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DOKUMENTE
Aus Nr. 09 - 2004

Unser Erlöser lebt, hat ein Gesicht und einen Namen: Jesus Christus


Die Homilie des Dekans des Kardinalskollegiums aus der Messe für die verstorbenen Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. in der Petersbasilika am 28. September 2004.


von Kardinal Joseph Ratzinger


Paul VI. mit dem Patriarchen von Venedig, Albino Luciani, bei dem Besuch des Papstes in Venedig (September 1972).

Paul VI. mit dem Patriarchen von Venedig, Albino Luciani, bei dem Besuch des Papstes in Venedig (September 1972).

Liebe Brüder und Schwestern,
die Liturgie bietet uns im Tagesgebet und im Gebet nach der Kommunion eine Interpretation des Petrusamtes, die wie ein spirituelles Porträt der beiden Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. erscheint, zu deren Gedenken wir diese Messe feiern. Im Tagesgebet heißt es, daß die Päpste „in der Liebe Christi ... den Vorsitz in deiner Kirche geführt haben“, und in dem Gebet nach der Kommunion bitten wir den Herr, er möge seinen Dienern, den Päpsten, gewähren „in den vollen Besitz der Wahrheit zu gelangen, in der sie, mit apostolischem Freimut, die Brüder bestärkt haben.“ Liebe und Wahrheit erscheinen als die beiden Pole der den Nachfolgern Petri anvertrauten Sendung.
In der Liebe Christi den Vorsitz führen – wer würde bei diesen Worten nicht an den Brief des hl. Ignatius an die Kirche von Rom denken, der der heilige Märtyrer aus Antiochien, dem ersten Sitz des hl. Petrus, „den Vorsitz in der Liebe“ zuerkennt. In seinem Brief heißt es, daß die Kirche von Rom „im Gesetz Christi steht“; und hier spielt er auf die Worte des Paulus in dem Brief an die Galater an: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (6,2). In der Liebe den Vorsitz führen heißt vor allem vorangehen „in der Liebe Christi“. Erinnern wir uns an dieser Stelle daran, daß die definitive Übertragung des Primats an Petrus nach der Auferstehung an die dreimal vom Herrn wiederholte Frage gebunden ist: „Simon, Sohn des Johannes, liebst Du mich mehr als diese?“ (Joh 21,15ff). Die Herde Christi weiden und den Herrn lieben sind dasselbe. Die Liebe Christi ist es, die die Schafe auf den rechten Weg geleitet und die Kirche auferbaut. Hier kommt uns unweigerlich die denkwürdige Ansprache in den Sinn, mit der Paul VI. die zweite Sitzungsperiode des II. Vatikanischen Konzils eröffnet hatte: „Te, Christe, solum novimus“ waren die entscheidenden Worte dieser Predigt. Der Papst sprach vom Mosaik in St. Paul vor den Mauern, mit der mächtigen Gestalt des Pantokrators, zu dessen Füßen Papst Honorius III. kniet, von kleiner Statur, fast unbedeutend vor der Größe Christi. Der Papst fuhr fort: Diese Szene wiederholt sich in voller Wirklichkeit hier in unserer Versammlung. Das war seine Sicht des Konzils, seine Sicht auch des Primats: wir alle zu Füßen Christi, um Diener Christi zu sein, um dem Evangelium zu dienen: Das Wesen des Christentums ist Christus, nicht einfach eine Lehre, sondern eine Person, und evangelisieren heißt zur Freundschaft mit Christus führen – zur Liebesgemeinschaft mit dem Herrn, dem wahren Licht unseres Lebens.
Den Vorsitz in der Liebe führen bedeutet – sagen wir es noch einmal – vorangehen in der Liebe Christi. Aber die Liebe Christi impliziert die Kenntnis Christi – den Glauben – und impliziert Teilhabe an der Liebe Christi: einer des anderen Last tragen, wie Paulus sagt. Der Primat ist in seinem innersten Wesen kein Ausüben von Macht, sondern ein „Einer-des anderen-Last-Tragen“; ist Verantwortung der Liebe. Die Liebe ist das genaue Gegenteil der Gleichgültigkeit dem anderen gegenüber, sie kann nicht zulassen, daß im anderen die Liebe Christi erlischt, daß Freundschaft mit dem Herrn und Kenntnis des Herrn geringer werden, daß „die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum das Wort ersticken“ (Mt 13,22). Und schließlich: Die Liebe Christi ist Liebe zu den Armen, zu den Leidenden. Wir wissen nur allzu gut, wie sehr sich unsere Päpste gegen die Ungerechtigkeit, für die Rechte der Unterdrückten, die Machtlosen, eingesetzt haben: Die Liebe Christi ist nichts Individualistisches, rein Spirituelles: Sie betrifft das Fleisch, sie betrifft die Welt, sie muß die Welt verwandeln.
Den Vorsitz in der Liebe führen geht schließlich die Eucharistie an, die die Realpräsenz der fleischgewordenen Liebe ist, Präsenz des Leibes Christi, hingegeben für uns. Die Eucharistie schafft die Kirche, schafft dieses große Netz der Gemeinschaft, das der Leib Christi ist, und schafft so die Liebe. In diesem Geist feiern wir mit den Lebenden und den Verstorbenen die heilige Messe – das Opfer Christi, aus dem die Gabe der Liebe entspringt.
<I>Thronender Christus</I>, Detail des Apsismosaiks der Basilika St. Paul vor den Mauern.

