren vorhanden.
Johannes Paul II. und Georges Cottier.

Johannes Paul II. und Georges Cottier.

Ein konkretes Beispiel: wenn man die vom Syllabus verurteilten Sätze liest, könnte ein einfacher Gläubiger geneigt sein zu glauben, daß die zeitliche Macht der Päpste bestreiten dem Bestreiten des Petrus-Primats gleichkommt.
COTTIER: Zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils konnte Kardinal Montini, damals Erzbischof von Mailand, bekräftigen, daß das Ende des Kirchenstaates für die Kirche eine Befreiung war. Aber vielleicht hätte selbst Montini, wenn er sich in derselben Lage befunden hätte wie Pius IX., sein Gewissen geplagt. Weil Papst Mastai, als Person, sich ganz einfach nicht im Recht fühlte, den Kirchenstaat zu liquidieren, den er nicht als Privateigentum betrachtete, sondern von seinen Vorgängern übernommen hatte. Manchmal befreit uns Gott auf schmerzliche Weise von gewissen Lasten.
Hier Mißverständnisse auszuräumen, die das Papsttum mit einer Art heiligem Imperium verwechseln, könnte auch die ökumenischen Beziehungen zu den sogenannten Schwesterkirchen begünstigen. Wo anfangen?
COTTIER: Man muß sich stets vor Augen halten, daß das Lehramt ein Dienst, und als solcher ein Instrument ist. Der Zweck der Kirche ist das Heil der Welt. Die Funktion des Lehramts in der Kirche, die mit dem Bewahren der geoffenbarten Wahrheit und der täglichen Führung des Gottesvolkes beginnt, rechtfertigt sich im Hinblick auf dieses Ziel. Und das bestimmt die Kriterien und Weisen der Ausübung der auctoritas in der Kirche. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit auch darauf hinweisen, daß mich der Ausdruck „Schwesterkirchen“ nicht überzeugt. Die Kirche ist eine. Eine andere Sache ist es, wenn man von „Ortskirchen“ spricht. Diese Formulierung ist korrekt. Als Paul VI., Bischof von Rom, Athenagoras, Bischof von Konstantinopel, begegnete, war das die Begegnung zwischen zwei Oberhäuptern von Ortskirchen. Auch Johannes Paul II. betont oft, Papst zu sein, insofern er Bischof von Rom ist. Vor kurzem hat er sogar einmal im römischen Dialekt gesprochen!
Ihr menschlicher und christlicher Werdegang ist so ganz und gar nicht „kurial“. Beginnen wir bei Ihrer Jugend: das besetzte Frankreich, die zensierten katholischen Zeitschriften, Sie und ein paar Freunde mit Ihrer kleinen „Widerstandsgruppe“...
COTTIER: Genf ist Frankreich nahe. Wir haben eine französische Kultur. Die Besetzung Frankreichs war ein schrecklicher Schock. Ich und ein guter Freund von mir pflegten Temps présent zu lesen, eine katholische Zeitschrift, die einst an die Dominikaner gebunden war und deren Redaktion sich nach der Besetzung von Paris nach Lyon „verlegt“ hatte. Der Chefredakteur war Stanislas Fumet. Wir luden ihn nach Genf ein. Er erzählte uns, wie das Leben in Frankreich war, von der Zensur und allem anderen. Er regte uns dazu an, Initiativen zu ergreifen. Wir begannen, freie Texte zu publizieren, die in Frankreich verboten waren. Es erschien eine wunderschöne Reihe, die Cahiers du Rhône. Fumet war ein Freund des Marienheiligtums der Salette. Eines Tages – wir hatten gerade die Genehmigung erhalten – gelang es uns, eine Wallfahrt zu diesem Marienheiligtum zu organisieren, wo wir uns auch mit ihm trafen.
Wer steht bei Ihrer dominikanischen Berufung mehr im Vordergrund, Dominikus oder Thomas?
COTTIER: Vielleicht mehr der hl. Thomas. Das war zu der Zeit, als ich die Universität besuchte. Eine meiner Tanten war Dominikaner-Nonne, und das hat mich sehr beeinflußt. Dann machte mich Journet mit dem Werk Maritains vertraut. Ich stand auch mit Pater Domenach in Kontakt, einem konvertierten Juden und engen Freund von Journet, der in Fribourg lebte. In diesem Ambiente und mit diesen Begegnungen ist meine Berufung gereift.
In einer von Professor Chenaux verfaßten Kurzbiographie über Sie steht geschrieben, daß diese Generation davon geprägt war, daß Pius XI. die Action française verurteilt hatte, jene Bewegung, die die Wiederherstellung der Gesellschaft auf der Grundlage der christlichen Werte wollte.
COTTIER: Es war ein Trauma, das vor allem die Generation vor der meinen geprägt und auch heute noch Spuren hinterlassen hat. Viele Pétain-freundliche Katholiken waren Veteranen der Action française. Auch Maritain. Seine Frau Raïssa erklärt in ihren Memoiren, daß ihr geistlicher Vater, Pater Clerissac, fast schon eine religiöse Pflicht daraus machte. Die Situation war in verschiedenerlei Hinsicht der heutigen ähnlich. Ein Moment der Verwirrung. Die Leute wissen nicht, wo wir stehen, man kann eine starke moralische Dekadenz feststellen, und die christlichen Inhalte werden als Faktoren einer ethischen Ordnung vorgeschlagen. Diese Perspektive hatten viele. Die Gruppe Lefebvres schwimmt heute noch gewissermaßen im Kielwasser der Action française.
Aber auch heute gibt es eine breite Front, die das Christentum zu einer Art kulturellem Boden des Westens hochspielt. Man muß nur an die neokonservativen Theoretiker denken, die auf die amerikanische Geopolitik Einfluß nehmen. Haben wir da nicht auch, in einer subtileren Form, eine Rückkehr zu der Action française ähnlichen Kategorien?
COTTIER: Die Action française war eine typisch katholische Frage, eine Frage des katholischen Frankreich. Die hauptsächliche kulturelle Wurzel einiger Theorien über die historische Mission der Vereinigten Staaten ist ein gewisser protestantischer Fundamentalismus, mit eschatologischer Färbung, in dem eine auf das Ende der Zeiten blickende geopolitische Perspektive vorhanden ist, in der einer der Schlüssel des Problems die Rolle des Staates Israel ist. Eine sehr starke religiös-politische Ideologie, die ohne Zweifel ihr Gewicht hatte. Aber auch in Europa überzeugen mich gewisse übertriebene Anschauungen des Christentums als Zivilisationsfaktor nicht. Die in den vergangenen Monaten in Italien um das Kruzifix entstandene Polemik hat mich sehr betroffen gemacht. Wo auch einige Katholiken gesagt haben, daß das Kreuz auch für die sehr wichtig ist, die nicht glauben, als kulturelles Symbol. Aber nein! Das ist doch das Kreuz Jesu! Daß das Christentum auch kulturelle Konsequenzen mit sich bringt, ist uns wohl allen klar, aber der Katholizismus ist kein kulturelles Faktum. Da ist ein gewisser Konservativismus, der Verwirrung stiftet.
Georges Cottier und Kardinal Jean-Jérôme Hamer.

