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Aus Nr. 03 - 2004

AUGUSTINUS, DER MITTELMEERRAUM, EUROPA

Die afrikanischen Wurzeln des lateinischen Christentums


Die Kirche Afrikas der ersten Jahrhunderte spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des abendländischen Christentums. Ein Beitrag des Bischofs von Algier.


von Henri Tessier


Archäologische Reste einer christlichen Basilika in Karthago

Archäologische Reste einer christlichen Basilika in Karthago

Wenn ich in Sachen afrikanisches Christentum der ersten Jahrhunderte auch sicher kein Experte bin, möchte ich doch gerne einige Gedanken zum Thema dieses Vortrags unter dem Motto „Die afrikanischen Wurzeln des lateinischen Christentums“ anbringen. Ich spreche hier nicht im Namen einer Kompetenz, die ich nicht habe, sondern ergreife vielmehr die Gelegenheit, die Experten zu einer Problematik zu befragen, deren Bedeutung für die Kirchen im Norden und Süden des westlichen Mittelmeerraums offensichtlich ist.
Es scheint mir nämlich – im Kontext des „Jahres 2003 Algeriens in Frankreich“ bedeutungsvoll, herauszustellen, welche Rolle die Kirche Afrikas der ersten Jahrhunderte bei der Entwicklung des lateinischen Christentums spielte.
Ich werde deshalb verschiedene Aspekte der lateinischen Kirche in Betracht ziehen und den hier anwesenden Experten Fragen stellen zu dem besonderen Beitrag der Christen Nord­afrikas zur Entstehung des lateinischen Christentums, das dann allmählich in Europa eine von seinen frühen griechischen und nahöstlichen Wurzeln befreite Gestalt annahm.
Professor Claude Lepelley hat erst kürzlich, bei dem am 30. und 31. Januar 2003 von der UNESCO organisierten Symposium, eine Reflexion hierzu angeboten. Ich werde mir erlauben, mich weitgehend auf seinen Beitrag zu stützen, werde aber auch meine Situation als Bischof miteinbeziehen, wie auch die Tatsache, daß uns hier die Zeit zur Verfügung steht, auch neue Fragen zu stellen, und ich hoffe, meinen Beitrag zu einem neuen wichtigen Bewußtsein für die Beziehungen der beiden westlichen Welten, der europäischen westlichen Welt und der westlichen Welt (das ist die Bedeutung des Wortes Maghreb) des südlichen Mittelmeerraums zu leisten.
Sich dieses Umstands bewußt zu werden, ist für die Christen Europas von großer Bedeutung, wie auch für die derzeitigen Bewohner des Maghreb. Die Europäer müssen wissen, daß ein Großteil ihrer lateinischen christlichen Wurzeln im Süden des Mittelmeerraumes zu finden ist. Und die Bewohner des Maghreb müssen in derselben Weise die Rolle anerkennen, die ihre Vorfahren in einer kulturellen und religiösen Tradition gespielt haben, die ihrem Land heute so fremd erscheint. Ein Bewußtsein, das auch für die jungen Kirchen Afrikas, die ihre geistlichen Quellen einzig als europäisch ansehen, seine Bedeutung haben kann, und so nicht nur die orientalischen Ursprünge der Bibel und die Entwicklung der orientalischen Patristik vergessen, sondern auch die Rolle des römischen Afrika.
Bei seiner Reflexion zu diesem Thema zögerte Professor Claude Lepelley nicht, seine Position in folgendem Paradox auszudrücken: „Das westliche Christentum wurde nicht in Europa geboren, sondern im südlichen Mittelmeerraum.“
Eine Behauptung, die überraschen mag, von der Geschichte aber weitgehend bekräftigt wird.
Ich werde also in Kürze versuchen, die wichtigsten Wege zu beschreiten, auf denen wir, unter verschiedenen Aspekten, die afrikanischen Wurzeln des lateinischen Christentums entdecken können.
Der hl. Cyprian, Mosaikdetail (6. Jh.) mit der Darstellung der Prozession der Märtyrer, Basilica Sant’Apollinare Nuovo, Ravenna

