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DOKUMENT
Aus Nr. 08 - 2004

Unter den Schwesterkirchen möge Liebe herrschen


Die russisch-orthodoxe Kirche vom Konzil des Jahres 1917 bis heute . Die Beziehungen zur Kirche von Rom.


von Andrea Pacini


Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren eine ereignisreiche Zeit für die Religion in Rußland. 1905 trat im russischen Staat zum ersten Mal ein Gesetz über die Religionsfreiheit in Kraft, mit dem folglich auch die Gewissensfreiheit für die Untertanen des Imperiums und die Organisationsfreiheit für die verschiedenen religiösen Konfessionen gewährleistet war. Das Gesetz zur Religionstoleranz ermöglichte beispielsweise, daß die „Kirchen der Altgläubigen“ an die Öffentlichkeit treten konnten. Bisher waren sie zu einem Schattendasein verurteilt gewesen, – und das, obwohl ihre Gemeinschaften zahlenmäßig keineswegs unbedeutend waren. Das Gesetz verbesserte auch die Situation der katholischen Kirche, deren Jurisdiktion in der Metropolie Mohilew (mit Sitz in Sankt Petersburg) bestand, zu der die folgenden fünf Suffragandiözesen gehörten: Samoghizia, Lutzk-Zhitomir, Wilna und Tirasapol mit Sitz in Saratow. Die Kirchenprovinz war die größte der Welt der katholischen Kirche und umfaßte drei Viertel des europäischen Rußland und des gesamten asiatischen Rußland. Laut Diözesan-Statistiken von 1910 hatte die Erzdiözese 28 Dekanate, 245 Pfarreien, 399 Priester und insgesamt 1.023.347 katholische Gläubige. In Sankt Petersburg besuchten 58 Studenten die katholische theologische Akademie und 122 Seminaristen das Priesterseminar (wo sie Kurse in Propädeutik, Philosophie und Theologie belegten)1.
Johannes Paul II. und Kardinal Lubomyr Husar (Kiew, Juni 2001)

Johannes Paul II. und Kardinal Lubomyr Husar (Kiew, Juni 2001)

Unter dem positiven Einfluß des neuen politisch-kulturellen Klimas bat die russisch-orthodoxe Kirche den Zar im Jahr 1905 um die Einberufung eines Konzils, bei dem eine ganze Reihe von Fragen um ihre Beziehungen zum Staat und ihre Innenreform behandelt werden sollten. Das Ansuchen wurde abgelehnt – und so konnte es erst 1917, nach der Oktoberrevolution, zur Einberufung des Konzils2 kommen. Bei diesem Konzil wurden einige überaus wichtige Entscheidungen getroffen: nach fast zwei Jahrhunderten – bzw. seit der kirchlichen Regelung von Peter dem Großen im Jahr 1721, die vorsah, daß (das Patriarchat einmal abgeschafft) ein vom Herrscher ernannter Laien-Prokurator den Vorsitz über den Heiligen Synod führte – wurde das Patriarchat wieder eingeführt, der Metropolit Tichon zum neuen Patriarchen gewählt und die orthodoxe Kirche so dem direkten Einfluß des Staates entzogen. Darüber hinaus wurden neue Statuten ausgearbeitet, die sich auf die Organisation der Kirche bezogen und eindeutig auf die Synodalität gegründet waren. Auch über Reformen wurde diskutiert und zahlreiche Möglichkeiten in Betracht gezogen, wie man die Pastoral den modernen Zeiten anpassen könnte.
Diese Zeit eines „neuen Frühlings“ für die orthodoxe Kirche war jedoch nur von kurzer Dauer: schon 1918 wurde sie von den neuen Gesetzen Lenins abgewürgt, die alle Kirchen Russlands der Rechtspersönlichkeit beraubten, es ihnen also unmöglich machte, in der Gesellschaft zu wirken, auch auf Katechese-Ebene. Und so begann die marxistische Politik aggressiver Feindseligkeit der Religion gegenüber, die dem Land die mehrere Jahrzehnte dauernde Verfolgung der Kirche und der Gläubigen bescheren sollte. 1925 starb Patriarch Tichon, und es war nicht erlaubt, einen Nachfolger für die Rolle des Patriarchen zu wählen. An die Leitung der Kirche trat nun Metropolit Sergej, der das Amt des patriachalen locum tenens übernahm (nach der Deportation und Hinrichtung des ersten gewählten locum tenens, des Metropoliten Peter Poliansky). Obwohl Metropolit Sergej die Legitimität des sowjetischen Regimes anerkannt hatte, um sich sein Überleben in der Kirche zu sichern (1930 ging er sogar soweit, die Evidenz der Verfolgungen öffentlich zu leugnen), bezeichnete die sowjetische Epoche den Beginn einer tragischen Phase. Im Zeitraum von 1918 bis 1943 rissen die Verfolgungen der Kirche nicht ab. Die orthodoxe Kirche wurde fast vollkommen ausgelöscht. Im Jahr 1922 begann man mit der Konfiszierung von Kultstätten und den Massenprozessen gegen die Mitglieder des Klerus und die Gläubigen aller Kirchen. Bischöfe, Priester, Mönche und Laien wurden in die Gulags deportiert. Verfolgungen, die Zerstörung von Klöstern und Kirchen waren an der Tagesordnung: im Jahr 1939 hatte die russisch-orthodoxe Kirche praktisch ihre gesamte hierarchische Struktur verloren. Laut von Dimitri Pospelowsky angestellten Berechnungen verloren ca. 600 Bischöfe und 40.000 orthodoxe Priester in den Jahren 1918 bis 1938 ihr Leben, bzw. 80-85% des Klerus, den es zur Zeit der Revolution gab3. Eine ähnliche Verfolgung mußte auch die katholische Kirche über sich ergehen lassen: 1926 gab es keinen einzigen katholischen Bischof mehr in Rußland, und 1941 waren nur zwei der 1917 mehr als 1200 existierenden Kirchen (vor allem in Litauen) für den Kult geöffnet.
Die Begegnung zwischen Patriarch Alexij II. und Kardinal Walter Kasper (Moskau, 22. Februar 2004); der russische Präsident Putin zeichnet Alexij II. zu dessen 75. Geburtstag für seine Verdienste um das Vaterland aus

