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GESCHICHTE
Aus Nr. 05 - 2004

Die Kraft des wehrlosen Papstes


Ein Kommentar zu dem Buch von Gérard Pelletier über Theologie und Politik des Hl. Stuhls der französischen Revolution gegenüber. Aus den Wirren der Zeit des ausklingenden 18. Jahrhunderts ging das Papsttum gedemütigt hervor, verletzt, aber im Grunde auch gestärkt. Diese Jahre sollten die großen Themen des Katholizismus des 20. Jahrhunderts beeinflussen, wie die Beziehung zu den autoritären Regimen und den Revolutionen, die Religionsfreiheit und die Rolle des Episkopats.


von Andrea Riccardi


Die Bullen des 18. Jahrhunderts, Holzschnitt eines unbekannten Meisters, Carnavalet Museum, Paris. Frankreich, gestärkt durch die Erklärung der Menschenrechte, schickt die päpstlichen Bullen an den Absender zurück. Mit der französischen Revolution steht in den Karikaturen nicht mehr das althergebrachte Bild vom Papst-Antichrist im Vordergrund, sondern die Ohnmächtigkeit des Papstes den Nationen gegenüber.

Die Bullen des 18. Jahrhunderts, Holzschnitt eines unbekannten Meisters, Carnavalet Museum, Paris. Frankreich, gestärkt durch die Erklärung der Menschenrechte, schickt die päpstlichen Bullen an den Absender zurück. Mit der französischen Revolution steht in den Karikaturen nicht mehr das althergebrachte Bild vom Papst-Antichrist im Vordergrund, sondern die Ohnmächtigkeit des Papstes den Nationen gegenüber.

