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LEKTÜRE
Aus Nr. 06/07 - 2004

In parvulis sanctis Ecclesia Christi diffunditur (Augustinus, Enarratio in psalmum 112)

Vorlesungen zur Aktualität des Augustinus


Notizen der dritten Lektion von Don Giacomo Tantardini zum Thema „Augustinus, Zeuge der Tradition.“ - Universität Padua – Akademisches Jahr 2003-2004


von Don Giacomo Tantardini


Ich danke Massimo für die von ihm gemachten Vorschläge, und ganz besonders für die letzte Frage. Es ist nämlich wirklich nur allzu wahr, daß einen eine menschlich anziehende Begegnung, eine menschlich positive Begegnung, auf alles neugierig, für alles aufmerksam macht. Die Angst bewirkt, daß man sich verschließt, die Freude des Herzens dagegen öffnet. Wenn ein Kind Angst hat, verschließt es sich; wenn es froh ist über die tröstliche Gegenwart lieber Menschen, ist es frei, für alles offen. Wenn also Problematik bedeutet, für die gesamte Realität offen zu sein, für jede Begegnung, dann stellt Augustinus ein wundervolles Beispiel dafür dar. Das De civitate Dei war wie ein Buch-Wald, ein immenser Wald, in dem wir auch all die Dinge wiederfinden können, die in jenem Moment Objekt des kulturellen und politischen Dialogs waren.
Das De civitate Dei wird von der Problematik nahegelegt, die sich durch die Tragödie des Jahres 410 stellte, als Rom von den Barbaren des Alarich geplündert wurde. Sehr beeindruckt hat mich, daß Kardinal Ratzinger in seiner Doktorarbeit über Augustinus, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche1, diese Tragödie (denn die Tatsache, daß Rom, die Ewige Stadt, zerstört wurde, war eine Tragödie, nämlich auch für den gesamten religiösen und politischen Begriff von Rom) mit dem ersten großen Anzeichen der Völkerwanderung2 in Zusammenhang stellte. Ratzinger stellt also die Tatsache, daß das ewige Rom in die Hände der Barbaren fiel, mit einem ersten großen Anzeichen eines grandiosen Phänomens in Zusammenhang, das wir vor Augen haben und das alle betrifft, die Völkerwanderung, die auch den europäischen Kontinent betrifft. Ein Hinweis, den ich das nächste Mal gerne wiederaufgreifen werde, weil Ratzinger meiner Meinung nach den (in seiner Arbeit nur als Andeutung vorhandenen) Vorschlag macht, daß es nicht eine Versteifung auf eine eine Kultur oder Zivilisation ist – selbst wenn es eine religiöse ist –, die es ermöglicht, dieses Phänomen mit Hoffnung zu leben. Und auch das scheint mir aktuell zu sein.
Ich möchte jetzt mit der Lesung einer Passage aus De Trinitate beginnen, die ihr bei den Anmerkungen in den Vorlesungstexten der vorherigen Lektion auf S. 16 findet. Es ist wie eine große Prämisse zu den drei einfacheren Passagen, die wir noch lesen werden, und die den Inhalt unserer heutigen Begegnung darstellen. Eine große Prämisse, die ich im Grunde schon das letzte Mal vorgeschlagen hatte. Ich lese euch die Stelle vor, die ich mir zum Ausgangspunkt gemacht habe. „Wenn das, was von Gott trennt, die Endlichkeit, die Äußerlichkeit, der Anschein sind, dann ist die Rückkehr zu Gott eine Askese.“ Wenn das, was von Gott trennt, die Schöpfung als solche ist, als Endlichkeit, dann ist die Rückkehr zu Gott ein Ringen um Läuterung von dieser Endlichkeit. „Wenn dagegen das, was von Gott trennt, eine historische Sünde ist,“ was die christlich-biblische Tradition Ursünde nennt, „kann die Rückkehr zu Gott nur ein historischer Akt des Vergebens sein“.
