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„Wenigstens einmal am Tag müßte man es wiederholen: Resurrexit sicut dixit!“
„Wenigstens einmal am Tag müßte man es wiederholen: Resurrexit sicut dixit!“
Diese Worte sagte Sergej Averintsev, Orthodoxer, Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, zu einem Freund, als er auf die Kuppel von St. Peter blickte. Ein Nachruf auf Werk und Leben des kürzlich verstorbenen Gelehrten.
von Pierluca Azzaro
Grablegung und Auferstehung Christi, Detail einer zweiseitigen Holz-Ikone mit Szenen der Passion Christi, Ende 15.-Anfang 16. Jh., Tret’jakov-Galerie, Moskau.
Und doch: wie Kardinal Tomás Spidlik betonte, war „mit zwei Lungen zu atmen, der östlichen und der westlichen, für Averintsev kein ‚Programm‘, das er umzusetzen versuchte, sondern vielmehr eine Lebenshaltung.“ Ein kurzer Abriß seines Lebens und seines Werkes bestätigt dieses Urteil.
Sergej Averintsev wurde 1937 in Moskau geboren – „seine Eltern waren gebildet und – wie er sich später erinnern sollte – weniger Kommunisten oder Atheisten, als vielmehr jenem Agnostizismus und Deismus aufklärerischer Prägung zugeneigt, der das Jahrhundert zuvor geprägt hatte.“ So kam er also nicht so sehr durch Familientradition zum Christentum, sondern durch „jene Möglichkeit, die die schreckliche Realität der Stalin-Diktatur“ paradoxerweise anbot. Die nämlich, „wieder der primären Wahrheit des Glaubens zugeführt, dazu gezwungen zu werden, sich mit ihr auseinanderzusetzen: Ecclesia Christi, Kirche Jesu Christi.“ Von den vielen Dingen, die das bezeugen und die er selbst erlebt hat, ist ganz besonders eines zu nennen, woran er sich später noch oft erinnern sollte. Etwas, das sich zu Beginn der Nachkriegszeit in einem Dorf des sowjetischen Russland ereignete und dem Jungen damals von einer alten Bauersfrau berichtet wurde, die selbst Augenzeugin gewesen war: eine Prozession von Gläubigen trat in eine Kirche ein, die geweiht werden sollte, und die dortige Kommunisten-Jugend, die sich auf dem Kirchplatz eingefunden hatte, urinierte auf diese Menschen: „Alles, was man vom christlichen Erbe zerstören konnte, wurde vor unseren Augen zerstört – stellte der Gelehrte später fest – , und das war alles geplant, in großem Stile aufgezogen...“ Die „Illusion einer ‚christlichen‘ Nation einer ‚orthodoxen‘ Nation“ verschwand, was zusammenbrach war die als Establishment, als institutionelle Ordnung verstandene Kirche; was blieb „zusammen mit der offensichtlichen Wehrlosigkeit einer alten Bauersfrau, die den Glauben nicht verloren hatte und jenes Jungen, der ihr zuhörte“, war diese Prozession, also die Kirche als „Körperlichkeit“, „eingesetzt von Jesus Christus selbst“, „die Körperlichkeit des Wortes Gottes und des Gottesvolkes, die Körperlichkeit der Kirche entweiht und verfolgt als Ort der Treue, und das wurde auch körperlich gezeigt .“
Paradoxerweise war so die Möglichkeit gegeben,„sich wieder auf den Weg des Wesentlichen zu begeben, auf das Faktum selbst, und so die Straße der verlorenen Einheit wiederzufinden“ (Averintsev 1996, SS. 1-5).
Für Averintsev kann der Fall des russisch-orthodoxen Philosophen Leo Karsavin so paradigmatischen Wert annehmen. Dieser hatte zwar am Katholizismus stets scharfe Kritik geübt, auf dem Totenbett aber freudig die Eucharistie aus den Händen eines katholischen Priesters empfangen – wie er selbst auch in einem sowjetischen Gulag eingesperrt. Aber auch der weniger bekannte Fall, dessen Zeuge der Gelehrte – damals junger Student an der Fakultät für Altphilologie in Moskau – selbst geworden war. Der einer jungen katholischen Polin nämlich, die sich unter ihren sowjetischen atheistischen Kommilitonen diskret als „Missionarin“ betätigte und den orthodoxen Glauben propagierte (Averintsev 2003, S. 5).
Es handelt sich nur um ein paar von vielen, von ihm zitierten Episoden, die die Geschichte der katholisch-orthodoxen Begegnung während des Sowjet-Regimes ausmachen, deren gemeinsamen Nenner er dennoch weder in einer gewissen „liberalen“ Haltung ausmachte, noch in einem mehr oder weniger ökumenischen „Gefühl“, sondern in dem „nackten und bloßen Glauben (und damit in der ihm eigenen Menschlichkeit)“ (Averintsev 1996, S. 4).