Georges Cottier und Kardinal Jean-Jérôme Hamer.

Mir kommt ein Konzept in den Sinn, das Sie bereits 1969 in einem Artikel in Nova et Vetera zum Ausdruck gebracht haben: die Religion als instrumentum regni ist die Kehrseite der Religion als Opium des Volkes.
COTTIER: Maurras, einer der Gründer der Action française, war ein Positivist. Er pries den Katholizismus als „Religion der Franzosen.“ Was ihn interessierte, war Frankreich, nicht der Katholizismus und auch nicht die Kirche. Eine Haltung, die wir auch in der Aufklärung finden. Voltaire schickte seine Hausangestellten zur Messe. Er meinte, daß die Religion nützlich wäre, um das Volk bei Laune zu halten. Das war die Vorstellung eines Maurras, wie auch die eines Mussolini, der Maurras las. Aber Gott ist bereits ausgeschieden. Christus interessiert nicht. Wir dürfen nicht naiv sein. Man bemerkt es leicht, wenn jemand Gott ausdrücklich leugnet. Aber wer ihn verzweckdienlicht, beleidigt ihn schwer. Und das ist heimtückischer.
Sprechen wir über Ihre Freundschaft mit Jacques Maritain. Wie haben Sie ihn kennengelernt?
COTTIER: Von 1946 bis 1952 befand ich mich in Rom, am Angelicum, wo ich Kurse in Theologie und Philosophie besuchte. Zu jener Zeit war Maritain Botschafter Frankreichs beim Hl. Stuhl. Ich kannte seine Werke, lernte ihn durch Journet dann auch kennen. Ich erinnere mich an ein Essen im Palazzo Taverna, wozu Maritain auch Pater Garrigou-Lagrange eingeladen hatte, der den thomistischen Philosophen wegen politischer Fragen kritisiert hatte, was dieser sehr bedauert hatte.
Was von dem philosophischen Ansatz Maritains kann man Ihrer Meinung nach heute vorschlagen?
COTTIER: Das Nützlichste scheint mir das Unterscheidungsvermögen zu sein, das der ganzen thomistischen Tradition eigen ist. Der Verzicht darauf, zu unterscheiden, was unterschieden ist, führt zur Verwirrung und leugnet das, was man eigentlich verteidigen wollte. Wenn alles Gnade ist, gibt es keine Gnade mehr. Eine der Gefahren, die ich beispielsweise in der Theologie der Religionen feststellen kann ist, dem Heiligen Geist in eindeutiger Weise alles Religiöse zuzuschreiben. Es gibt da überaus respektable menschliche religiöse Werte, aber das heißt nicht, daß sie Heilswert haben. Sie gehören einer anderen Ordnung an als die Gnade Christi, die rettet. Vielleicht hat man die Unterscheidung zwischen Gnade und Natur manchmal schlecht dargestellt, als gäbe es Überlagerungen von Natur und Gnade. Was niemals der Gedanke des Thomas ist. Die Gnade wirkt vom Inneren der Natur her. Aber die Natur hat ihre eigene Beschaffenheit.
Kardinal Cottier bei der Zeremonie der Besitzergreifung seiner Diakonie-Titelkirche St. Dominikus und Sixtus, 25. März 2004.