Der hl. Cyprian, Mosaikdetail (6. Jh.) mit der Darstellung der Prozession der Märtyrer, Basilica Sant’Apollinare Nuovo, Ravenna



1. Die lateinische christliche Literatur wurde im römischen Afrika geboren
Das erste Faktum ist von wesentlicher Bedeutung. Die ältesten, uns überlieferten lateinischen Werke christlicher Theologie wurden nicht in Italien, Spanien, Gallien oder Dalmatien geschrieben, sondern stammen aus Karthago. Zur Zeit Tertullians schrieben die Christen des nördlichen Mittelmeerraumes nämlich noch auf griechisch. Was offensichtlicherweise, ein Jahrhundert früher, auch Klemens von Rom tat. Aber auch Justinus – der kein wirklicher „lateinischer Vater“, sondern Märtyrer in Rom war (†ca. 165) – kurz vor Tertullian. Er kam aus Palästina, hatte zuvor für einige Griechen griechisch geschrieben, und tat das auch weiter nach seiner Ankunft in Rom.
Auch Irenäus (†ca. 200) verfaßte, nachdem er von Smyrne nach Lyon gekommen war, in dieser Stadt auf griechisch sein Adversus haereses, als Tertullian bereits seine ersten Traktate auf lateinisch schrieb. Hippolyt (†236), obgleich Priester von Rom und jünger als Tertullian, schrieb sein Werk noch auf griechisch.
Der erste bekannte lateinische Autor ist – neben Tertullian – Minucius Felix. Es ist aber nicht bewiesen, daß er vor Tertullian lebte. Sein Werk bleibt auf der Ebene einer Apologetik, die sich das eigentliche christliche theologische Vokabular wenig zunutze macht. Die ersten theologischen Traktate auf Lateinisch haben wir also Tertullian zu verdanken. Er schrieb zuerst auf griechisch, ging dann aber bald zum Lateinischen über, um sein afrikanisches Publikum zu erreichen. Zu präzisieren, wieviel die christliche Sprache Tertullian zu verdanken hat, ist Aufgabe der Experten. Auch wenn er das gesamte christliche Vokabular in lateinischer Sprache nicht allein schuf, so stellte jedoch sein Werk den ersten maßgeblichen christlichen corpus in dieser Sprache dar. Die lateinische Sprache hat ihm, wie es scheint, tausend christliche Wörter zu verdanken.
Ich möchte hier nun als Beispiel zwei Zitate des Tertullian anführen, aus denen die Schwierigkeiten dieses ersten Versuchs der Übertragung des Christentums hervorgehen, ausgehend von seinem ursprünglichen Wortlaut auf Griechisch in seine Formulierung auf Lateinisch.
Das erste Zitat befaßt sich mit dem Problem der griechischen Übersetzung des Wortes logos mit dem lateinischen sermo (das wir ebenso mit „Wort“ wie mit „Verb“ übersetzen können): „In der Tat war Gott vor allen Dingen einmal allein: er war sich selbst Ergänzung, seine eigene Welt, sein eigener Zustand, alles eben. Er war allein auch in dem Umstand, daß da nichts war außer ihm. Und doch war er nicht wirklich allein. Es begleitete ihn das, was er in sich selbst hatte, Seine Vernunft also. Gott ist nämlich vernünftig, und die Vernunft ist zuerst in ihm selber, da schließlich alles von Ihm ausgeht. Diese Vernunft ist sein eigener Gedanke. Die Griechen nennen ihn „logos“. Ein Vokabel, für das wir auch „Wort“ sagen, weshalb wir auch, der Einfachheit der Übersetzung wegen, zu sagen pflegen, daß „das Wort am Anfang bei Gott war“, wo es doch vorzuziehen wäre, von Vernunft zu reden, weil vor dem Anfang selbst Gott nicht Wort, sondern Vernunft war, und weil das Wort dank der Vernunft existiert, die ihr folglich vorausgeht“ (Adversus Praxean, 5,2-3).
Lateinisches Evangeliar, Codex Palatinus 1589, ss. 43v-44r, Ende 5. Jh., Museen und Sammlungen, Castello del Buon Consiglio, Trient. Die purpurnen Evangelien von Trient übermitteln einen lateinischen Text aus der Zeit vor Hieronymus, der im Afrika des 3. Jhs. in Umlauf war und von Cyprian benutzt wurde.