Thronender Christus, Detail des Apsismosaiks der Basilika St. Paul vor den Mauern.

Die Liebe wäre blind ohne die Wahrheit. Und daher gibt der Herr dem, der in der Liebe vorangehen soll, das Versprechen: „Simon, Simon, ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt“ (Lk 22,32). Der Herr sieht, daß Satan danach trachtet, „euch wie Weizen zu sieben“ (Lk 22,31). Während diese Prüfung alle Jünger betrifft, betet Christus in besonderer Weise „für dich“ – für den Glauben des Petrus, und auf dieses Gebet gründet sich die Sendung „deine Brüder zu bestärken.“ Der Glaube des Petrus kommt nicht aus seiner eigenen Kraft – die Unerschütterlichkeit des Glaubens Petri gründet sich auf das Gebet Jesu, des Sohnes Gottes: „Ich habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt“. Dieses Gebet Jesu ist das sichere Fundament des Petrusdienstes für alle Jahrhunderte, und das Gebet nach der Kommunion kann zu recht sagen, daß die Päpste Paul VI. und Johannes Paul I. „mit apostolischem Freimut“ ihre Brüder bestärkt haben: In einer Zeit, in der wir sehen, wie Satan die Jünger Christi „wie Weizen siebt“, war der unerschütterliche Glaube der Päpste sichtlich der Fels, auf dem die Kirche ruht.
„Ich weiß, daß mein Erlöser lebt,“ heißt es in der ersten Lesung der heutigen Liturgie aus dem Buch Hiob – er sagt es im Augenblick einer äußersten Prüfung; in einem Augenblick, da Gott sich verbirgt und sein Gegner zu sein scheint. Bedeckt vom Schleier des Leidens, ohne seinen Namen und sein Antlitz zu kennen, „weiß“ Hiob, daß sein Erlöser lebt, und diese Gewißheit ist der große Trost im Dunkel der Prüfung. Jesus Christus hat den Schleier gelüftet, der für Hiob das Antlitz Gottes verdeckte. Ja, unser Erlöser lebt, und „wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt“ sagt Paulus (2Kor 3,18). Unser Erlöser lebt – hat ein Gesicht und einen Namen: Jesus Christus. Unsere „Augen werden ihn schauen“ – diese Gewissheit geben uns unsere verstorbenen Päpste, und so führen sie uns „zum vollen Besitz der Wahrheit“ und bestärken uns im Glauben an unseren Erlöser. Amen.

(Deutsche Fassung aus dem italienischen Original: 30Tage)


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