Die Begegnung zwischen Patriarch Alexij II. und Kardinal Walter Kasper (Moskau, 22. Februar 2004); der russische Präsident Putin zeichnet Alexij II. zu dessen 75. Geburtstag für seine Verdienste um das Vaterland aus

Die Regierung versuchte, die orthodoxe Kirche auch von innen her zu zerstören, und zwar durch die Förderung interner schismatischer Strömungen und Unterstützung der progressiveren Fraktionen des Klerus und der Gläubigen. Diese Strömungen – deren bekannteste den Namen „lebendige Kirche“ trug – traten jedoch schon bald miteinander in Konkurrenz und kamen so nicht nur wegen der gegenseitigen Rivalität zum Erlöschen, sondern auch wegen der fehlenden Zustimmung seitens des Volkes.
Abgesehen von dem, was man als allzu große Nachgiebigkeit des Metropoliten Sergej betrachtete, kam es in der Kirche auch zu einer starken Opposition gegen seine Autorität und so konnte die in verschiedene Kapellen unterteilte Katakombenkirche entstehen. In der Diaspora entstand dann die russische Emigrationskirche (oder jenseits der Landesgrenzen) durch den Klerus und die russischen Gläubigen, die den Weg des Exils beschritten hatten. Diese Kirche hielt – und hält – sich für die einzige kanonische Erbin des Patriarchats Moskau, da die Hierarchie in Rußland, mit Anerkennung des bolschewistischen Regimes, ihren Status der Kanonizität verloren hätte (und in Häresie gefallen wäre). Dieselben Schwierigkeiten mit einer Hierarchie, die allzu nachgiebig und kompromissbereit war, gab es dann auch mit der russischen Diaspora in Westeuropa, was auch der Grund für die Schaffung einer neuen kirchlichen Jurisdiktion war: dem immer noch existierenden, von Konstantinopel abhängenden russischen Exarchat.
Die Situation in Rußland erfuhr zwischen 1941 – dem Zeitpunkt des Einmarsches der Deutschen – und 1943 eine entscheidende Veränderung. Der Einmarsch der Deutschen in russisches Territorium löste zwei Ereignisse aus, die eine Veränderung in der Beziehung zwischen sowjetischem Staat und orthodoxer Kirche bewirkten. Angesichts der deutschen Invasion appellierte Sergej zur Verteidigung der Nation an den patriotischen Geist des Volkes: Stalin erkannte, daß die Kirche nützlich dafür sein konnte, den Widerstand gegen die Eindringlinge in Gang zu bringen. Gleichzeitig erhielten die Kirchen in den von den Deutschen eroberten Gebieten ihre Kult- und Organisationsfreiheit zurück: Stalin fürchtete, daß dieses Beispiel die orthodoxe Kirche und die Gläubigen veranlassen könnte, nicht im Widerstand zu arbeiten. Diese beiden Gründe bewegten ihn, zu einer neuen Phase in den Beziehungen mit der russisch-orthodoxen Kirche überzugehen. 1943 erkannte Stalin die Rechtspersönlichkeit der orthodoxen Kirche wieder an, gab ihr einen Teil der Kultstätten wieder zurück und genehmigte die Wahl von Metropolit Sergej zum Patriarchen, erlaubt also eine Neuorganisierung, wenn auch nur teilweise und unter strenger staatlicher Kontrolle. Doch gerade die Regionen, die in die Hände der Deutschen gefallen waren, sollten es auch später mit der Kultausübung relativ leicht haben, während die Situation anderswo schwierig blieb.
Nachdem es Stalin 1945 gelungen war, die Invasion der Deutschen abzuwenden, ging er zu einer Konzentration aller auf den neuen sowjetischen Expansionsgebieten existierenden östlichen kirchlichen Strukturen auf das Patriarchat Moskau über, einschließlich der griechisch-katholischen. Die griechisch-katholische Kirche der Ukraine wurde überall unterdrückt und ihre Güter vom Staat eingezogen oder der orthodoxen Kirche einverleibt. Ein Teil des Klerus akzeptierte es, unter starkem Druck, sich in die orthodoxe Kirche zu integrieren (1947 und 1949), ein Großteil des Klerus und der Gläubigen flüchtete sich jedoch in den Untergrund. Man könnte also sagen, daß die Kirchenpolitik Stalins von zwei verschiedenen Haltungen geprägt war: wir haben da auf der einen Seite eine Veränderung der Beziehungen zur orthodoxen Kirche, deren Situation – wenngleich prekär – eine Verbesserung erlebte. Auf der anderen Seite dagegen war eine klare Opposition gegen die griechisch-katholische Kirche festzustellen, die zu ihrer formalen Auslöschung und zu ihrer vollkommenen Unterdrückung auf materieller und pastoraler Ebene führte, gemäß einer Politik, die die Zaren bereits in den vorausgegangenen Jahrhunderten eingeleitet oder einzuleiten versucht hatten, als die von den griechisch-katholischen Gläubigen bewohnten Territorien Teil des Reiches wurden. Die Situation der katholischen Kirche hatte sich also objektiv verschlechtert.
Wenn die Politik Stalins also die ein oder andere Verbesserung für die orthodoxe Kirche bedeutete, so war sie für die griechisch-katholische Kirche destruktiv.
Patriarch Tichon