Vor der Besprechung des Buches von Gérard Pelletier gilt mein Dank dem Botschafter von Frankreich, der es mir – durch unsere lange Freundschaft – fast schon zur Pflicht gemacht hat, dieses Buch vorzustellen. Ja, eine Pflicht, denn mir war sehr wohl klar, daß ich mich mit der zu behandelnden Epoche nie eingehend befaßt hatte, in einem so monumentalen Thema eigentlich gar keine Sachkompetenz besaß. Beim Lesen des Buches konnte ich dann aber schnell feststellen, daß die Haltung Roms zu den 10 Jahren der französischen Revolution, von 1789 bis 1799, alle „meine“ Themen enthielt: jene, auf die ich gestoßen war, als ich mich mit dem 19. Jahrhundert befasste, die, die Msgr. Maret aufgeworfen hatte (zitiert am Ende von Pelletiers Buch zum Thema des Problems der Beziehung zwischen Glauben und Freiheit); jene, die beim I. Vatikanischen Konzil über den Primat und den Episkopat angegangen wurden; die großen Fragen des Katholizismus des 20. Jahrhunderts, seine Beziehung zu den autoritären Regimen, Kommunismus und Revolutionen, bis hin zu den Themen des II. Vatikanischen Konzils, Religionsfreiheit und Rolle des Episkopats. Einige dieser Probleme gehen auf eine Zeit lange vor der Krise Ende des 18. Jahrhunderts zurück (denken wir nur an den Gallikanismus), aber sie alle ranken sich um die Revolutionsereignisse, die den Staat der Kirche, den Bürgern, ihrer Freiheit und ihrem Gehorsam gegenüber eine neue Haltung annehmen lassen. In diesem Buch ist das Echo der großen Schwäche des Katholizismus und des Papsttums des ausklingenden 18. Jahrhunderts zu vernehmen. Das eines Rom, das das große universalistische Netzwerk der Gesellschaft Jesu verloren hat; die Päpste – zumindest die des 2. Jahrtausends – benötigen nämlich nicht nur eine Beziehung zu den Episkopaten, sondern auch eine feinverzweigte Verbindung zur gesamten katholischen Welt.
Die erste wichtige Errungenschaft des Buches von Gérard Pelletier liegt gerade in der Beziehung zwischen Geschichte und Theologie. Die Geschichte der Beziehung der beiden Wissenschaften reicht weit in die Vergangenheit zurück, und war geprägt von der Debatte um die Frage, wem denn nun der Primat zustünde: einer theologischen Geschichte, Magd der Theologie, oder einer Geschichte, die Kirche und Christentum außerhalb ihrer theologischen Dimension betrachtet? Mit großer Sachlichkeit schreibt Pelletier Kirchengeschichte, zeigt aber auch, daß diese nicht nachgezeichnet werden kann ohne das Wissen um die theologische Dimension der kirchlichen Entscheidungen. Die Beschäftigung mit den Versammlungen der Kardinalskongregationen in den Revolutionsjahren in Rom zeigt, daß deren Debatten nicht rein pragmatischer Natur waren, sondern Facetten und Ausrichtungen theologischer Natur hatten. Ein Teil des Buches ist den theologischen Ursprüngen des Bruches gewidmet, bzw, der Bekräftigung des römischen Primats im Bezug auf die jurisdiktionalistischen Strömungen, deren Urheber, einer nach dem anderen, vorgestellt werden: von Kardinal Roberto Bellarmi bis Edmond Richer, über Pietro Tamburini, Abt Nicolas Sylvestre Bergier, Durand de Maillane, bis hin zu Ermanno Domenico Cristianopulo, Francesco Maria Zaccaria, Gianvincenzo Bolgeni, zum Giornale Ecclesiastico di Roma (wahres theologisches und kirchliches Propagandawerkzeug jener Zeit, wie es, nach dem II. Vatikanischen Konzil, Concilium, oder die von Kardinal Siri herausgegebene Zeitschrift, Renovatio, waren), bis hin zu Nicola Spedalieri, Theologe der auf Thomismen gegründeten Menschenrechte, ganz nach dem Geschmack von Blandine Kriegel. Man könnte die Galerie der Denker beliebig fortsetzen, denen wir auf diesen Seiten begegnen, um beim – nicht von vielen erwünschten, aber von der Geschichte veranlaßten – Sieg jenes Mannes aus Camaldoli anzulangen (nicht aus den Reihen der Eremiten der Toskana, die ein hartes asketisches Leben an den Hängen des Appennin führten, sondern denen der Kultur sehr aufgeschlossenen, in dem herrlichen Kloster San Gregorio am Celio von Rom angesiedelten Zönobiten), Mauro Cappellari, späterer Gregor XVI. Sein Triumph war nicht seine Wahl (selten wurde in den vergangenen Jahrhunderten ein Papst mit einem so festen ekklesiologischen Denken gewählt), sondern vielmehr sein großes Werk, das Pelletier mit Feingefühl analysiert: Der Sieg des Hl. Stuhls und der Kirche gegen die Angriffe der mit eigenen Waffen bekämpften und zurückgedrängten Erneuerer. Ein grundlegender Text, was die Evolution nicht nur des ekklesiologischen Denkens angeht, sondern der Haltung der Kirche der Welt des 19. Jahrhunderts gegenüber: also jener Intransigenz, die ihr Hauptmerkmal ist (meiner Meinung nach darf man sich nicht scheuen, diesen Begriff zu benutzen, der die Grundhaltung der Kirche der politischen Modernität des 19. Jahrhunderts gegenüber widerspiegelt). In erster Linie eine Intransigenz den Mächten und den liberalen Regimen gegenüber, die bewirkt, daß sich die Kirche in sich selbst zurückzieht, sich einigelt in ihre grandiose Einsamkeit und ihr missionarisches Bestreben, das einer „Kirche als Bewegung“ (wie von Robert de Lamennais gewollt, und überdies von Papst Cappellari verurteilt). Man sollte darauf verweisen, daß das Pontifikat von Gregor XVI. einen missionarischen Aufschwung bedeutete und auch nicht vergessen, daß mit Pius IX. die Grundlagen der Intransigenz gelegt wurden.
Napoleon zwingt Pius VI. den Frieden von Tolentino auf (19. Februar 1797), der den endgültigen Verlust Avignons und Venaissins bedeutet

Napoleon zwingt Pius VI. den Frieden von Tolentino auf (19. Februar 1797), der den endgültigen Verlust Avignons und Venaissins bedeutet