Kardinal Cottier bei der Zeremonie der Besitzergreifung seiner Diakonie-Titelkirche St. Dominikus und Sixtus, 25. März 2004.

Das gilt ad extra. Aber können Sie auch im Innern der katholischen Theologie Verwirrung feststellen?
COTTIER: Ein gewisser „Panchristismus“ scheint mir beispielsweise wenig angebracht. Ein theologisches System, das die ganze Realität in Christus absorbiert, macht Christus letztendlich zu einer Art metaphysischem Postulat der Anerkennung menschlicher Werte. Und macht uns zu einem ernsthaften Dialog unfähig, auch auf der Ebene der Menschenrechte. Und schließlich wissen wir, daß zu sagen, daß alle bereits zu Christus gehören, ob sie es nun wissen oder nicht, die Mission überflüssig machen kann.
Gleichzeitig kann es Ausdruck sein für eine Tendenz zu Intoleranz und Hegemonie. „Der Gedanke, daß wir alle Christen sind, auch wenn wir es nicht wissen, erscheint mir als religiöser Imperialismus,“ hat Kardinal Ratzinger einmal gesagt.
COTTIER: Als Christ wird man nicht geboren. Geboren wird man als Jude, als Muslim. Christ wird man, durch die Taufe und den Glauben. Daher kommt das Christentum entwaffnet. Es ist göttliche Wehrlosigkeit. Weil man keine Christen fabriziert, so wie man Angehörige anderer Religionen erzeugen kann, allein dadurch, daß man sie in die Welt setzt. Jedes Kind muß alleine gehen, das kann ihm keiner abnehmen. Seine Umwelt, die Katechese, können ihm helfen. Aber keine soziologische Situation kann die Anziehung ersetzen, die Geschenk der Gnade ist, die die persönliche Freiheit anhängen läßt.
Sie haben sich lange Zeit Ihres Lebens mit Marx befaßt. Wie sind Sie auf den Philosophen aus Trier gestoßen?
COTTIER: Meine Oberen haben mich, nach Ende meiner kirchlichen Studien, gebeten, eine Doktorarbeit an der Universität Genf zu machen, wo sie ein neues Kloster geöffnet hatten. Viele meiner Studienkollegen waren vom Kommunismus eingenommen. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, welche Faszination der Kommunismus nach dem Krieg ausübte. Und dann interessierte es mich zu verstehen, welche Beziehung zwischen Marxismus und Atheismus bestand. Darauf habe ich mich in meinen Studien konzentriert.
Und was haben Sie entdeckt?
COTTIER: Daß der Atheismus Marx’ in Hegel wurzelt. Wie schon Karl Löwith sagte, ist die Philosophie Hegels eine eindrucksvolle „gnostische Christologie“. Gerade wenn Hegel die kulturelle Bedeutung des Christentums für das Voranschreiten der Zivilisation herausstellt, leugnet er den Glauben der Apostel an Jesus. An seinem Horizont ist Christus nur als Idee, als göttliches Modell interessant. Mit Jesus als historischer, konkreter Gestalt weiß er nichts anzufangen. Kierkegaard, für mich einer der ganz Großen, hatte das alles erfaßt.
In diesen Jahren haben Sie auch die Erfahrung der Arbeiterpriester gemacht, waren mit einem von ihnen, Jacques Loew, befreundet...