Lateinisches Evangeliar, Codex Palatinus 1589, ss. 43v-44r, Ende 5. Jh., Museen und Sammlungen, Castello del Buon Consiglio, Trient. Die purpurnen Evangelien von Trient übermitteln einen lateinischen Text aus der Zeit vor Hieronymus, der im Afrika des 3. Jhs. in Umlauf war und von Cyprian benutzt wurde.

Im zweiten Beispiel werden wir sehen, welcher Unterschied zwischen den Vokabeln Substanz und Materie besteht; wenn Tertullian nämlich in ein und derselben Passage darauf zurückgreift, um das griechische ousia (Substanz) zu übersetzen: „Er wird Sohn Gottes und Gott genannt, aufgrund der Einheit der Substanz, denn auch Gott ist Geist. Wenn ein Strahl aus der Sonne geworfen wird, ist das ein Teil, der sich vom Ganzen entfernt; aber die Sonne ist in dem Strahl, weil es ein Sonnestrahl ist, und die Substanz ist nicht geteilt, sondern weitet sich aus, wie das Licht, das sich am Licht erhellt. Die Ausgangsmaterie bleibt intakt, und verliert nichts, sondern teilt ihre Natur über viele Kanäle mit“ (Apologeticum XXI, 12).
Beeindruckend ist besonders die Entschlossenheit und Präzision der Formulierungen des Tertullian. Hier eines der vielen möglichen Beispiele: „Es war also notwendig, daß das Bild und Gleichnis Gottes mit freiem Willen und Autonomie ausgestattet geschaffen wurde, damit gerade dem – dem freien Willen und der Autonomie – das Bild Gottes anvertraut wurde. Und zu diesem Zweck wurde dem Menschen eine diesem Zustand angemessene Substanz anvertraut“ (Adversus Marcionem II, 6,3).
Cyprian (†258), chronologisch gesehen der zweite unter den westlichen Vätern, die uns ein lateinisch geschriebenes Werk hinterlassen haben, ist ebenfalls Afrikaner. Sein Werk wurde mehr als ein Jahrhundert früher geschrieben als das von Hilarius von Poitiers (†367), von Ambrosius von Mailand (†397), und noch früher als das von Hieronymus (†420).Auch Arnobius (†ca. 327). war Afrikaner. An dieser Stelle sollten wir auch daran erinnern, daß der Heide Cecilius des Octavius, der Apologie des Minucius Felix, als Freund des Fronton von Cirta (Constantina in Numidien) vorgestellt wird, Verfasser einer Diatribe gegen die Christen (162-166). Auch Lactantius, der um 325 starb, ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Tod Cyprians, wurde laut Hieronymus in Nordafrika geboren. Er unterrichtete Latein in Nikomedia, in Kleinasien, wo Kaiser Diokletian seine Hauptstadt errichtet hatte, also mitten in der griechischen Kultur. Über ihn, einen Afrikaner, hieß es, er sei „der in der lateinischen Sprache am meisten bewanderte Mann seiner Zeit“ gewesen. Zu jener Zeit gab es im christlichen Westen keinen nennenswerten lateinischen Autor – bis Hilarius von Poitiers (†367) und Martin von Tours (†397).


Lateinisches Evangeliar, Codex Eusebi, s.n., SS. 440+437, Biblioteca Capitolare, Vercelli. Diese Handschrift ist das älteste Zeugnis der vier Evangelien im sogenannten „europäischen“ Text , der älter ist als die Vulgata des Hieronymus.

Lateinisches Evangeliar, Codex Eusebi, s.n., SS. 440+437, Biblioteca Capitolare, Vercelli. Diese Handschrift ist das älteste Zeugnis der vier Evangelien im sogenannten „europäischen“ Text , der älter ist als die Vulgata des Hieronymus.