Aber wir befinden uns chronologisch außerhalb der 10 Jahre, mit denen sich unser Autor befaßt. Dennoch bin ich davon überzeugt, daß im Laufe dieses Jahrzehnts über alte und zugleich so aktuelle Probleme debattiert wird, wie beispielsweise „Primat-Episkopat“, als auch über neue Probleme wie das der Beziehung zwischen weltlicher Macht und Kirche, auch in den totalitären Aspekten jener Macht, oder die des Lebens der Kirche außerhalb der Christenheit. Darüber hinaus sind die Menschen der beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts von der Tatsache betroffen, daß da etwas in Gang geraten ist: „Nicht nur im kirchlichen Bereich, sondern auch im politischen werden wir von einer merkwürdigen Revolution bedroht,“ schreibt Zaccaria im Jahr 1789. Man könnte sagen, daß das Buch das Drumherum um diesen Prozess beschreibt, repräsentiert durch das Erkennen des Phänomens der französischen Revolution, dem das Erkennen des allgemeineren Phänomens der Revolution in der Zeitgeschichte zugrunde liegt. Hier reift das in der Folge von den Päpsten des 20., aber im Grunde schon des 19. Jahrhunderts mit Scharfsinn ausgedrückte Bewußtsein, daß Welt und Kirche sich von Kriegen und Revolutionen nichts Gutes zu erwarten haben. Hier liegen die Wurzeln der Friedensbotschaften der Päpste des 20. Jahrhunderts, aber auch die des antirevolutionären Denkens des Katholizismus des 19. Jahrhunderts, das, besonders in jüngster Zeit, dazu führte, daß man die friedliche Lösung (wie beispielsweise die polnische von 1989 oder die chilenische nach Pinochet) von Revolutions-Prozessen theoretisierte.
Soll Pius VI. die den Franzosen die Stirn bietende italienische Liga segnen? Welche Haltung soll in Sachen christlicher Revolte der Vandée eingenommen werden? Hier stellt sich ein Problem, das das Christentum der vorausgegangenen Jahrzehnte auf eine andere Art gelöst, damals manchmal die Truppen gesegnet hatte. Darf sich die Kirche auch mit Waffengewalt verteidigen? Und was soll man schließlich, im 20. Jahrhundert, zu den mexikanischen cristeros sagen? Oder zu damals, als Hitler dem Hl. Stuhl den Vorschlag machte, den Krieg gegen Sowjetrußland als einen Kreuzzug zu betrachten, der zur Verteidigung der christlichen Zivilisation gegen den Feind des Katholizismus geführt wird, bzw. jenen mehrfach von den Päpsten verurteilten Kommunismus? Auch die Betrachtungen, die das Giornale Ecclesiastico di Roma zur französischen Revolution anstellt, lassen in der römischen Kirche allmählich das Bewußtsein erwachen, daß die Welt aus Revolutionen schlechter hervorgeht als sie zuvor war. Der Olivetaner Agostino schreibt, daß „jeder Bürgerkrieg gefährlicher ist als jegliche ungerechte Regierung“, und schließt, einen Satz von François Pey zitierend: „Die Revolte beginnt immer mit dem Ruf nach Freiheit und endet mit der Knechtschaft“. Etwas ähnliches findet sich auch bei Paul VI. und Johannes Paul II. Dazu kommt noch der Gedanke des Komplotts gegen die Kirche, an dem Einheiten teilnehmen, die untereinander keine Bindung haben, und das ein Modell bleibt, in das man im 19. Jahrhundert schließlich auch die Kommunisten miteinbezieht: das Komplott von Bourg-Fontaine.
Dieses Buch ist auch die Geschichte eines Pontifikats, dem bisher längsten, dem des aus Cesena in der Romagna stammenden Pius VI., der mittels einer aufmerksamen Analyse seiner Kurie studiert wird. Hinzugefügt werden, nie geschriebene, Seiten an die ideale Geschichte der römischen Kurie, die bereits Giuseppe De Luca als eine der Lücken der Kirchengeschichte seiner Zeit betrachtete, und die auch eine solche geblieben ist (wenn auch mit Verweis darauf, daß die École Française von Rom, unter Mitarbeit von Jean-Dominique Durand und meiner Wenigkeit, mit der Studie des Staatssekretariats über das Ende der weltlichen Macht der Päpste einen Beitrag dazu geleistet hat). Von den vielen Dingen, die in dem Buch Pelletiers über diesen außergewöhnlichen Pius VI. gesagt werden, möchte ich nur eines herausstellen: die Beziehung zwischen dem Papst und den Völkern. Nach der Revolution ist das Papsttum in seiner weltlichen Macht geschmälert (schon durch den Verlust von Avignon), gleichzeitig aber auch mit dem Hauch des Martyriums umgeben. Seine Vertreter, mit all ihren Leidensgeschichten, sind nicht länger anonyme Glieder einer langen Kette aufeinanderfolgender Päpste, sondern Männer, die alle ihre eigene, schmerzensreiche Geschichte haben.
Die Abreise Pius’ VI. nach Siena, Gemälde in den Vatikanischen Museen. Am 15. Februar 1798 ziehen die französischen Truppen in Rom ein und rufen die Römische Republik aus.  Der Papst ist gezwungen, zu fliehen, erst nach Siena, dann in die Kartause von San Casciano, bei Florenz, und schließlich nach Valence, wo er am 29. August 1799 stirbt.