Patriarch Tichon

Die Atheisierungspolitik ging jedoch weiter, auch zum Leidwesen der russisch-orthodoxen Kirche. Unter Chruschtschow4 war sie besonders stark. Tausende von Kirchen wurden wieder zwangsgeschlossen und der Großteil der acht Seminare und Klöster wurde ausgelöscht. Nach Chruschtschow, in den Siebzigerjahren, ging die starke staatliche Kontrolle der Bischöfe und der Kirche weiter. Sie wurde vom Sowjet-Regime als Propaganda-Werkzeug im Ausland benutzt. Die Kirche mußte öffentlich leugnen, daß es eine Verfolgung gab. Und in diesem Klima wurde die russisch-orthodoxe Kirche 1961 Mitglied des Ökumenischen Kirchenrats5. In den Siebziger- und Achtzigerjahren bildete sich jedoch ein Dissens heraus, der bei den Gläubigen und Priestern auf fruchtbaren Boden fiel. Vor allem intellektuelle Gläubige und Priester machten aus ihrem Dissens keinen Hehl und verbreiteten durch die samizdat Nachrichten über die Realität des sowjetischen Systems und über die Verfolgungen, denen die Kirche ausgesetzt war; die samizdat gelangten auch in den Westen und lösten Solidaritätsbekundungen für die Gläubigen in Rußland aus. Die Folge war eine Verschlimmerung der antireligiösen Kampagne in der Sowjetunion6.
Erst 1987 und 1988, als sich die Tausendjahrfeier der Taufe der Rus jährte, konnte mit Gorbatschow das Ende der Eiszeit beginnen; eine Entwicklung, die dank des allgemeinen Zusammenbruchs der kommunistischen Regime in Europa ungeahnte Fortschritte machte. 1990 wurde das neue Gesetz zur Religionsfreiheit herausgegeben, das allen Konfessionen großzügig das Recht auf Kult- und Organisationsfreiheit zugestand. Das Gesetz wurde dann in den kommenden Jahren mit einschränkenden Änderungen versehen, die vor allem die Missionsaktivität „ausländischer“ religiöser Konfessionen und ihrer Mitglieder beschränken wollten7. Diese Entwicklung hing mit der Furcht zusammen, die sich durch den zunehmenden Religionspluralismus in einige Sektoren der russischen Gesellschaft einschleichen konnte, besonders im Innern der orthodoxen Kirche. Das jüngste Ergebnis dieses Prozesses war die Verabschiedung des neuen Gesetzes zur Religionsfreiheit von 1997, das auf interner und internationaler Ebene wegen der ungleichen Behandlung, die man den verschiedenen religiösen Konfessionen zukommen ließ, heftige Diskussionen ausgelöst hat. Und das nicht zuletzt auch wegen der Beschränkungen, die, wie einige Kritiker meinen, den Mitgliedern von religiösen Gemeinschaften, die seit weniger als 15 Jahren in Rußland vertreten sind, in ihrer freien Ausübung der Religionsfreiheit auferlegt seien.
Es steht außer Zweifel, daß mit den Neunzigerjahren eine neue Periode für die russisch-orthodoxe Kirche begann, die sich durch zwei grundlegende Aspekte auszeichnet: auf der einen Seite wäre da der Aspekt der wiedergefundenen Freiheit, der Entwicklung der eigenen Organisation und der Wiedererlangung einer anerkannten sozio-kulturellen Rolle; auf der anderen drängt sich die Notwendigkeit auf, sich den komplexen Herausforderungen einer sozialen Situation zu stellen, die von einer starken Entchristlichung geprägt ist, von der kulturellen, technologischen und politischen Moderne, und schließlich vom Pluralismus im religiösen Bereich.
Metropolit Sergej. „Angesichts des Einmarsches der Deutschen richtete Metropolit Sergej einen patriotischen Appell zur Verteidigung der Nation an das Volk.“

Metropolit Sergej. „Angesichts des Einmarsches der Deutschen richtete Metropolit Sergej einen patriotischen Appell zur Verteidigung der Nation an das Volk.“