Hier wird sofort deutlich, daß ersterer ein mühsamer Weg ist, einer, den wenige einschlagen – weil sich die meisten doch mit dem anderen zufriedengeben – und mit Fehlern und Irrtümern vermischt ist. Das sind die drei Feststellungen, die das II. Ökumenische Vatikanische Konzil zur natürlichen Anerkennung der moralischen und religiösen Wahrheiten3 macht. Wenn die Reinigung ein asketisches Bemühen wäre, dann eines von wenigen, weil jemand, der sich um sein täglich Brot sorgen muß, gar nicht erst die Zeit hat, sich mit Dingen wie einem asketischen Streben zu befassen; das wäre langwierig und mühsam, weil es etwas ist, das sich auf das so instabile Bemühen des Menschen gründet; und schließlich könnten wir auch noch in eine Perversion abgleiten, worauf wir noch zurückkommen werden.
Ich lese weiter auf Seite 16 unserer letzten Lektion: „Hierin liegt der ganze Unterschied zwischen Askese oder philosophischer und religiöser Läuterung und Christentum. Wenn nämlich die Schöpfung selbst in ihrem Endlichsein schlecht ist, muß man sich, um vom Bösen frei zu sein, von der Endlichkeit befreien: die Askese, die Läuterung besteht in einem Sich-Befreien von der Endlichkeit, in einem über den Schein hinausgehen“ (hinausgehen ist ein typischer Ausdruck der gnostischen Religiosität4), „in einem Übergang von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit. Wenn die Schöpfung dagegen gut ist…“. Die gesamte Schöpfung ist gut. „Omnis creatura bona“ (1Tim 4,4). Auch der winzigste Moment der Schönheit ist gut. Und gerade, weil er gut ist, ist er Zeichen, Zeugnis / confessio des Schöpfers5. Denken wir nur an das, was Jesus über die Lilien auf dem Feld und die Vögel am Himmel gesagt hat6. Und an folgenden, von Jesus geprägten Satz: „Die Haare auf dem Kopf sind alle gezählt“7. Was gibt es Banaleres als ein Haar auf dem Kopf?
Die Schöpfung ist also gut. Gut, aber verletzt. Denn auch das ist eine Tatsache. Daß das Herz des Menschen gut geschaffen ist, aber der Mensch fern ist von seinem Herzen. Das besagt jene fugitivus cordis sui, die eine der genialsten Ausdrücke des Augustinus8 ist. Der Mensch ist fern von seinem Herzen; das Herz ist gut geschaffen, verlangt nach Schönheit, Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit, aber der Mensch ist fern von seinem Herzen, und läuft daher anderem hinterher.
„Wenn die Schöpfung dagegen gut, aber verletzt ist, muß man einfach nur die Wunde heilen. Und das ist das Christentum.“ Das ist meiner Meinung nach die Mitte dieser ganzen sogenannten kulturellen Angelegenheit, im edlen und hohen Sinne des – von Augustinus geprägten – Wortes. Augustinus, der vom Manichäismus zum Neoplatonismus kam, in den platonischen Büchern eine Möglichkeit der Wahrheit und Befreiung findet, sollte dieses ganze Streben nicht nur als Anmaßung9 definieren, sondern auch nicht zögern, und das werden wir jetzt gleich lesen, diese intellektuelle und spirituelle Askese mit dem Werk des Teufels10 in Zusammenhang zu bringen.
Doch lesen wir jetzt eine Passage aus De Trinitate11. „Haec est vera pax et cum Creatore nostro nobis firma connexio, / Das ist der wahre Frieden, das ist die stabile Gemeinschaft mit unserem Schöpfer, die uns gegeben ist / purgatis et reconciliatis per Mediatorem vitae, / geläutert und versöhnt durch den Mittler des Lebens“. Purificatis et reconciliatis: Läuterung und Versöhnung gehen für Augustinus mit der Möglichkeit einher, glücklich zu sein. Das ist die große Intuition, die Augustinus im Neoplatonismus entdeckt: daß das Glück weder in den Genüssen des Leibes, noch in den Tugenden der Seele liegt, sondern in der Einheit mit dem einzigen Schöpfer, in der Einheit mit dem Einen. Um zu dem Einen zu gelangen, ist – wie die Neoplatoniker meinten – eine intellektuelle und spirituelle Askese notwendig. Weil der Eine fern ist, liegt zwischen dem Einen und dem gefallenen Geschöpf der ganze Raum, in dem die Dämonen wohnen. Und somit muß sich diese Askese an einem bestimmten Punkt angelangt, unweigerlich darin äußern, daß den Göttern Opfer gebracht werden12. Das ist die religiöse Perversion, bei der, so Augustinus, die Platoniker, ja Platon selbst, anlangten13.