Die Abreise Pius’ VI. nach Siena, Gemälde in den Vatikanischen Museen. Am 15. Februar 1798 ziehen die französischen Truppen in Rom ein und rufen die Römische Republik aus. Der Papst ist gezwungen, zu fliehen, erst nach Siena, dann in die Kartause von San Casciano, bei Florenz, und schließlich nach Valence, wo er am 29. August 1799 stirbt.

Pius VI. beginnt damit, über seine Staatsgrenzen hinaus Reisen zu unternehmen: er kommt bis nach Wien, wo er das Volk verblüfft und zeigt, daß das Vorurteil, nach dem der Papst nur ein Bischof wie alle anderen ist, bei den Menschen bei weitem nicht so verwurzelt ist wie man meint. Und dann, nach der Demütigung des Gefängnisaufenthaltes, wird er, alt und gebrechlich, noch nach Valence geschleppt, wo er stirbt. Pius VII. erleidet durch Napoleon ein schweres Schicksal, doch der Tod von Pius VI. ist es, der eine Wende im Papsttum bezeichnet. Die Welt der Katholiken steht dem Papst und seinem Leiden nicht gleichgültig gegenüber. Keine europäische Macht, nicht einmal Hitler (der nicht nur die Auswirkungen auf die öffentliche Meinung der Alliierten fürchtete, sondern auch die der deutschen Katholiken), sollte es jemals wieder wagen, den Papst so zu behandeln, wie es die neuen „Führer“ des Revolutions-Frankreich taten.
Reisen und Leiden von Pius VI. bleiben nicht ohne Folgen für die Politik der Päpste. So schließt unser Autor zu recht: „Nach der Reise des Papstes nach Wien, wurde man sich in Rom dessen bewußt, daß man, was die Bekräftigung der päpstlichen Autorität anging, mehr auf die Unterstützung des Volkes zählen konnte als auf die Politik der Herrscher.“ Gewiß, es war kein deutlich ausgeformtes, sondern ein noch auf ziemlich wackligen Beinen stehendes Bewußtsein. Aber dennoch eines, das jene Intuition repräsentiert, die Abt Lamennais so nachdrücklich verfocht: „Gott und Volk“, oder, wem das lieber ist: „Gott und Freiheit“. Das sind die zwei neuen Säulen der Kirche Monarchien gegenüber, die nicht die christlichen Interessen verfolgen, und angesichts der neuen weltlichen und liberalen Mächte. Hier haben wir die Intuition der „Kirche als Bewegung“ der neuen Zeiten.
Man muß sich allerdings vorsehen, daß die neuen Ideen nicht dazu führen, die alten abzulegen, darauf achten, daß die neuen Strategien Seite an Seite mit alten Werkzeugen existieren können – in diesem großen Apparat der Politik und des Denkens, das der Hl. Stuhl ist, in dem sich Neuheiten Seite an Seite mit einer offensichtlichen Kontinuität aufdrängen. In Rom, auch im Rom von Pius VI., und sogar unter dem Druck der Revolutionsereignisse, werden Probleme, Ideen, Theologie und Politik diskutiert. Die Beschlüsse des Papstes bedürfen theologischer Rechtfertigungen, weil Rom keine Diktatur ist. Wenn auch die Frage – und genau das wird in dieser Studie demonstriert – offen bleibt, was die Regierungsform der katholischen Kirche nun eigentlich ist: eine Monarchie, eine von einer Aristokratie gemäßigte Monarchie, eine Republik wie die von Venedig, eine Demokratie, usw. Seit den Zeiten von Vraie et fausse réforme de l’Église, nahm Pater Yves Congar wahr (und Pelletier greift diesen Gedanken wieder auf), daß es der Kirche nicht besonders gut gelingen will, sich selbst zu definieren und sich all dessen bewußt zu werden, was sie in sich trägt. Oft muß sich die Kirche, um sich selbst verstehen und definieren zu können, mit dem Rest der Welt messen, und dieser Vergleich – das zeigt das untersuchte Jahrzehnt ganz deutlich – ist manchmal mehr als dramatisch.
Die Unterzeichnung des Konkordats zwischen Frankreich und Hl. Stuhl, Gemälde von Jean-Baptiste Wicar, Versailler Museum. Nach dem Untergang der Römischen Republik, am 29. September 1799, kehrt Pius VII. – Russen und Österreicher sind auf dem Vormarsch – nach Rom zurück und unterzeichnet am 15. Juli 1801 das Konkordat, mit dem der Frieden zwischen der Kirche und Frankreich besiegelt wird.

