Der Realismus der Volksfrömmigkeit
Die Sacri Monti der Alpen waren seit dem 16. Jahrhundert eines der Lieblingsthemen der norditalienischen Kunst. Sie sind Kultstätten, wo große Künstler, die aus dem Nichts gekommen zu sein schienen, die Geschichte Jesu erzählt haben. Vor allem in Cerveno, wo der Bildhauer Beniamino Simoni eine Via Crucis in Holz schuf, die einem Caravaggio alle Ehre gemacht hätte.
von Giuseppe Frangi
Jesus wird von Simon aus Zyrene geholfen, 5. Kapelle, Detail.
Das Val Camonica ist Grenzland, und auch Karl Borromäus bekam bei seinem berühmten Pastoralbesuch des Jahres 1580 zu spüren, daß hier Aberglauben und Tradition oft nah nebeneinander lagen. Der Bischof hatte Regeln und präzise Anordnungen gegeben, damit nicht einmal der entlegenste Winkel der Häresie anheim fallen könne. Er verstärkte die Präsenz der Franziskaner, derer also, die bekanntlich eng verbunden sind mit der Geschichte aller heiliger Berge der Alpen. Später dann, Anfang des 18. Jahrhunderts, sollte es wieder ein Franziskaner sein, Leonardo Porto Maurizio, der die Kreuzweg-Tradition verbreiten und deren Praxis durchsetzen sollte. So legte er beispielsweise fest, daß es 14 Stationen sein sollten, wie aus den Verfügungen hervorgeht, die Papst Klemens XII. am 3. April 1731 approbierte (Monita ad recte ordinandum devotum exercitium Viae Crucis). Und somit konnte, wenige Jahre später, die Geschichte des heiligen Berges von Cerveno beginnen.
Zu Beginn war es einfach nur die Entschlossenheit eines Pfarrers. Oder besser, einer Dynastie von Pfarrern: zuerst Don Pietro Belotti, der sich vierzig Jahre lang, von 1692 bis 1732, um diese Handvoll Schäfchen kümmerte. Seine Idee war es gewesen – und das auch dank der innigen Freundschaft, die ihn mit der Familie der bedeutendsten Bildhauer von Bergamo verband, der von Andrea Fantoni (in diesem Tal gibt es keine Kirche, in der nicht ein Beichtstuhl oder eine Heiligen-Statue steht, die wir ihm – oder einem seiner Brüder – zu verdanken haben). Belotti, der damit begann, im ganzen Tal Fonds für sein Projekt zu sammeln, konnte große Erfolge verbuchen. Zur Aufbesserung der „Haushaltskasse“ wurde ihm von Rom auch das Privileg des Gewinns des Ablasses durch das Gebet des Kreuzweges gewährt. Aber die Fantoni-Brüder waren zu beschäftigt, um einem Projekt die gebotene Aufmerksamkeit schenken zu können, das über die übliche Routine weit hinausging. Und da traf der Nachfolger Belottis, Don Andrea Boldini, die aufsehenerregende Entscheidung, ohne die berühmten Fantonis auszukommen und statt dessen einen anderen Meister zu rufen, der wie er selbst aus dem Val Saviore stammte, einem düsteren Tal, das sich vom Adamello ins Val Camonica erstreckt. Und das, was eigentlich als „Notlösung“ begonnen hatte, sollte sich schon sehr schnell als wahres As im Ärmel erweisen. Denn er, Beniamino Simoni, aus Fresine, ist der außerordentliche Meister und Schöpfer dieses Kreuzweges.
Jesus wird ans Kreuz geschlagen, 9. Kapelle, Detail.
Was war geschehen? Laut jüngst entdeckter Dokumente soll Simoni aus Brescia einen wichtigen Auftrag erhalten haben: die Festdekoration zur Feier der Ernennung von Bischof Giovanni Molino zum Kardinal am 10. Januar 1762. Aber die Sache läßt dennoch manches ungeklärt – die Briefe und Dokumente haben ganz den Anschein einer damnatio memoria für den Künstler. Eine damnatio, die ihren Zweck nicht verfehlte: Simoni wurde von der Geschichte vergessen, fast zwei Jahrhunderte lang mit keinem Wort mehr erwähnt – während sich der Kreuzweg von Cerveno weiterhin großer Beliebtheit erfreuen konnte. Was auch die Tradition des eindrucksvollen „lebenden“ Kreuzweges zeigt: seit 1800 kann die Menschenmenge hier, auf den Dorfstraßen, alle 10 Jahre die „Santa Crus“ erleben.