COTTIER: Loew war damals Dominikaner. Nahe standen ihm Magdaleine Delbrei und die „Petits frères“ von Charles de Foucauld in St. Maximin. Dort habe ich ihn kennengelernt. Dann habe ich seine Arbeitermission frequentiert. Er wollte von mir wissen, was ich über den Marxismus wußte. Er war in einem übertriebenen Maß beeindruckt von der Autorität des Ordens, ohne ausreichende Abklärung. Einige Arbeiterpriester hatten sich in den Gewerkschaftsaktivismus gestürzt, sich den Parteiausweis geben lassen. Einige Einzelfälle stellten für die Sache eine Gefährdung dar. Aber er hatte stets zwischen missionarischem Einsatz und politischem Engagement unterschieden. Und die Intuition, sich in entchristlichte Milieus zu begeben, am gewöhnlichen Alltag der Leute teilzunehmen, erscheint mir noch heute als missionarische Haltung. Sie lebten als Arme. Waren wirkliche Arbeiter.
Aus Ihrer Auseinandersetzung mit dem Marxismus erklärt sich auch Ihre aktive Anteilnahme an den berühmten, nach dem Konzil vom Sekretariat für die Nicht-Glaubenden organisierten „Dialogen“.
COTTIER: Für die vom Marxismus ausgehende Verführung war ich nie anfällig. Ein Freund in der französischen Diplomatie, der zur Zeit des Krieges in Rußland war, hatte mir einmal von der schrecklichen Realität des Kommunismus berichtet, und das hat mich für immer geheilt. Aber damals hatte es den Anschein, daß es den kommunistischen Regimen bestimmt war, von Dauer zu sein. Die Dialoge mit den Marxisten waren erst dann möglich, als die ersten internen Krisen des Kommunismus zutage traten. Da hat man auch gesehen, daß die Kommunisten nicht alle gleich waren. Die Ostdeutschen waren beispielsweise härter, die Ungarn disponibler. In Straßburg haben sie angefangen, sich zu öffnen, als bereits die Ära Gorbatschow angebrochen war. Es war sehr interessant, man sah, daß sie sich ehrlich existentielle Fragen stellten.
Aufgrund Ihrer Kompetenz in Sachen Marx haben Sie auch aktiv an der Debatte über die Befreiungstheologie teilgenommen.
COTTIER: Die Befreiungstheologie war damals von marxistischen Inhalten stark beeinflußt. Lief Gefahr, die gesamte christliche Hoffnung in politischen und soziologischen Interpretationen zu erschöpfen. Es ist interessant, die Evolution von Pater Gutierrez zu betrachten, der jetzt ein eigenwilliger lateinamerikanischer geistlicher Autor geworden ist. Während sie zu Beginn alle von den europäischen Autoren beeinflußt waren.
1984 und 1986 veröffentlichte die Kongregation für die Glaubenslehre zwei berühmte Instruktionen über die Befreiungstheologie. Hat es in jenen Jahren kein übertriebenes Gefecht gegen diese theologische Tendenz gegeben?
COTTIER: Viele von ihnen hatten sich vollkommen kritiklos auf den Marxismus gestürzt. Das machte eine Korrektur notwendig. Aber Frucht dieser Debatte war die Vorzugsoption für die Armen. Aus der Dialektik hat sich diese positive Synthese ergeben.
Eine letzte Frage. In Ihrer Eigenschaft als Präsident der vom Jubiläum 2000 ins Leben gerufenen historisch-theologischen Kommission haben Sie die Vorbereitungen für die – vom Papst für die Fastenzeit des letzten Heiligen Jahres gewollte – Bitte um Vergebung von in der Vergangenheit begangener Schuld koordiniert. Wie sehen Sie diese Sache, die in der Kirche immer noch Kontroversen auslöst, heute?
COTTIER: Der ein oder andere hat sagen wollen, das wäre etwas völlig Neues. Aber die Kirche hat immer gewußt, daß es die Sünde gibt. Zu Beginn einer jeden Messe sagen wir das mea culpa für unsere Sünden. Nicht alles, was im Namen der Kirche getan wird, ist Kirche. Diese Unterscheidung, und die Bitte um Vergebung, halte ich für die wichtigsten Akzente des derzeitigen Pontifikats.


Italiano Español English Français Português