In dieser komplexen Situation entwickelten sich auch die Beziehungen zur katholischen Kirche, die offiziell 1961 begannen, als es das gemeinsame Los aller Kirchen war, Verfolgungen ausgesetzt zu sein. Die Beziehungen zwischen katholischer und orthodoxer Kirche wurden eben gerade in diesem Klima der neu erlangten Freiheit schon Anfang der Neunzigerjahre auf eine harte Probe gestellt. Die von den Katholiken in Rußland betriebene Proselytenmacherei und die Aktivitäten der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine – die ebenfalls 1991 ihre Freiheit und ihre juridische Anerkennung wiedererlangen konnte – sind, laut den wiederholten, offiziellen Erklärungen des Patriarchats Moskau, die beiden „Zankäpfel“, die die Beziehungen der beiden Kirchen strittig machen, die aber in dem komplexen Kontext des kirchlichen, politischen und kulturellen Panoramas Russlands und der angrenzenden Länder gesehen werden müssen, in denen die postsowjetische Übergangsphase unter vielen Aspekten noch im Gange ist.
Wenn man die wesentlichen Züge dieses neuen Panoramas verstehen will, die sich auf die Beziehungen zwischen den Kirchen auswirken, muß man in erster Linie bedenken, daß das Ende der kommunistischen Epoche und die wiedererlangte Freiheit die Art und Weise der Kirchen verändert haben, diese Beziehungen zu leben. Wenn es auch stimmt, daß sich bereits seit Anfang der Sechzigerjahre eine Intensivierung der ökumenischen Beziehungen zwischen russisch-orthodoxer Kirche und katholischer Kirche herauskristallisierte, so ist es doch auch wahr, daß es sich um einen Ökumenismus handelte, der nur die Elite betraf, Spezialisten also (vor allem hochrangige Mitglieder des Klerus), die sich dieser Sache widmeten. Aber der Ökumenismus war keineswegs Allgemeingut des Klerus, schon gar nicht des russischen Volkes. Und wenn die russischen Prälaten auch vor allem zum Vatikan Kontakt hatten, so hatten die katholischen Ökumene-Beauftragten vor allem Kontakt zu jenen orthodoxen Spezialisten, die mit derselben Aufgabe betraut waren, mit dem Ambiente des Patriarchats also. So positiv die Beziehungen auch waren – immerhin mußten alle Kirchen mit der Situation der Verfolgung fertig werden – sie betrafen doch einen recht eingeschränkten Personenkreis.
Was nach 1990 wirklich neu war, war die Tatsache, daß die russisch-orthodoxe Kirche für eine Vielzahl von Beziehungen mit der katholischen Kirche offen war, und zwar sowohl auf russischem Territorium als auch im Ausland, und daß sie nicht nur mit dem Vatikan zu tun hatte, sondern mit der katholischen Kirche und ihren verschiedenen Organismen (Diözesen, religiöse Orden, Pastoralaktivitäten...). Es handelte sich um eine Begegnung mit einer lebendigen Kirche; eine Begegnung, die nicht länger eine Gruppe von Spezialisten betraf, sondern die Gesamtheit des Klerus und der russisch-orthodoxen Bevölkerung. Dasselbe kann man von der katholischen Kirche sagen: sie unterhält nicht länger nur Beziehungen zu der für die ökumenischen Beziehungen zuständigen Abteilung für die äußeren Angelegenheiten der russisch-orthodoxen Kirche, sondern zu einer Kirche, die über eine vielfältige Hierarchie verfügt und einer Bevölkerung, die einer komplexen kulturellen und einer religiösen Dynamik unterworfen ist.
So entstand also eine von vollkommen neuen Merkmalen gekennzeichnete Begegnung, und man darf sich vielleicht nicht wundern, wenn es Probleme gegeben hat. Es ging nämlich darum, sich einer neuen Epoche zu stellen, auf die man sich noch nicht ausreichend vorbereiten konnte.
Die Begegnung wurde dann von der in Rußland in dieser postkommunistischen Übergangsepoche vorherrschenden sozialen und kulturellen Situation noch weiter erschwert: die Gesellschaft ist stark säkularisiert und verfügt oft über keine ausreichenden Wertebezugspunkte, weshalb es auch nicht unüblich ist, daß es in ihrem Innern eine recht individuelle Suche nach religiösen Bezugspunkten gibt, die sich nicht unbedingt auf die Orthodoxie bezieht. Auf der anderen Seite hat das neue Klima der Freiheit bewirkt, daß eine große Bandbreite von Formen kulturellen und religiösen Pluralismus’ entstehen konnten. Die Erkenntnis, daß man es mit einer säkularisierten Gesellschaft zu tun hat, hat verschiedene christliche Gemeinschaften protestantischer Prägung dazu veranlasst, sich in die Evangelisierung Russlands zu stürzen, die gerade wegen der mangelnden religiösen Verwurzelung bei einem Großteil der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiel. Die Zunahme der katholischen Organisationen in Rußland hat beim Patriarchat Moskau die Befürchtung entstehen lassen, daß auch die katholische Kirche solche missionarischen Ziele verfolgt.
Die orthodoxe Kirche befand sich also plötzlich in einer Lage, in der sie sicherlich volle Freiheit genoß, sich aber auch den komplexen Herausforderungen der Moderne und Postmoderne stellen mußte, wie dem kulturellen und religiösen Pluralismus, sowie einer größeren Individualisierung in der religiösen Wahl8.
Iosif Petrowyc, Metropolit von Leningrad, wichtigstes Sprachrohr der Opposition gegen Metropolit Sergej, die von der „Katakombenkirche“ vorangetrieben wurde

Iosif Petrowyc, Metropolit von Leningrad, wichtigstes Sprachrohr der Opposition gegen Metropolit Sergej, die von der „Katakombenkirche“ vorangetrieben wurde