Sergej Averintsev, als Subdiakon gekleidet, bei einer christlich-orthodoxen liturgischen Feier
Im Jahr 1989 nahm er schließlich, im veränderten Klima der Ära Gorbatschow, die Kandidatur für das Amt des „Abgeordneten des Volkes“ an, und widmete sich als Mitglied der von Andrej Sacharow geleiteten Gruppe vor allem der Ausarbeitung einer „gerechten und demokratischen“ Gesetzgebung zur Gewissensfreiheit: „Die Gewissensfreiheit ist ein Prinzip, auf das die Demokratie nicht verzichten kann, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein“ bekräftigte er in einem für den Kongress vorbereiteten Interview (Averintsev 1989, S. 113).
All denen, die ihm im Laufe der Jahre den freundschaftlichen Rat gaben, es besser „nicht zu versuchen“, meinten, daß er damit nicht „durchkommen“ würde, antwortete Averintsev mit seinem so typischen Sinn für Humor, daß es für ihn „ein vom rein biologischen Standpunkt vollkommen normales Verhalten“ sei, „das eines Menschen nämlich, der lebendig ist, im Unterschied zu dem, der es nicht ist“ (Averintsev, Mailand 2001, S. 13).
Sein „Sprechen ohne Erlaubnis“ war, wie er später betonen sollte, weder „gewagt“ noch „Heroismus“, sondern vielmehr – wie er in Anlehnung an den geliebten Chesterton meinte – ein „fröhliches Im-Dunkeln-Wandern“: „Man kann sich seiner selbst und seines Erfolgs sicher sein, und das ist abstoßend und dumm; man kann von der Gefahr des Misserfolgs verhext sein, und das sind Feiglinge; man kann schwanken zwischen dem Durst nach Erfolg und der Angst vor dem Fiasko, und das ist sinnlos und kleinlich; man kann sich nichts scheren um die Zukunft – das ist der Tod. Adel des Herzens und Freude liegen in der Überschreitung der Grenzen dieser vier Varianten, dem Im-Dunkeln-Wandern, dem vollkommen selbstverständlichen Einsatz – „wie bei spielenden Kindern“ – der ganzen eigenen Kraft, wobei man doch stets frei bleibt, was das Ergebnis angeht, vollkommen disponibel dafür, eine Niederlage zu erleiden und lächerlich gemacht zu werden...“ (Averintsev 1989, SS. 12-13).
Im Jahr 1977 erschien das Werk, das ihm internationalen wissenschaftlichen Ruhm einbringen sollte: Poetica della letteratura antico-bizantina, eine Studie, die sich mit den künstlerischen und literarischen Formen der griechischen Kultur des Mittelalters befasste, vor allem mit der Ikone, deren höchster sichtbarer Form. Die vergleichende Studie der orthodoxen und der katholischen Kultur – mit der er sich von diesem Moment an zunehmend beschäftigen sollte – verfolgt jedoch nie einen Selbstzweck: der rote Faden, der sich durch die vergleichenden Studien Averintsevs zieht, liegt vielmehr in jenen Momenten gegenseitigen Einflusses und Verständnisses, die die Beziehung all die Jahrhunderte lang prägten, auch in der Zeit größter konfessioneller Kontraste. So erinnerte er beispielsweise daran, daß es der hl. Dimitrij, Bischof von Rostov (1651-1709) gewesen war, der das dem Katholizismus so teure Gebet Anima Christi ins Russische übersetzen ließ, wahrscheinlich in der orthodoxen Liturgie einsetzen wollte. Der große russische Dichter und Denker der symbolistischen Epoche, Vjaceslav Ivanov (1866-1949) prägte die – mehr als einmal von Johannes Paul II. gebrauchte – Bezeichnung des Osten und Westens als die „beiden Lungen“ der universalen Kirche, als er bei seinem Aufenthalt in Rom im Jahr 1926 darum gebeten hatte, sich an die katholische Kirche annähern zu dürfen „auch ohne den ‚definitiven Schritt‘ zu tun, also das formale Abschwören der orthodoxen Kirche und seiner Identität als orthodoxer Gläubiger“.