Die Unterzeichnung des Konkordats zwischen Frankreich und Hl. Stuhl, Gemälde von Jean-Baptiste Wicar, Versailler Museum. Nach dem Untergang der Römischen Republik, am 29. September 1799, kehrt Pius VII. – Russen und Österreicher sind auf dem Vormarsch – nach Rom zurück und unterzeichnet am 15. Juli 1801 das Konkordat, mit dem der Frieden zwischen der Kirche und Frankreich besiegelt wird.

Ich könnte noch zahlreiche andere Denkanstöße aufzählen, die mir die Lektüre dieses Buches gibt. Einerseits scheint es mir der Rede wert, die Beziehung zwischen denen zu betonen, die die Macht des Staates über die Gesellschaft mit der Wiederaufnahme der gallikanischen Theorien und der Sehnsucht nach der Urkirche bekräftigen wollen. Aber ist der Gebrauch der Bibel – man könnte sagen, des Neuen Testaments – der einer ewigen Verfassung der Kirche oder, repräsentiert es im Gegenteil – und das ist etwas noch viel Größeres – dieses Wort Gottes, das zu den Herzen der Gläubigen der Kirche spricht und sich dort ausbreitet (wie der Papst von Rom Gregor der Große zu sagen pflegte)? Daher also der ewige Gebrauch des Neuen Testaments und der Apostelgeschichte als polemisches oder reformatorisches Instrument im Leben der Kirche. Es gibt aber auch eine geschichtsgebundene Entwicklung im Selbstbewußtsein der Kirche.
Ich möchte auch noch anfügen, daß einem bei der Betrachtung der Befindlichkeit der französischen Kirche „non assermentée“ (die sich nicht der zivilen Macht beugt), die damals ein Untergrund-Dasein führen mußte, die Erfahrung der Katholiken im antikatholischen Großbritannien einfällt (so daß sich Propaganda Fide mit dem Frankreich der Revolution sogar wie mit Missionsland befaßt). Es gab die ungelösten Probleme eines Untergrund-Katholizismus, und unterschiedliche Ansichten zum Staat und seinen Einrichtungen. Es ist kein Zufall, wenn der strenge Prälat Jacques André Emery, Sulpizianer und Bezugspunkt eines Großteils des französischen Klerus, eine sehr gemäßigte Position einnimmt und mehr zählt als die Bischöfe.
Es gibt Probleme, denen wir auch im Katholizismus des sowjetischen Rußland und der östlichen Länder wieder begegnen, in der Untergrundkirche in der Tschechoslowakei und im katholischen Leben des ukrainischen Galizien des 20. Jahrhunderts, und Fragen derselben Natur – warum kommt es, wie in Frankreich, zu einer Spaltung zwischen konstitutioneller Kirche und Untergrund-Kirche –, die noch heute in China zwischen dem sogenannten patriotischen und dem Untergrund-Katholizismus offen sind (ich spreche in dem Bewußtsein davon, daß es sich nicht um zwei Welten, sondern um mehrere Welten handelt). Rom ist mit dem französischen Klerus, der sich dem Diktat des Staates nicht beugt, und zwar nicht nur in Sachen Eidesschwüre, sondern auch Regeln des Funktionierens der Kirche und der Bischofsweihen. Vielleicht war Rom strenger mit dem nahen Frankreich des 18. Jahrhunderts als mit dem fernen China des 20. Jahrhunderts, zumindest in den letzten Jahren. Man darf auch nicht vergessen, daß die neue französische Kirche, die Pius’ VII. und des Konkordats, die Mutter des großen französischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts, Erbin all dieses Leids sein, aber eben auch den Beginn einer dritten Realität, neben den Untergründlern und den „Konstitutionellen“, darstellen sollte. Eine vom Primat Roms und seiner schöpferischen und diplomatischen Aktion geprägte Realität, da die Revolution u.a. den Gallikanismus unter sich begräbt.
Die Krönung von Napoleon vor Papst Pius VII., Gemälde von Jacques-Louis David, Louvre, Paris. Nach seiner Wahl durch Volksenscheid lädt Napoleon Pius VII. zur Krönung ein. Die Zeremonie findet am 2. Dezember 1804 in Notre-Dame statt; Napoleon setzt sich dabei, in Anwesenheit des Papstes, selbst die Krone auf.