Doch lesen wir weiter: „purgatis et reconciliatis per Mediatorem vitae, / geläutert und versöhnt durch den Mittler des Lebens [den Menschen Jesus Christus, wie Paulus sagt14] / sicut maculati et alienati ab eo recesseramus per mediatorem mortis / so wie wir uns zuerst von ihm entfernt hatten, besudelt und entfremdet durch den Mittler des Todes “. Entfremdet bedeutet „von ihm getrennt“, aber es scheint mir doch ein Ausdruck zu sein, den man beibehalten sollte. Der Teufel wird als Mittler des Todes bezeichnet. Erlaubt mir eine kleine Bemerkung am Rande. Auch moderne Theologen haben Augustinus bezichtigt, die Erlösung auf eine derart konkrete Weise zu verstehen, daß sie auf das „merkantile“ Bild der „Rechte des Teufels“ zurückgeführt wird. So als müßte der Erlöser, um dem Teufel sein Opfer, den Menschen, zu entreissen, dem Teufel einen Preis bezahlen. Die Vorstellung, die Augustinus von der Erlösung hat, ist so konkret, daß man ihm vorwirft, diese „Rechte des Teufels“ herauszustellen. Bei Madec befindet sich diesbezüglich ein Satz, der von überraschender Aktualität ist. „Er [Jesus Christus] ist derjenige, der erlöst, auslöst [Redemptor], im konkreten Sinn des Wortes; wer Augustinus lauschte, wurde nicht getäuscht, dachte unmittelbar an die traurige Realität jener Zeit: da gab es Razzien, Handel mit Frauen und Kindern, usw“15. Die Auslösung des Menschen beim Teufel hatte und hat diese Konkretheit. Sie hatten „Razzien, Handel mit Frauen, Kindern, usw.“ vor Augen. Wenn Augustinus vom Teufel als Mittler des Todes spricht, hat er, genau wie wir auch, diese Konkretheit16 vor Augen.
Sicut enim diabolus superbus hominem superbientem perduxit ad mortem, / Wie nämlich der hochmütige Teufel den Menschen, der hochmütig geworden ist, dem Tode zuführte…“. Superbiens intus, sagt Agostino17, der in der Ganzheit hochmütig wurde, ist im Mühen der Askese, hinausgegangen: superbiens intus/ Wie nämlich der hochmütige Teufel den Menschen, der hochmütig geworden ist, dem Tode zuführte, / ita Christus humilis hominem obedientem reduxit ad vitam; / so hat der demütige Christus den ihm gehorchenden Menschen wieder dem Leben zugeführt; / quia sicut ille elatus cecidit et deiecit consentientem, / wie nämlich dieser [der Teufel] aus der Höhe seines Hochmuts den Fall erlebte und den ihm nachgebenden Menschen fallen ließ, / sic iste humiliatus surrexit, / so ist jener [Jesus] von der Demütigung [des Kreuzes] auferstanden [surrexit bedeutet von seiner Demütigung wieder aufgestanden, auferstanden nach dem Tod am Kreuz] / et erexit credentem / und hat den Menschen aufgehoben, der an ihn glaubt. / Quia enim non pervenerat diabolus quo ipse perduxerat / Dennoch ist der Teufel nicht dort angelangt, wohin er den Menschen geführt hatte“. Der Teufel ist nicht tot; da er reiner Geist ist, konnte er nicht sterben; er wurde verurteilt, aber er ist nicht tot. Der Mensch dagegen, der dem Teufel nachgegeben hat, ist auch in seinem Leib tot.