Und komplex gestaltet sich die Beziehung zwischen den Kirchen auch wegen des Umstands, daß man in Rußland nicht von einer ökumenischen Mentalität sprechen kann, wenn das auch nicht heißt, daß man prinzipiell gegen den Ökumenismus wäre. Wir könnten sagen, daß die prinzipielle Opposition nur auf Seiten einer Minderheit besteht und auch die entschiedenen Befürworter nur bei einer Minderheit des Klerus und der Gläubigen zu finden sind. Der Großteil der russisch-orthodoxen Kirche vertritt traditionelle Positionen, im besten Sinne des Wortes: die ökumenische Dimension ist für sie etwas, das in seinen spezifischen Aspekten geklärt und verstanden werden muß9. Das letzte Jahrzehnt spannungsgeladener Beziehungen zur katholischen Kirche in Rußland könnte man als Klärung der Frage sehen, was „ökumenische Beziehungen“ denn im Konkreten nun wirklich bedeutet. Ich glaube, das trifft auf beide Kirchen zu.
Die wichtigsten „Zankäpfel“ der letzten Jahre waren bekanntlich: die ohne Zustimmung der ukrainischen orthodoxen Kirche-Patriarchat Moskau erfolgte Reise des Papstes in die Ukraine im Juni 2001, die Erhebung der beiden apostolischen Vikariate in Rußland zu Diözesen (2002) und schließlich die Schaffung der katholischen Diözesen in Kasachstan (2003).
Diese Reihe von Ereignissen bestätigten einerseits die Entscheidung des Vatikans, eine ordentliche diözesane Jurisdiktion im postsowjetischen Raum zu schaffen, damit für die pastorale Betreuung der katholischen Gläubigen gesorgt ist, wurden andererseits aber vom Patriarchat Moskau als Expansionsinitiativen auf ihr kanonisches Gebiet interpretiert. Wiederholt wurde darauf verwiesen, daß man es versäumt hätte, mit dem Patriarchat diesbezüglich Rücksprache zu halten, was ja wohl ein Widerspruch wäre zu der so oft offiziell bekräftigten gegenseitigen Anerkennung der „Schwesterkirchen“.
Diese letzte Betrachtung ist besonders interessant, weil sie die ökumenische Sicht der russisch-orthodoxen Kirche zeigt: die Bezeichnung „Schwesterkirchen“ wird nämlich auch von den Kirchen der orthodoxen Gemeinschaft untereinander benutzt, die sich nicht selten wegen Fragen der Jurisdiktion in die Haare bekommen (erst kürzlich in Estland, in der Ukraine). Die katholische Kirche zu bezichtigen, sich nicht wie eine „Schwesterkirche“ zu verhalten, bedeutet, sie als solche anzuerkennen und impliziert also auch eine grundlegende ökumenische Perspektive.
Das Problem ist jedoch, daß zwischen katholischer Kirche und russisch-orthodoxer Kirche keine volle Gemeinschaft besteht, weshalb die Bezeichnung „Schwesterkirche“, also nicht dasselbe ist, wenn sie auf die anderen orthodoxen Kirchen oder auf die katholische Kirche angewandt wird. Dieses Fehlen einer vollen Gemeinschaft bringt es nämlich mit sich, daß in ein- und demselben Gebiet parallele kirchliche Jurisdiktionen bestehen. So kommt es, daß die katholische Kirche für ihre Gläubigen in Rußland Diözesen einrichtet, genau wie die russisch-orthodoxe Kirche, die ebenfalls im Ausland – über ihre traditionellen Grenzen hinaus – für ihre Gläubigen Diözesen geschaffen hat.
Die Behördenvertreter des Patriarchats Moskau sind sich dessen bewußt, und wenn sie auf dem Prinzip der „Schwesterkirchen“ beharren, dann beziehen sie sich dabei auf die Art und Weise, wie die Entscheidungen von den katholischen Verantwortlichen getroffen worden sind, und zwar ohne Rücksprache und Miteinbeziehung der Orthodoxen.
Wir haben es hier mit Ereignissen zu tun, die nur schwer zu beurteilen sind, nur schwer analysiert werden können. Ich denke, daß man auf der einen Seite zwar wohl sagen kann, daß es keinen „rechtzeitigen“ Dialog gegeben hat, daß auf der anderen aber die Haltungen beider Parteien Gefahr liefen, zu unerbittlich zu sein.
Wenn man auf der Jurisdiktionsebene bleibt, kommt man jedenfalls nicht weiter, weil alle Kirchen das Recht haben, dort, wo sich – mehr oder weniger zahlreich – ihre Gläubigen befinden, Strukturen für die Pastoral zu errichten.
Patriarch Alexij Simanskij beim Synod vom Oktober 1945, bei dem er den Vorsitz hatte. Nach dem Krieg ging Stalin zu einer toleranteren Religionspolitik über: die Kirchenstruktur wurde wiederhergestellt, und beim Konzil von 1945 wurde Patriarch Alexij Simanskij gewählt

Patriarch Alexij Simanskij beim Synod vom Oktober 1945, bei dem er den Vorsitz hatte. Nach dem Krieg ging Stalin zu einer toleranteren Religionspolitik über: die Kirchenstruktur wurde wiederhergestellt, und beim Konzil von 1945 wurde Patriarch Alexij Simanskij gewählt