„Ich glaube, es ist klar, daß es trotz meiner schwachen Kräfte mein größter Wunsch ist, mich weiterhin für dieses Bemühen um ein gegenseitiges Verständnis einzusetzen“, sagte Averintsev in seiner Ansprache anlässlich der Verleihung des „Senator Giovanni Agnelli“-Preises, den er im Februar 2001 erhalten hatte. Gegenseitiges Verständnis durfte für ihn keineswegs „Uniformität“ bedeuten, sondern „Einheit in der Verschiedenheit“. Und was das Zentrum dieser Einheit war, bekräftigte er bei der Eröffnung der Ausstellung antiker russischer Ikonen 1999 im Vatikan, Sophia. La Sapienza di Dio, vor den hohen katholischen und orthodoxen Würdenträgern, die zu dieser Gelegenheit zusammengekommen waren: „Je sachlicher wir die Realität unserer Zeit betrachten, umso offensichtlicher wird unsere Pflicht, miteinander die Wahrheit vom Kreuz zu bekennen, um es mit den Worten der Enzyklika Ut unum sint zu sagen“ (Averintsev 1999, S. 7).
Die größte Bedrohung unserer Zeit lag für Averintsev in der Gefahr eines „religiösen Totalitarismus“, der sich – im Unterschied zu dem atheistischen – weniger offen gegen den Glauben stellt, sondern ihn vielmehr in „Ideologie“ verwandelt, in ein Machtwerkzeug, und damit jene „primäre Identität“ leugnet, die ihm wesenseigen ist: „Es ist von wesentlicher Bedeutung, daß der Glaube nicht als Werkzeug für die Umsetzung von Heilsprojekten verstanden wird.... Projekten der globalen Zivilisierung, usw... Der Glaube kann uns und unsere Welt nur dann retten, wenn es sich um wahren Glauben handelt, und nicht um eine unbekannte Energiequelle im Dienst eines Utopieprojekts“ (Averintsev 1989, S. 109).
Mit Johannes Paul II. bei der Audienz für die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften (2. Mai 2003).
„Wenigstens einmal am Tag müßte man es wiederholen: Resurrexit sicut dixit!“ sagte er, mit Blick auf die Kuppel von St. Peter, zu Herbert Schambeck, einem Kollegen der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, dem er vor der Casa Santa Marta begegnet war, kurz vor der letzten Sitzung, an der er teilnahm. Victor Gaidkuk, namhafter Repräsentant der russischen Intellighenzia und Übersetzer der ersten Werke Averintsevs ins Italienische, war von einem der ersten Nachrufe auf seinen Freund so beeindruckt, daß er ihn spontan ins Italienische übersetzen wollte: dem, der am 25. Februar in der Novye Izvestia erschienen war. Und in dem der Autor in seinem Ehrerweis an den Philologen Averintsev diesen als „Mann eines anderen Glaubens“ bezeichnete. „Nämlich dem Glauben, den nur unsere Kinder haben können.“ In paradisum deducant te angeli, Sergej Sergejevic!“ lautete der Titel, den Michail Pozdnyaev dem Nachruf auf den großen russischen Denker geben wollte.
ZITIERTE TEXTE
1. S. Averintsev, Die Solidarität in dem verfemten Gott. Erfahrungen der Sowjetjahre als Mahnung für Gegenwart und Zukunft , Tübingen 1996.
2. S. Averintsev, Poetika rannevizantijskoj literatury, Moskau 1977; it.Ü.: L’anima e lo specchio. L’universo della poetica bizantina, Bologna 1988.
3. S. Averintsev, La Russia e la „cristianità europea“ , Ansprache zur Verleihung des „Senator Giovanni Agnelli“-Preises, Turin 2001.
4. S. Averintsev, La Sapienza di Dio ha costruito una casa (Pr 9,1) per la dimora di Dio stesso tra noi: il concetto di Sofia e il significato dell’icona in: Sophia. La Sapienza di Dio, herausgegeben von Giuseppina Cardillo Azzaro und Pierluca Azzaro, Mailand 1999.
5. S. Averintsev, Sophia. La Sapienza di Dio. Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Sophia. La Sapienza di Dio“, Braccio di Carlo Magno, Vatikanstadt 1999.
6. S. Averintsev, Cose attuali, cose eterne. La Russia d’oggi e la cultura europea, Mailand 1989.
7. S. Averintsev, Atene e Gerusalemme. Contrapposizione e incontro di due principi creativi, Rom 1994.
8. S. Averintsev, Poety, Mosca 1996; tr. Ü.: Dieci poeti. Ritratti e destini. Mit einem Nachwort von Sergio Rapetti, Mailand 2001.
9. G. Mattei, Un respiro a due polmoni, in: L’Osservatore Romano vom 7. März 2004.
10. M. Pozdnyaev, In memoriam Serguei Averintsev. In paradisum deducant te angeli, Sergej Sergeejvich, in Novye Izvestia vom 25. Februar 2004, aus dem Russischen übersetzt von Victor Gaiduk.
11. La spiritualità dell’Europa orientale e il suo contributo alla formazione della nuova identità europea, Vortrag in der Sala Zuccari des Palazzo Giustiniani, Rom, am 25. März 2003 im Rahmen des Zyklus zum Thema „Die Philosophie Europas“.