2. Auch die ältesten lateinischen Bibel-Übersetzungen sind afrikanischen Ursprungs
Auch was die Sprache angeht, wäre es interessant, die Meinung von Experten zu hören, besonders zur Vetus Latina. In der Tat heißt es, daß Afrika die ältesten lateinischen Ausgaben einer beträchtlichen Anzahl von Büchern der Bibel besaß, bevor Hieronymus der lateinischen Welt seine berühmte Übersetzung schenkte, die bis zur Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils einhelliger Bezugspunkt der lateinischen Welt werden sollte.
Auch hierzu überlasse ich es Kompetenteren, das genauer zu erläutern, doch schon seit geraumer Zeit schreiben Experten dem christlichen Afrika in Sachen erste Übersetzungen der Bibel vom Griechischen ins Lateinische eine entscheidende Rolle zu. Pierre Maurice Bogaert (La Bible latine des origines au Moyen-Âge in Revue Theologique de Louvain, 19 [1988], S. 137) schreibt: „Als man das Bedürfnis zu verspüren begann – im römischen Afrika bestimmt ab Mitte des 2. Jahrhunderts –, wurde die Bibel vom Griechischen ins Lateinische übersetzt... Solange nicht das Gegenteil erwiesen ist, vertrete ich einen afrikanischen, und nicht römischen oder italienischen Ursprung [der Übersetzungen].“ Man denkt übrigens, daß diese ersten Übersetzungen für die jüdische Gemeinschaft in Nordafrika, für die Erfordernisse der Gläubigen dort, angefertigt worden sind.
Es stimmt zwar, daß diese ersten Übersetzungen dann oft von der Übersetzung des Hieronymus verdrängt wurden, ihre Spuren bleiben aber in vielen Büchern der Bibel erhalten, beispielsweise in den Psalmen­.


3. Die ersten Erzählungen der Märtyrer in lateinischer Sprache
Ein anderer Bereich ältester christlicher Ausdrucksform in lateinischer Sprache in Afrika ist uns durch die Märtyrergeschichte überliefert. Msgr. Saxer, ehemaliger Präsident des Päpstlichen Instituts für christliche Archäologie, schreibt hierzu: „Der afrikanischen Geschichtsschreibung – von ihrer Entstehung an in lateinischer Sprache – wird das einzigartige Privileg zuteil, einige der ältesten, der echtesten und schönsten Werke dieser Literaturgattung ihr eigen nennen zu können“ (Victor Saxer, Saints Anciens d’Afrique du Nord, Rom 1979, S. 6). Das älteste, uns überlieferte christliche Dokument in lateinischer Sprache ist darüber hinaus auch die älteste Erzählung aus dem christlichen Afrika, die der szyllitanischen Märtyrer (17. Juli 180). Szylla war eine Stadt des prokonsularischen Afrika.
Auch hier müssen die Experten die Tatsache herausstellen, daß die Geschichte der afrikanischen Märtyrer oder ihre Leidensgeschichten in der christlichen Literatur die ältesten Dokumente dieser Art sind und als Vorbild für die späteren, im Westen geschriebenen Werke fungieren sollten.
Dasselbe gilt auch für die reichhaltigste Form von Literatur, nämlich die Heiligenbiographien. Eine Literaturgattung, die in Afrika entstanden ist und in der gesamten Kirche große Nachahmung finden sollte: den Auf­takt bildete das von Diakon Pontius beschriebene Leben des hl. Cyprian.
Wir kennen auch das Leben des Augustinus – dank der Aufzeichnungen seines Kollegen und Freundes Possidius von Calama (dem heutigen Guelma in Algerien), und das des Fulgentius (†527) von Ruspe (zwischen Sfax und Susa in Tunesien), das der Diakon des Fulgentius, Ferran­dus, zu Papier brachte.
Sehr viel später entstanden die hagiographischen Werke von Gregor von Tours über den hl. Martin und über den Ruhm der Märtyrer.