Die Wiederentdeckung des Simoni haben wir dem aufmerksamen Auge von Giovanni Testori zu verdanken, der in den Sechzigerjahren hierher kam. Er war tief beeindruckt, ließ sich alle Fotografien geben, die er nur auftreiben konnte, und brachte sie seinem Maestro, Roberto Longhi. Auch bei diesem war es Liebe auf den ersten Blick: die Kapellen mit den Skulpturen des Simoni stellten eine der herrlichsten Episoden der Caravaggio-Tradition in der italienischen Kunst dar. Natürlich fand Testori auch an der sich darum rankenden Geschichte Gefallen, die es gewollt hatte, daß eine überholte und bigotte Kultur diesen armen, ungestümen Bildhauer aus dem Val Saviore einfach ausgelöscht hatte. Aber nun konnte seine Größe umso leuchtender aus dem Dunkel erstrahlen, zu dem man ihn „offiziell“ verdammt hatte. Die sorgsam ausgesuchten Fotos brachten einen Bildhauer zutage, der sich durch einen starken Realismus auszeichnete, sich mit wahrer Leidenschaft und Kraft auf das Material stürzte, sich mutig der ganzen Härte der erzählten Handlungen und der Realität stellte. Simoni, ein Künstler aus dem Volk, fühlt sich, wie übrigens viele der Großen der Brescianer Tradition – allen voran Romanino – keineswegs als zweitrangig. Testori stellt nicht nur seine „harte und unerbittliche Kompaktheit“ und seinen „zähnefletschenden, rebellischen Realismus“ heraus, sondern auch die „von ihm bei der Gestaltung der Kapellen so unmissverständlich an den Tag gelegte Klarheit in der Szenenanordnung“. Eine Klarheit, die er sich – so Testori – nur angeeignet haben kann, nachdem er die Struktur der anderen großen „Sacri Monti“, besonders des Varallo, kennengelernt und vertieft hat.
Jesus begegnet den frommen Frauen, 8. Kapelle, Detail.
Simoni ließ sein Werk, wie bereits gesagt, kurz vor Fertigstellung unvollendet. An seine Stelle traten zwei Vertreter der Fantoni-Dynastie. Und dieser Unterschied zwischen dem verbissenen, rohen Realismus des Simoni und der so höflichen und klerikalen Distanz derer, die seinen Platz einnahmen, ist beispielhaft, fast schon peinlich. Und zeigt, wie die heiligen Berge schon immer auf der plastischen Phantasie irgendeines großen Künstlers aufgebaut wurden, vielleicht eines wie Simoni, der aus dem Nichts gekommen war. Wenn es nach den schlauen und sprunghaften Fantonis gegangen wäre, hätten wir heute eine Art Disneyland des Glaubens ante litteram. Doch zum Glück war da noch Simoni, der uns dagegen eine bewegende, überaus reale, wenngleich unvollkommene, Erzählung der Passion Christi geschenkt hat.
Alle 10 Jahre kommt wieder Leben
in die „Santa Crus“
-Prozession
Cerveno liegt im Tal Val Camonica, 75km vom Brescia entfernt. Um hierher zu kommen, muß man ca. 10km nach Breno von der Hauptstraße abzweigen. Der heilige Berg kann jeden Tag besucht werden, von 7-12Uhr, und von 15-19Uhr. Nur während der liturgischen Feiern in der anliegenden Kirche bleibt er geschlossen. Die Verwaltung ist telefonisch unter der Nummer 0039/363-434014 erreichbar. Die in allen Diözesen bekannte „Santa Crus“-Prozession findet alle 10 Jahre statt. Das letzte Mal im Jahr 2002. In der Nähe von Cerveno, in Breno, Bienno und Pisogne kann man auch die Meisterwerke von Girolamo da Romano, „Romanino“ genannt, bewundern, einem der größten Maler dieser Gegend, der im 16. Jahrhundert lebte und einer der bedeutendsten Vorgänger des Caravaggio war.