Und dann wäre da noch eine andere wichtige Dimension historisch-kultureller (also „althergebrachter“) Art, die unbedingt in Betracht gezogen werden muß, wenn man die Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche in Rußland verstehen will. Die historische Konfliktsituation zwischen Russen und Polen nämlich, die sich in den verschiedenen Nationalismen der beiden Völker niederschlägt, die den „anderen“ mit dem Feind, mit dem, der anders ist, identifizieren. Der Umstand, daß der Großteil des Klerus und der katholischen Gläubigen in Rußland Polen sind, ist ein Element, das die Beziehungen objektiv schwierig gestaltet, weil wir es hier mit einer tiefverwurzelten Rivalität, einem von vornherein bestehenden Misstrauen10 zu tun haben, bei dem Dialog und Vertrauen nur schwer möglich sind.
Wenn man also auch diesen Aspekt in Betracht zieht, der dem Dialog alles andere als zuträglich ist, kommt der Art und Weise, wie die verschiedenen pastoralen Initiativen angegangen werden, eine ganz besondere Bedeutung zu. Es ist kein Zufall, daß Kardinal Kasper bei einem seiner letzten Besuche in Rußland (Februar 2004) mehrfach auf die Notwendigkeit verwiesen hat, aus der theologischen Voraussetzung, die orthodoxe Kirche als eine „Schwesterkirche“ zu betrachten, konkrete Konsequenzen zu ziehen. Der Kardinal hat sowohl bei der in Moskau, im Salon der katholischen Kathedrale gehaltenen Konferenz auf diesen überaus wichtigen und heiklen Punkt hingewiesen (eine Konferenz, die an ein vorwiegend katholisches Publikum gerichtet war), als auch bei seinem privaten Treffen mit Alexij II. Der Umstand, daß Kardinal Kasper bei der öffentlichen Konferenz betont hatte, daß die orthodoxe Kirche als „Schwesterkirche“ anerkennen bedeutet, von Aktionen der Proselytenmacherei abzusehen, ist eine deutliche Aufforderung an die Katholiken, einen anderen Stil in Sachen Beziehungen zum russischen Volk anzunehmen11. Dieser andere Stil könnte sich zumindest darin zeigen, daß man von Aktivitäten absieht, die auf die Evangelisierung von orthodox geprägten Bereichen abzielt. Ein Stil der ökumenischeren Art könnte sich jedoch auch in der Umsetzung von Werken niederschlagen, die beide Seiten gutheißen, zumindest karikativer Art; ein Gebiet, auf dem die katholischen Strukturen überaus aktiv sind. Solche karikative Initiativen könnten sich als überaus wirksam dabei erweisen, Brücken zur Orthodoxie zu schlagen, wenn die katholischen Einrichtungen nicht autonom vorgehen, sondern versuchen, mit den orthodoxen Diözesen gemeinsam zu handeln. Die so gefürchtete Präsenz der religiösen Kongregationen (vom Patriarchat Moskau in einem Bericht vom Sommer 2003 genau aufgelistet und als Beweis für Proselytenmacherei angeführt) sollte wohl in diesem Sinne von einer größeren Sensibilität gekennzeichnet sein. Auf der anderen Seite müsste sich die orthodoxe Kirche auch dessen bewußt sein, daß die karitativen Aktivitäten Ausdruck und Konkretisierung eines gelebten Glaubens sind (das ist in der katholischen Tradition unverkennbar), und nicht sofort als Proselytenmacherei interpretiert werden können.
Voraussetzung dafür, daß es zu einer Ausweitung der Beziehungen kommen kann – also das große, anzugehende Werk – ist dennoch gerade die Verinnerlichung der Kategorie „Schwesterkirche“ seitens der Verantwortlichen in der Hierarchie, des Klerus und der Gläubigen beider Kirchen: grundlegende und unverzichtbare Bedingung dafür, daß das geschehen kann, ist es, der Ebene der Caritas wieder Priorität einzuräumen, die allein uns in der anderen Kirche eine „Schwester“ im Glauben erkennen läßt und ermöglicht, daß diese so oft vom päpstlichen Lehramt bekräftige Anerkennung konkrete Folgen haben kann.
Gerade der Umstand, daß man sich bei den Treffen Kardinal Kaspers mit den hohen Vertretern des Patriarchats Moskau über die Schaffung von gemischten Kommissionen mit der katholischen Kirche zur gemeinsamen Besprechung der Probleme einigte, ist ein deutliches Zeichen einer Entscheidung für den Dialog und die Brüderlichkeit: an Problemen und Meinungsverschiedenheiten wird es zwar sicher nicht fehlen, aber die Methode ist jedenfalls die richtige, die Methode des Dialogs, im Einklang mit der gegenseitigen Anerkennung als „Schwesterkirchen.“
Patriarch Alexij mit der Delegation des Konzils von Lemberg, das im März 1946 die Aufhebung der unierten Kirche in der Ukraine beschloß

Patriarch Alexij mit der Delegation des Konzils von Lemberg, das im März 1946 die Aufhebung der unierten Kirche in der Ukraine beschloß

