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NOTIZEN AUS DEM GLASPALAST
Aus Nr. 03 - 2004

Die Verantwortung dessen, der mehr zählt




Am 7. April ernannte UN-Generalsekretär Kofi Annan den special rapporteur zur Verhütung des Völkermords, eine neue Figur, die sich auf die Hilfe des Hohen Kommissars für Menschenrechte stützt, aber dem UNO-Sicherheitsrat untersteht und die direkte Verbindung zwischen Menschenrechtsverletzungen und globaler Sicherheit herausstellt. Das Datum des 7. April ist nicht zufällig: es ist der internationale Gedenktag für die Opfer des Genozids von 1994 in Ruanda, ausgelöst am 6. April, als das Flugzeug in die Luft gesprengt wurde, in dem sich die Präsidenten von Ruanda und Burundi befanden, was nicht nur diese beiden das Leben gekostet, sondern auch eine wahre Mordwelle ausgelöst hat, im Rahmen derer in den folgenden Monaten ca. 800.000 den Ethnien der Tutsi und Hutu angehörende Ruander ermordet wurden. Die ruandischen Behörden sprechen von 937.000 Opfern, aber die Zahl wird sicher weiter steigen.
Die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, diesem Holocaust Einhalt zu gebieten, war wahrscheinlich das schwärzeste Kapitel ihrer Geschichte, wie Kofi Annan, damals Leiter der Abteilung der peacekeeping-Operationen, herausstellte.



Auch aus diesem Grund wollte der Generalsekretär sowohl die Figur des special rapporteurs als auch die Schaffung eines Komitees zur Genozid-Verhütung (das in periodischen Abständen Versammlungen abhält zur Überprüfung der Berichte und zum Befinden über das Einschreiten in Risiko-Gebieten). Der Generalsekretär hat in Kanada einen wertvollen Sponsor gefunden, der im Rahmen der Debatte um die peinliche Figur ins Spiel gekommen war, die die UNO in Ruanda abgegeben hat – wie schon in Bosnien und Somalia. Ergebnis war die Schaffung der International Commission on Intervention and State Sovereignity. Diese Kommission veröffentlichte 2001 einen Bericht, The responsibility to protect (Die Verantwortung, zu schützen), der durch die Irak-Krise größte Aktualität erreichte. Bei seiner Ansprache an das internationale Forum von Stockholm im Januar erklärte Annan zum Thema Völkermord, daß das Problem „nicht mehr das Recht des Einschreitens ist, sondern die Verantwortung. In erster Linie die Verantwortung aller Staaten, ihre Bevölkerungen zu schützen, aber letztendlich auch die des gesamten Menschengeschlechts, unsere Mitmenschen vor jeder Art von Mißbrauch zu schützen, ganz gleich wo und wann es dazu kommen mag.“ Natürlich kam auch in Stockholm, in allen Ansprachen der anwesenden Delegationen – obwohl die schwedische Regierung nachdrücklich von Kommentaren zum Irak „abgeraten“ hatte – das Kernproblem auf den Tisch, nämlich das des vom Völkerrecht vorgesehenen legitimen Gebrauchs der Gewalt im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen.



Als am 26. März bei der von Ruanda und Kanada gewollten Gedächtniskonferenz im Glaspalast noch einmal an den ruandischen Völkermord erinnert wurde, legte man eine Reflexion über die Mittel nahe, die „in Zukunft eine wirksamere internationale Reaktion gewährleisten.“ „Sind wir sicher, daß wir zurückschlagen könnten, wenn wir wieder mit einem Fall wie Ruanda konfrontiert wären?“ fragte Annan und gab sich auch gleich die ehrliche Antwort: „Wir können keineswegs sicher sein“ (und das hat er auch in der Botschaft wiederholt, die er am 27. März an eine analoge Konferenz in London schickte). Diese „im Werden befindliche Lehre“ – wie sie Annan definiert – von der Verantwortung der Staatengemeinschaft, die Bevölkerungen vor gewalttätigen Übergriffen seitens ihrer eigenen Regierenden zu schützen, funktioniert nur dann, wenn die multilateralen Institutionen, allen voran die UNO, ihrer Aufgabe gewachsen sind, sonst stellt diese vom Völkerrecht vorgebrachte Interpretation eine gefährliche Verletzung des Prinzips der Staatshoheit dar und ebnet jenen den Weg, die die Ineffizienz dieser Projekte kritisieren und es vorziehen, unilateral vorzugehen.



Ein heikles und komplexes Thema. Wobei allerdings festzuhalten ist, daß sich bereits einige unverzichtbare Punkte im Bereich der Wahrung der Menschenrechte und der Genozid-Verhütung herauskristallisieren. Die bereits existierenden Rechtsinstrumente müssen auf den Plan treten (wie beispielsweise die Genozid-Konvention von 1948 und der internationale Strafgerichtshof), man muß die zentrale Bedeutung der Vereinten Nationen anerkennen, auch den Entwicklungsländern dabei helfen, die Diktate zu beachten, und schließlich Einzelne und Gemeinschaften dazu erziehen, nicht nur auf diese Übergriffe zu reagieren, sondern sie auch zu verhüten.
All das rankt sich um die erhofften Reformen der Vereinten Nationen, und wer im UNO-Sicherheitsrat mehr zählt, wird die größere Verantwortung (und den größeren Ruhm) für deren erfolgreiche Umsetzung haben. Diese Reformen sind wir auch den 800.000 Opfern Ruandas schuldig.


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