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KUNST
Aus Nr. 09 - 2004

Der Retter der Armen von Rom


Der namhafteste Bernini-Experte spricht über das letzte Meisterwerk des Künstlers. „Der Salvator mundi war das Emblem eines großen Werkes der Nächstenliebe für die Obdachlosen Roms.“ Interview mit Irving Lavin.


von Pina Baglioni


Relief des Retters, Palazzo Montecitorio, Rom.

Relief des Retters, Palazzo Montecitorio, Rom.

„Es gibt da eine schöne Philosophie, die besagt: ‚Irren ist menschlich‘. Und ich habe keine Schwierigkeiten damit zuzugeben, daß ich mich 1972 geirrt habe, als ich behauptete, daß die in Virginia entdeckte Büste des Salvator mundi von Bernini wäre. Das einmal gesagt, meine ich doch, daß das, was zählt ist, daß die Original-Büste gefunden worden ist. Und noch wichtiger ist meiner Meinung nach die Bedeutung, die dieses Meisterwerk hatte.“
Irving Lavin, Dozent für Kunstgeschichte am Institute for Advanced Studies von Princeton, ein Lehrstuhl, den er von dem legendären Erwin Panofsky „geerbt“ hat, ist einer der namhaftesten Experten der italienischen Renaissance- und Barockzeit. Er befaßt sich schon seit jeher mit Bernini: in Italien hat er Bernini e l’unità delle arti visive herausgegeben (Edizioni dell’Elefante, Rom 1980), sowie Passato e presente nella storia dell’arte (Einaudi, Turin 1994).
Und dann, 1998, Bernini e il Salvatore. La „buona morte“ nella Roma del Seicento (Donzelli, Rom), eine Sammlung von Artikeln, darunter auch die zu den Entdeckungen von Norfolk und Sées. In dem Buch des Jahres 1998 stellte Lavin auch neue Hypothesen auf, die heute – so der amerikanische Gelehrte – von neuen Dokumenten überholt sind.
In der letzten Periode seines Lebens schickte sich Bernini an, eine Art ars moriendi zu verfolgen. Eine Art „Abkürzung“, um sich das Tor zum Paradies zu verdienen, was sich – außer in präzisen Frömmigkeits- und Wohltätigkeitspraktiken – auch in den letzten Werken widerspiegelt, die in einer nicht länger weltlichen, sondern heilsbezogenen Perspektive realisiert wurden. Die Marmorbüste des Salvator mundi stellt also, so Lavin, den Abschluß des spirituellen Weges des Künstlers dar. Die Büste des Retters war, besonders nach dem Tod des Künstlers, zum Emblem eines großen Werkes der Nächstenliebe geworden, am Lateranpalast und St. Johann, wo ein Hospiz für die Obdachlosen Roms eingerichtet werden sollte – und das nach für die damalige Zeit neuen Kriterien.
Wir wollten von Professor Lavin wissen, wie er zu diesen Hypothesen gelangt ist.

Professor Lavin, einige Biographen erklären, daß Bernini den Salvator mundi „aus Verehrung“ geschaffen hat. Andere wieder meinen, daß er ein Geschenk für Königin Christina von Schweden sein sollte. Sie dagegen haben noch andere Hypothesen...
IRVING LAVIN: Beim Studium der Geschichte um den Salvator mundi verflechten sich Kunstgeschichte, Kirchengeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Das war vorher noch nie der Fall gewesen. Meiner Meinung nach kam Bernini die Idee, eine dem Retter gewidmete Büste zu schaffen, in dem Moment, als ihn Innozenz XI. mit der Restaurierung des Lateranpalastes beauftragte, um diesen in ein Armenhaus umzufunktionieren. Ein Projekt, das aber erst etwa ein Jahrzehnt nach dem Tod Berninis in die Tat umgesetzt werden sollte, und auch unter einem anderen Papst: Innozenz XII.
Wir haben ein Dokument vom 21. November 1676, in dem der von Innozenz XI. gegebene Auftrag bestätigt wird: „Der Heilige Vater hat Cavaliere Bernini rufen lassen und ihm den Auftrag gegeben, den Lateranpalast zu restaurieren, weil er dort die Armen wohnen lassen will.“
An diesem Punkt begann Bernini mit der Planung der Restaurierungsarbeiten für den Lateran und auch damit, mit dem Gedanken an eine Statue zu spielen, die Christus darstellt, und die in dem zukünftigen Hospiz stehen sollte.
Die Person, die ihm dabei hilft, würdevoll zu sterben und seine Werke nicht länger in einer weltlichen Perspektive zu sehen, sondern in der der Frömmigkeit, ist sein Neffe Francesco Marchese, ein frommer und gebildeter Oratorianer, der auf Wunsch von Innozenz XI. apostolischer Prediger geworden ist. Marchese ist von Anfang an in das Lateran-Projekt verwickelt, wird sogar, nach dem Tod des Onkels, Verwalter desselben. Mit seinem für die Oratorianer des hl. Philipp Neri typischen starken Charisma der Nächstenliebe hat er seinen alten Onkel wahrscheinlich dazu veranlasst, eine Statue zu schaffen, die an die Barmherzigkeit und das Heil denken läßt, und zwar nicht nur das persönliche, sondern mundi, das der Welt.
Darstellung des Erlösers, Kapelle Sancta Sanctorum, Heilige Treppe, Rom.

Darstellung des Erlösers, Kapelle Sancta Sanctorum, Heilige Treppe, Rom.