Und wenn es aus den Berichten über die von Kardinal Kasper wahrgenommenen Begegnungen auch nicht eindeutig hervorgeht, so besteht doch kein Zweifel daran, daß ein anderes zentrales Thema, das die ökumenischen Beziehungen zwischen katholischer Kirche und Patriarchat Moskau schwierig gestaltet, die Frage der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche ist. Die ukrainische Frage ist schon im Innern der Orthodoxie eine überaus problematische Geschichte. So war die ukrainische Orthodoxie beispielsweise in den Neunzigerjahren in drei Jurisdiktionen aufgespalten, von denen eine – die einzige kanonische – integrierender Bestandteil des Patriarchats Moskau ist, und die anderen beiden dagegen auf eine Autokephalie der ukrainischen orthodoxen Kirche abzielen12. Die beiden letzteren Kirchen haben einen starken ukrainischen Nationalgeist mit antirussischem Einschlag, der vom Großteil der griechisch-katholischen Kirche geteilt wird. Zu dieser ohnehin schon komplexen Situation gesellt sich also noch die spezifische Frage der griechisch-katholischen Kirche, die, nachdem sie von Stalin unterdrückt wurde, mit dem Ende der Sowjetunion wieder aus dem Untergrund auftauchte und 1991 vom neuen unabhängigen ukrainischen Staat juridisch anerkannt wurde. Diese Anerkennung hatte die Neuorganisation der pastoralen Strukturen der Kirche zur Folge und hat einen Rechtsstreit um das Eigentum der Kultstätten entfacht (die zuerst griechisch-katholisch waren, dann an die orthodoxe Kirche fielen, und schließlich – nach 1991 – von den Griechisch-Katholischen wieder zurückgefordert wurden). Die Übertragung der Eigentumsverhältnisse fand auf lokaler, in nicht programmierter Form, statt, und das Patriarchat Moskau beklagte, daß dadurch die Struktur einiger seiner Diözesen im Westen der Ukraine aufgelöst worden wäre. Im Jahr 1999 hatte man beschlossen, eine gemischte katholisch-orthodoxe Kommission einzusetzen, um die Fragen um die Eigentumsverhältnisse der Kultstätten und deren Nutzung zu klären. Die Schaffung dieser Kommission ist allerdings bisher noch nicht erfolgt.
Zu dieser Situation, die inzwischen seit einigen Jahrzehnten andauert, kommen noch jüngste Ereignisse hinzu, die man im Patriarchat Moskau mit einiger Besorgnis sieht. Wie die kürzlich (Dezember 2003) erfolgte Verlegung des Primassitzes des Großerzbischofs der griechisch-katholischen Kirche, Kardinal Lubomyr Husar, vom historischen Sitz Lemberg nach Kiew, Hauptstadt der Ukraine. Diese Verlegung wurde von orthodoxer Seite mit Besorgnis und Polemik aufgenommen. Kiew ist nämlich die historische Wiege der russischen Orthodoxie, weil sich hier im 10. Jahrhundert die Evangelisierung der alten Rus vollzog – ein Ereignis, das 988 in der Taufe von Fürst Wladimir von Kiew gipfelte – und das russische Volk seine christliche Identität erhielt. Jahrhundertlang war Kiew Sitz des Primas der russischen Kirche, bis zu seiner im 16. Jahrhundert erfolgten Verlegung nach Moskau. Historische Umstände hatten den politischen Schwerpunkt des russischen Volkes nämlich mehr in den Norden verlagert, in das Fürstentum Moskau, aus dem das russische Zarenreich mit der Hauptstadt Moskau entstehen sollte. Doch wenn der Primassitz der russischen Kirche auch die Verlagerung des politischen Schwerpunkts mitgemacht hat, so bleibt Kiew doch eine Stadt von großem Symbolwert.
Die kürzlich erfolgte Verlagerung des griechisch-katholischen Großerzbistums wurde so dann auch – zu recht, oder vielleicht auch nicht – als letzter Schachzug der griechisch-katholischen ukrainischen Kirche interpretiert – vor der Ausrufung ihres eigenen Patriarchats. Es ist ja auch kein Geheimnis, daß diese Kirche schon seit langem die Anerkennung des Patriarchatsranges verlangt. Was nicht nur vom Patriarchat Moskau abgelehnt wird, sondern von allen orthodoxen Kirchen13. Und wie heikel diese Frage ist, wurde schließlich von keinem Geringeren als Bartholomaios I., Patriarch von Konstantinopel, in einem Brief erläutert, den er im Januar 2004 persönlich an den Papst schrieb, und in dem er darauf hinwies, wie vollkommen inopportun es wäre, ein griechisch-katholisches Patriarchat in Kiew zu schaffen14. Das würde die griechisch-katholische Kirche nämlich auf dieselbe kanonische Ebene stellen wie das Patriarchat Moskau, dem gegenüber sie den katholischen Teil der antiken Rus repräsentieren würde. Es ist klar, daß diese Entwicklung der Frage des Uniatismus neuen Zündstoff liefern würde, die ohnehin schon den Haupt-Zankapfel zwischen orthodoxen Kirchen und katholischer Kirche darstellt. Und die Frage der griechisch-katholischen Kirche war auch die, die von der gemeinsamen internationalen katholisch-orthodoxen Kommission zum theologischen Dialog bei ihrem Treffen in Baltimore (Juli 2000) behandelt wurde. Die Schaffung eines Patriarchats in der Ukraine könnte den Beziehungen mit der gesamten Orthodoxie einen schweren Schlag versetzen. In diesem Sinne stellt die ukrainische Frage, durch die die Beziehungen zwischen katholischer Kirche und Patriarchat Moskau seit nunmehr einem Jahrzehnt auf eine harte Probe gestellt werden – auch wegen der Präsenz der beiden schismatischen orthodoxen Kirchen auf ukrainischem Territorium, von denen sich eine zum orthodoxen Patriarchat Kiew proklamiert hat –, ein hochexploxives Potential auf der Ebene der gesamtem Orthodoxie dar.
Johannes XXIII. mit Witalij Borowoj und Wladimir Kotljarow, zwei Beobachtern der russisch-orthodoxen Kirche, die am II. Vatikanischen Konzil teilnahmen

Johannes XXIII. mit Witalij Borowoj und Wladimir Kotljarow, zwei Beobachtern der russisch-orthodoxen Kirche, die am II. Vatikanischen Konzil teilnahmen