„Mortem quippe spiritus in impietate gestabat / Da er Geist war, trug er den Tod in seiner Bosheit in sich [er ist im Herzen gestorben, lebt nicht länger in der Herrlichkeit des Parardieses] / sed mortem carnis non subierat quia nec indumentum susceperat / hat aber nicht den Tod im Fleische erlitten, da er nicht damit bekleidet war“, er war reiner Geist.
Da der Teufel verurteilt, aber nicht tot war, „magnus homini videbatur princeps in legionibus daemonum / erschien er [der Teufel] dem Menschen als ein großer Anführer [ein großer Mächtiger] inmitten seiner Legionen von Dämonen“: gerade, weil er ihn nicht infolge seiner Sünde gestorben sieht, scheint der Teufel in den Augen des Menschen mächtig zu sein und umgeben von Legionen von Dämonen; „per quos fallaciarum regnum exercet. / durch die [die Dämonen] er seine Herrschaft der Lüge ausübt“.
Wir haben bei unseren Treffen des öfteren das De civitate Dei zitiert, über die Macht des Weltstaates gesprochen. Jede Macht kommt von Gott, pflegt Augustinus, Paulus zitierend (Röm 13,1) zu betonen. Und doch glauben die Menschen, daß man, wenn man die Macht bekommen und auch behalten will, den Teufel bitten muß, weil sie glauben, daß der Teufel viel mit der Karriere und dem Behalten von Ämtern zu tun hat18. Gerade weil er den Teufel nicht tot sieht, betrachtet ihn der Mensch als einen, der Macht hat, der über große Macht verfügt.
Da ist ein recht langer und komplexer Satz. Anfangen muß man mit „Sic hominem“, und dann drei Zeilen weiter unten lesen „subditum tenet“. Wie versklavt der Teufel den Menschen? Hierzu hat es Augustinus (den Satz Madecs wiederholend) „gefallen, die neoplatonische Mittlung [die beiden Seelenreinigungstechniken des Porphyrius19] mit dem Werk des Teufels zu vergleichen“20.
Auch hierzu sei mir eine kleine Randbemerkung gestattet. Ich komme nicht umhin, darauf hinzuweisen, weil mir diese Dinge so aktuell erscheinen. Auf welche Weise reinigt sich der Mensch der Meinung der Neoplatoniker nach? Auf zwei Weisen: auf der Ebene der Intelligenz mit der philosophischen Askese, auf der Ebene der Imagination durch die Magie. In einer überraschend aktuellen Passage des De civitate Dei sagt Augustinus, daß die Magie, wenn sie die armen Leuten praktizieren, Zauberei genannt wird, man sie, wenn sie dagegen von höherstehenden Personen praktiziert wird, als Theurgie bezeichnet, Kultur, könnten wir also sagen. Genau wie heute! Wenn sie von armen Leuten praktiziert wird, ist es schwarze Magie, wenn sie von höherstehenden Personen praktiziert wird, Kultur, sogar Kult21. So stimmt es auch, daß Augustinus in De vera religione einen Satz sagt, dessen ganze tragische Tragweite vielleicht erst in den letzten Jahrzehnten erfaßt worden ist. Er sagt, daß die Menschen, durch die Ursünde, und zwar sowohl jene, welche die Existenz eines einzigen Gottes zugeben als auch die, die das nicht zugeben und die Früchte ihrer eigenen Vorstellungskraft verehren (wenn sie nicht mit der Gnade des Herrn begnadet sind, wenn sie nicht darum bitten, in der Gnade des Herrn zu bleiben22), ob sie also nun die Existenz Gottes zugeben oder nicht, Sklaven der Lust (voluptas) werden, des Ehrgeizes (excellentia), der Schaulust (spectaculum). Wir könnten sagen, der Wollust, der Wucher und der Macht23. Dann sagt er noch, daß die Platoniker, also die Religiöseren, die motiviertesten, der Meinung sind, daß diese Laster eines Kultes würdig sind. Genau das sagt er: colenda24. Und das ist die Perversion einer gewissen Religiosität, für die beispielsweise der Ehrgeiz „zu einer perversen Imitation der göttlichen Allmacht wird“25.


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