Sie meinen also, daß Bernini hauptsächlich vom Lateran und seiner Geschichte beeinflusst wurde?
LAVIN: Davon bin ich überzeugt. Die antike Lateranbasilika, die im 4. Jahrhundert erbaut wurde, war eigentlich dem Erlöser geweiht. Im Zentrum des Apsisbeckens wurde ein Mosaik geschaffen, auf dem der Retter dargestellt ist – zur Feier der Weihe der Basilika zur Kathedrale von Rom am 9. November 324, auf Genehmigung von Konstantin dem Großen unter dem Pontifikat von Silvester I.
Eine andere Darstellung des Retters ist das Bild des Heiligen Antlitzes in der Kapelle Sancta Sanctorum an der Heiligen Treppe: am Himmelfahrtsfest wurde es auf den Straßen Roms bis nach Santa Maria Maggiore getragen, wo es auch der Salus populi romani begegnete, dem Wunderbild der Muttergottes.
Seit Jahrhunderten kümmerte sich eine Bruderschaft darum, das große Krankenhaus für die Armen und Kranken zu verwalten, das seit dem Spätmittelalter an die Laterankirche angeschlossen war. Das Emblem der Bruderschaft und des Krankenhauses war die Darstellung des Retters in der Apsis der Lateranbasilika.
All diese Elemente haben mich davon überzeugt, daß Bernini im Kielwasser dieser alten Tradition eine Statue schaffen wollte.
Bernini ist es jedoch nicht gelungen, das Hospiz im Lateran in die Tat umzusetzen. Und der Salvator mundi wurde erst ein Jahr vor seinem Tod fertiggestellt.
Das stimmt. Leider hat auch Innozenz XI. nicht mit diesen Arbeiten begonnen – womit er sich prompt den Sarkasmus Berninis zuzog, der bitterböse, satirische Karikaturen gegen ihn zeichnete. Aber – ich wiederhole – der Künstler schuf seine Statue nicht für den Privatgebrauch, wie die uns überlieferten Dokumente glauben machen können. Führen wir uns beispielsweise nur einmal die Ausmaße der Büste vor Augen: einschließlich dem verlorengegangenen Sockel maß sie drei Meter. Und es ist ja wohl ziemlich schwierig sich vorzustellen, daß eine so majestätische Büste nur für die private Verehrung gebraucht werden könnte. Ich glaube, daß Bernini sie Christina von Schweden vererbt hat, damit sie sich darum kümmern würde, sie in den Lateran bringen zu lassen, wenn dieses berühmte Hospiz endlich einmal Wirklichkeit geworden sein sollte.
Das Emblem der Bruderschaft vom Heiligsten Erlöser 
ad Sancta Sanctorum, Krankenhaus San Giovanni, Rom.

Das Emblem der Bruderschaft vom Heiligsten Erlöser ad Sancta Sanctorum, Krankenhaus San Giovanni, Rom.

Welche anderen Elemente untermauern diese These?
LAVIN: Der Salvator mundi von Bernini wurde zum obligatorischen Modell einer neuen Generation von Bildhauern, die 1690, zehn Jahre nach dem Tod des Künstlers mit Basreliefs zum selben Thema beauftragt worden waren. Die Büste des Retters wurde also zum Sinnbild eines Werkes der Nächstenliebe, das der Reformpapst Innozenz XII. so nachdrücklich gewollt hatte. Dieser Papst wollte in einer einzigen Institution, eben dem Lateranpalast, die vielen Werke der Nächstenliebe der Stadt zusammenführen und den Obdachlosen Roms zugute kommen lassen, die alle im Palast vereint sein sollten.
Die Basreliefs mit der Darstellung des Retters – in Rom wurden allein in den vergangenen Jahren mindestens sieben gefunden – wurden an den Fassaden verschiedener Gebäude der Stadt angebracht, wo Almosen gesammelt wurden, die dann für den Lateran bestimmt waren.
Warum bezeichnen Sie dieses Werk als revolutionär? Werke der Nächstenliebe sind für die Kirche doch nichts Neues!
LAVIN: Sicher, aber sie waren immer vollkommen Einzelnen oder den Bruderschaften überlassen. Innozenz XII. dagegen wollte, daß dieses Projekt mit der Zeit autonom werden sollte. Es ist das erste Projekt, das die Nächstenliebe als Sache der staatlichen Behörden sieht. In diesem Fall der Verwaltung des Kirchenstaates. Und noch etwas Neues: die Kirche hatte sich schon von jeher um Krankenhäuser gekümmert. Orte, wo Geistesgestörte, Verbrecher und Arme untergebracht wurden. Nach St. Johann kamen dagegen nur Obdachlose, Bedürftige. Und zum ersten Mal wurde auch dieser Begriff gebraucht: Obdachlose. Auch mit dieser Geste versetzte Innozenz XII. dem Phänomen des Nepotismus den Todesstoß. Er liebte es zu wiederholen, daß nur die Armen seine Neffen wären.
Um es kurz zu machen: meiner Meinung nach wurde der Gedanke des Sozialstaates in der Kirche, mit diesem Papst, geboren.
Trotz der unmenschlichen Anstrengungen des Papstes, der für den Lateranpalast wirklich geradezu die Kassen der Kirche plünderte, erwies sich das Projekt als Schlag ins Wasser. Und das auch, weil die Obdachlosen der Stadt ganz einfach keine Lust hatten, in dieser Behausung – wie prachtvoll sie auch immer sein mochte – eingesperrt zu sein. Erst einmal wieder aus dem Palast „befreit“, sagten sie:„Mal hier, mal dort leben, sich das Nötige zusammenbetteln, ohne große Mühe, gefällt uns doch zu sehr.. und wer einmal auf den Geschmack des Vagabundenlebens gekommen ist, der läßt es nimmermehr.“
Abschließend möchte ich noch sagen, daß – abgesehen von dem kläglichen Ausgang des Experiments von Innozenz XII. – die Römer viele Jahre lang den Salvator mundi Berninis mit der Nächstenliebe verbunden haben.


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