Hierzu kann man korrekterweise die Hypothese aufstellen, daß die Anerkennung der orthodoxen Kirchen als „Schwesterkirchen“ den Verzicht auf die Beanspruchung des Patriarchatstitels der griechisch-katholischen Kirche mit sich bringen könnte. Es handelt sich um einen Titel, der für sie im wesentlichen ein Ehrentitel wäre, aber dennoch schwerwiegende Folgen für die orthodoxen Kirchen haben würde. Wenn die griechisch-katholische Kirche der Ukraine auf ökumenischem Gebiet wirklich eine Vermittlerrolle spielen will, wie ihre hohen Repräsentanten so oft bekräftigen, scheint der Verzicht auf diesen Anspruch unvermeidbar15. Auf der anderen Seite wird das Maß der Liebe, die die Kirchen in den gegenseitigen Beziehungen leben sollen, nicht von ihnen selbst oder ihren Perspektiven gegeben, sondern muß der Liebe Christi entsprechen, der „sich erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht“ (Phil 2,8ff). Die wahre Liebe verlangt die Ausübung der Nächstenliebe mit Blick auf das Gemeinwohl, und das ist letztendlich die Perspektive eines ernstzunehmenden ökumenischen Weges, auf dem alle Kirchen darum bemüht sein müssen, immer mehr Christus gleich zu werden, um in ihm und von ihm die verlorene Einheit wiederzufinden. Die Umsetzung dieser Perspektive in konkrete Taten, auf lokaler und internationaler kirchlicher Ebene, stellt den einzig möglichen Horizont für einen immer wahreren und effizienteren Ökumenismus dar.

(Andrea Pacini hat dieses Thema auch in seinem Vortrag an der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (20. Mai 2004) behandelt. Die Studientagung „Katholizismus und russisch-orthodoxe Kirche. Vergangenheit und Gegenwart“ stand unter der Leitung von Msgr. Gianfranco Ravasi, Präfekt der Biblioteca Ambrosiana.)

ANMERKUNGEN
1 Vgl. Stichwort „Mohileff“ in The Catholic Encyclopedia, Band 10, 1911. Neben den oben erwähnten Diözesen wurde 1923 noch die Diözese Wladiwostok geschaffen. 27 Erzbischöfe waren in der Metropolie Mohilew tätig. Der letzte davon, Msgr. Jan Cepliak, wurde 1923, als Lenin gegen die Kirchen mobil machte, zum Tode verurteilt und des Landes verwiesen. Die Diözese Mohilew wurde von Katherina II. 1772 geschaffen und dann später von Papst Pius VI. anerkannt. 1782 erhob die Herrscherin die Diözese in den Rang einer Metropolie – und auch hierzu ließ, mit der Bulle Onerosa pastoralis officii (1783), der Segen des Papstes nicht lange auf sich warten.
2 A. Nivière, Les Orthodoxes russes, Maredsous 1993, SS. 48-50.
3 Op.cit. S. 50.
4 Vgl. M. Skarowskij, La croce e il potere. La Chiesa russa sotto Stalin e Chruscev, Segrate 2003.
5 Die Teilnahme der russisch-orthodoxen Kirche am Ökumenischen Rat der Kirchen ermöglichte es ihr, aus der Isolation auszubrechen, in der sie vom Sowjetregime gehalten wurde.
6 Für eine detailliertere Darstellung der Entstehung, Blüte und Unterdrückung des orthodoxen Dissenses vgl. J. Ellis, La Chiesa ortodossa russa, Bologna 1989, SS. 491-747.
7 J. Ellis, The Russian Orthodox Church: Triumphalism and Defensivness, London 1996, SS. 157-190.
8 Vgl. A. Roccucci, „La chiesa ortodossa russa nel XX secolo“, in A. Pacini (herausgegeben von), L’Ortodossia nella Nuova Europa. Dinamiche storiche e prospettive, Turin 2003, SS. 237-238; A. Krindac, „La Russia nella sua dimensione religiosa“, in V. Kolossow, La collocazione geopolitica della Russia. Rappresentazione e realtà, Turin 2001, SS. 185-226.
9 Die ökumenische Bewegung hat sich im Laufe der ersten sechs Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im Innern der christlichen Kirchen entwickelt, während der sowjetischen Periode, in der die russische Kirche um ihr Überleben kämpfen mußte. Es überrascht daher nicht, daß der Ökumenismus in Russland – wie man sagte – auf die Dimension einer Elite beschränkt war und sich nicht weiter auf der Ebene der Theologie, der Spiritualität, der gemeinsamen kirchlichen Erfahrung verbreiten konnte. Auf der anderen Seite gilt der Katholik traditionsgemäß als der „Nicht-Orthodoxe“, also kein wirklicher Gläubiger. Diese Vorstellung ist auch heute noch verbreitet, und zwar aufgrund der durch die historischen Umstände des 20. Jahrhunderts bewirkten theologischen Verspätung auf ökumenischen Gebiet.
10 Zu den von der Vergangenheit „geerbten“ Vorurteilen, die sich auf die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen in Russland auswirken, vgl. M. Sevèenko, La chiesa cattolica vista dalla Russia, in Limes, Juni 2002.
11 Die von Kardinal Kasper in der katholischen Kathedrale gehaltene Ansprache (18. Februar 2004) steht in Il Regno-Documenti, 5. 1. März 2004, SS. 134-139, zu lesen.
12 A. Pacini, Le Chiese ortodosse, Turin 2000, SS. 89-90; A. Kolodnyj, „Lo stato odierno della cristianità ortodossa dell’Ucraina come risultato del suo sviluppo storico“, in G. De Rosa und F. Lomastro, L’età di Kiev e la sua eredità nell’incontro con l’Occidente, Rom 2003; SS. 249-262.
13 Zu den indignierten Reaktionen der verschiedenen orthodoxen Kirchen siehe: Il Regno-Documenti, 5, 1. März 2004, SS. 131-134.
14 Op.cit. SS. 129-131.
15 Auch Kardinal Kasper schließt sich in einem kürzlich von ihm gegebenen Interview eindeutig dieser Linie an: vgl. Ritorno a Mosca (Interview mit Kardinal Kasper), in Il Regno, 4, 15. Februar 2004, SS. 83-86.


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