Die archäologischen Reste des römischen Theaters von Leptis Magna, heutiges Libyen

Die archäologischen Reste des römischen Theaters von Leptis Magna, heutiges Libyen


4. Das demographische Gewicht der Kirche Afrikas im lateinischen Westen
Claude Lepelley stellte in seinem UNESCO-Vortrag noch einen anderen Grund heraus, warum die Kirche Afrikas den lateinischen Westen beeinflußt hat: ihr demographisches Gewicht. Dieses ist nicht leicht im Sinne der christlichen Bevölkerung zu bemessen; die Zahl der Bistümer ist jedenfalls beachtlich. Um das Jahr 200, beim ersten Konzil von Karthago, konnte man unter dem Vorsitz von Agrippinus bereits 70 afrikanische Bischöfe zählen. Zur selben Zeit sind in Norditalien keine anderen Bistümer als Rom, Mailand und Ravenna bekannt. Beim zweiten Konzil von Karthago versammeln sich bereits neunzig Bischöfe. Bei der Synode von Rom unter Papst Kornelius, zur selben Zeit, kann man nur sechzig Bischöfe zählen. Beim Konzil von Arles über den Donatismus (ein afrikanisches Problem) im Jahr 314 beläuft sich die Zahl der Bischöfe auf 46 (16 aus Gallien, 10 aus Italien, 9 aus Afrika, 6 aus Spanien und 3 aus Britannien).
Wir wissen, wieviele Bischöfe am Konzil 411 in Karthago teilgenommen haben. Die anwesenden katholischen Bischöfe beliefen sich auf 279, die Donatisten auf 270. Wenn man bedenkt, daß auf beiden Seiten Hunderte von Bischöfen abwesend waren, würde sich ihre Gesamtzahl auf mehr als sechshundert belaufen. Ein Umstand, der einen Einblick darin gibt, wie ausgedehnt das Netz der Bistümer in Prokonsularien (Tunesien), aber auch in Numidien (Zone um Constantina) war.
Der afrikanische Einfluß machte sich in Rom bereits ab dem Jahr 189 bemerkbar, als Viktor, ein Afrikaner aus Leptis Magna, in Rom zum Papst gewählt wird (189-198). Was zeigt, welchen Platz die Kirche Afrikas in Rom bereits ab dem Ende des 2. Jahrhunderts eingenommen haben muß. Ein Einfluß, der im dritten und vierten Jahrhundert noch wachsen sollte.


Die älteste Darstellung  des Augustinus auf einem Fresko des 6. Jhs., Lateran, Rom.

Die älteste Darstellung des Augustinus auf einem Fresko des 6. Jhs., Lateran, Rom.

5. Der entscheidende Einfluß des Augustinus
Doch die bisher genannten Elemente wären gewiß ohne dauerhafte Folgen geblieben, wäre da nicht jemand vom theologischen und geistlichen Kaliber eines Augustinus gewesen – und die erstaunliche Dimension seines schriftlichen Werkes. Auf dessen anhaltenden Einfluß im lateinischen Westen – bis zur Reformation, bis zum Jansenismus, und schließlich bis in unsere Tage – muß man wohl kaum hinweisen. Wohl aber auf den Umstand, daß sich in seinem Werk eine originale Synthese des Christentums findet, die, obgleich ihm die griechische Patristik bekannt war, bei einer persönlichen Meditation der Schrift und seiner besonderen geistlichen Erfahrung ihren Ausgang nimmt.
Goulven Madec schlägt in einem kürzlich erschienenen Werk (Lectures Augustiniennes, Paris 2001, SS. 99-109) eine Studie über den auf Augustinus ausgewirkten christlichen Einfluß vor und stellt die Bedeutung der lateinischen Bezüge heraus, die zahlreicher sind als die der griechischen Väter. Hilarius von Poitiers, ins Exil in den Osten geschickt, und Ambrosius sind von ihren griechischen Quellen sehr viel abhängiger als Augustinus. Augustinus gilt als der Tradition der großen Kirche treu, seine Theologie aber ist vor allem in seiner persönlichen Lektüre der Heiligen Schrift und in seiner eigenen Erfahrung verwurzelt.
Auch sein Bezug zu den Quellen der griechischen Philosophie stützt sich auf das Zeugnis zweier Lateiner, Simplicianus und Victorinus, und nicht das der griechischen Väter. Mit Augustinus hat der lateinische Westen seine theologische Unabhängigkeit erlangt und damit auch seine eigene christliche Persönlichkeit entfaltet.
Der ein oder andere mag diese Entwicklung ablehnen und vielleicht die von den griechischen Vätern gegebene Leseart des Christentums vorziehen. Aber alle müssen doch anerkennen, daß der lateinische Westen vor allem Augustinus seine Leseweise der biblischen Botschaft verdankt.