Die Krönung von Napoleon vor Papst Pius VII., Gemälde von Jacques-Louis David, Louvre, Paris. Nach seiner Wahl durch Volksenscheid lädt Napoleon Pius VII. zur Krönung ein. Die Zeremonie findet am 2. Dezember 1804 in Notre-Dame statt; Napoleon setzt sich dabei, in Anwesenheit des Papstes, selbst die Krone auf.

Ich teile die Schlußfolgerung von Gérard Pelletier, die ich mir zu zitieren erlaube: „Im Sterben liegend, von den Mächten verlassen, die – wie Karl IV. – immer noch versuchen, die Situation auszunutzen, macht Pius VI. den Feind aus und öffnet einen neuen Raum der Freiheit, dessen sich seine Zeitgenossen fast nicht bewußt waren, mit Ausnahme, zweifellos, eines Consalvi –, der erfaßte, daß man inzwischen mit allen verhandeln und die Situation geschickt manipulieren muß, um ein Land gegen das andere aufzubringen – oder eines Chiaramonti, der, unmittelbar nach seiner Wahl, ablehnte, sich unter strenger Protektion des Kaisers nach Wien zu begeben. Warum sich dem unterordnen, der es versäumt hat, seinen Vorgänger zu verteidigen? Raum der Freiheit für den päpstlichen Primat, theologisch begründet und definiert, nach und nach von den Gläubigen akzeptiert, die sich 1782 in Scharen in Wien einfinden, 1799 in Valence, 1804 in Paris. Sie haben weder Joseph-Valentin Eybel gelesen, noch Tamburini, noch Auctorem fidei, und auch nicht Cappellari. Aber sie suchen den Segen einer Autorität, in die sie ihr Vertrauen setzen.“
Da ist die lange Geschichte der Kirche, die es mit dem Absolutismus der Staaten und der Politik aufnimmt (deren dem Klerus auferlegter Schwur erst der erste Schritt ist): Aber da ist auch diese Verwurzelung, mit ihren Regeln und Identitäts-Prozessen, des Katholizismus in der Zeitgeschichte, mit einem Raum der Freiheit, der anders beschaffen ist als bei der bürgerlichen Gesellschaft. Andere Ereignisse als in der anglikanischen Welt (mit der Pius VI. wieder Kontakt aufnimmt) oder der orthodoxen Welt (deren Unterstützung, bzw. die der Zarin, Papst Braschi im Kampf gegen die Revolution erbittet). Nicht zufällig bricht die Revolution gerade in Paris aus, in jenem katholischen Frankreich, älteste Tochter der Kirche, in der die gallikanischen und königlichen Werkzeuge des Kampfes gegen Rom geschmiedet wurden, das zugleich aber auch im Herzen des römischen Katholizismus war. Aus den Wirren der Zeit des ausklingenden 18. Jahrhunderts ging das Papsttum gedemütigt hervor, leidend, aber im Grunde auch gestärkt. Pelletier hat uns also ein sehr wichtiges Buch geschenkt, das nicht nur von jenen gelesen sollte, die sich mit der französischen Revolution befassen, sondern von allen, die das Christentum des 19. und 20. Jahrhunderts unter die Lupe nehmen wollen.


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