6. Die augustinische monastische Tradition
Das Mönchstum ist bekanntlich im Osten entstanden. Im Westen konnte es sich zunächst durch den in Pannonien, an der lateinischen Grenze des Abendlandes geborenen hl. Martin (†397) verbreiten. Augustinus selbst erzählte, wie er in Mailand, dank Ponticianus, einige Anachoreten entdeckte, die die Biographie des heiligen Abtes Antonius (†356) zum asketischen Leben bekehrt hatten. Eine Biographie, die Athanasius gerade ein paar Jahre nach dem Tod des Antonius geschrieben hatte. Eine Entdeckung, die bekanntlich das Leben des Augustinus nachhaltig beeinflussen sollte, der nach seiner Rückkehr nach Tagaste in Afrika die ersten Stätten monastischen Lebens einrichtete. Er sollte dann diese Art zu leben an die Gemeinschaft anpassen, die um ihn herum lebte, als er Bischof war, und dann später der lateinischen Welt seine Lebensregel und das Beispiel seiner pastoralen monastischen Gemeinschaften geben. Ein Beispiel, das der lateinische Westen in einem Teil seiner Traditionen religiösen Gemeinschaftslebens übernehmen sollte (die Augustiner, die Prämonstratenser, usw.). Aber Experten können auch in der Regel des hl. Benedikt Einflüsse entdecken, die auf die Augustinische Regel zurückgehen.


7. Der Einfluß des afrikanischen Kirchenrechtes
Professor Claude Lepelley nennt noch einen anderen Bereich, in dem sich der Einfluß der Kirche Afrikas auf die lateinische Kirche spürbar macht: den des Kirchenrechtes. Die Konzilstätigkeit war ja bekanntlich in Nordafrika intensiver als in den anderen Regionen des lateinischen Abendlandes, vor allem im 3. und 4. Jahrhundert. Die Beschlüsse dieser Konzilien haben einen corpus hervorgebracht, der die Kirchen des Abendlandes nachhaltig beeinflussen sollte, vor allem durch das westgotische Spanien.


8. Die Verbreitung des Werkes des Augustinus seit dem Tod des Bischofs von Hippo
Wir können hier nicht erzählen, wie es kam, daß das Werk des Augustinus der Plünderung Hippos durch die Vandalen entgehen und dann Europa erobern konnte. Serge Lancel meint hierzu: „Es fehlt nicht an Hinweisen, die die Annahme – ohne Beweise zwar, aber doch mit allergrößter Wahrscheinlichkeit – nahe legen, daß die gründliche Kenntnis, die man in Italien seit Mitte des 5. Jahrhunderts vom Werk des Augustinus hatte, nicht den Kopien seiner Werke zu verdanken war, die schon vor dem Tod des Bischofs, allerdings nur teilweise, jenseits des Meeres verbreitet worden waren, sondern dessen globaler Verlagerung nach Rom und Eingliederung in die Apostolische Bibliothek. Geschehen ist das wohl gegen Mitte des 5. Jahrhunderts, und unter Umständen und auf Weisen, die, wie gesagt werden muß, mysteriös, um nicht zu sagen, wundersam bleiben“ (Serge Lancel, Saint Augustin, Paris 1999, S. 668).
So kam es also, daß das Werk des Augustinus schon sehr bald im nördlichen Mittelmeerraum verfügbar war und dann die uns bekannte Verbreitung erreichen konnte.
Wir kennen die Inschrift, die auf einem Fresko im Lateran geschrieben steht, der ältesten Darstellung des Bischofs von Hippo: „Die verschiedenen Väter haben verschiedene Dinge erklärt, aber nur er hat alles auf Lateinisch gesagt, die Geheimnisse mit der Kraft seiner klangvollen Stimme erklärt.“


Schlußbemerkung
Mir scheint, daß die verschiedenen – wenn hier auch nur kurz umrissenen – Themen hinreichend dafür Zeugnis ablegen, daß die Wurzeln des lateinischen Christentums tatsächlich afrikanischer oder numidischer Natur sind. Eine falsche Perspektive hat nur allzu oft dazu geführt, daß man die ersten christlichen Jahrhunderte, im Westreich, als eine fast ausschließliche europäische Realität betrachtet hat. In Wahrheit hat es den Anschein, daß eine Region wie Prokonsularien sehr viel früher, und sehr viel weitreichender, evangelisiert worden sei als viele Regionen Norditaliens, Galliens oder Spaniens. Um nur ein Beispiel zu nennen: es ist bedeutenswert, daß das erste Konzil Galliens in Arles 314 zusammenkam, um ein typisch afrikanisches Problem anzugehen, das Donatisten-Schisma. Ein Beweis für die Beziehung, die damals zwischen den Kirchen des nord- und südwestlichen Mittelmeerraumes bestand. Aber auch einer für die geringen Dimensionen der Kirchen des Nordens, die auch wenn sie die Bischöfe Italiens, Galliens, Spaniens und Britanniens versammelten, zu denen noch afrikanische Bischöfe hinzukamen, mit einer sehr viel geringeren Zahl von Teilnehmern aufwarten konnten als die afrikanischen Konzilien jener Zeit.
Aber es ist klar, daß der Einfluß der afrikanischen Kirche auf die Kirchen Europas vor allem mit der geistlichen, pastoralen und theologischen Persönlichkeit des Augustinus voll zum Tragen kommen konnte. Ein Umstand, der auf theologischer Ebene derart konsolidiert ist, daß eigentlich gar nicht darauf verwiesen werden muß. Man muß aber dessen Bedeutung jenseits der besonderen Sphäre der kirchlichen Wissenschaften sehen. Die philosophische und theologische Wahl des Augustinus ist inzwischen Teil des Denkens des europäischen Westens geworden. Zur Untermauerung dieser Behauptung sei hier als eines von vielen Zeugnissen zitiert, was einer der bedeutendsten Essayisten zu diesem Thema zu sagen hat, Jean-Claude Eslin: „Von unserem Gesichtspunkt aus liegt die Größe des Augustinus darin, daß er es verstanden hat, in einem mehr als neunzig Bände und Schriften umfassenden Werk ein nie dagewesenes Bindeglied zwischen der Welt des Altertums und der christlichen Welt, das ihr neue Form gibt, einzufügen. In diesem Sinne repräsentiert Augustinus den ersten Abendländer. Den ersten Modernen, weil er der erste war, der eine derartige Artikulation in einem dem Verstand zugänglichen philosophischen Ausdruck versucht hat, und indem er das getan hat, hat er unser Empfinden auf Jahrhunderte beeinflußt. Im Bezug zum Römischen Reich, und auch im Bezug zum Ost-Christentum, im Bezug zur Stabilität der Werte dieser Welt und zum Menschen des Altertums, bezeichnet er einen Bruch, stellt den Gründungsmoment dar, der die westliche Unruhe instauriert, und führt eine konstitutive Instabilität ein (in Politik, Sexualität), eine Dynamik, die, nach 15 Jahrhunderten, noch nicht abgeschlossen ist; Augustinus ist die Unruhe des Geistes im doch erreichten Hafen (Saint Augustin. L’homme occidental, Paris 2002, SS. 8-9).
Man könnte hier endlos Zitate aufführen, die zeigen, welch unvergleichlich großen Einfluß Denken und Werk des Augustinus auf den lateinischen Westen haben. „Kein Werk eines christlichen Schriftstellers in lateinischer Sprache sollte so große Bewunderung und Unruhe auslösen, einen derartigen Ruhm erfahren“ (Dominique de Courcelles, Augustin ou le génie de l’Europe, Paris 1994, S. 295). Und zwar so sehr, daß der Verfasser, obgleich ihm klar ist, wie er selber sagt, „von einem christlichen Berber zu sprechen“, seinem Werk den Titel gibt Augustinus oder das Genie Europas. Und dieses Genie war ein Numidier des Römischen Reiches. Was für ein Erguß von Weisheit vom Süden bis zum Norden des Mittelmeerraumes!
(Aus dem Vortrag am Institut für augustinische Studien, Paris, 13. März 2003)


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