EDITORIAL
Aus Nr. 10 - 2004

Mitterrand



Giulio Andreotti


Der Präsident Mitterrand

Der Präsident Mitterrand

Der Gedanke an ein zweites Sieben-Jahres-Mandat von Präsident Mitterrand war sicher vielen Franzosen alles andere als unangenehm (mit Ausnahme potentieller „Nachfolger“ wie Michel Rocard natürlich) – und schon gar nicht uns Ausländern, die wir seine Offenheit und seinen Stil doch so sehr schätzen gelernt hatten.
Das konstitutionelle System Frankreichs sieht für den Staatschef nicht nur eine protokollgemäße Repräsentanzrolle vor, sondern räumt ihm auch effektive politische Kompetenzen ein: Er kann den Vorsitz über den Ministerrat führen und internationale Abkommen aushandeln. Daher auch der direkte Kontakt zu seinen „Gegenstücken“ in der Außenpolitik und zu den Regierungschefs und Außenministern, besonders im Rahmen der Europäischen Union und des Nordatlantikpaktes.
Als wahrer Sozialist galt Mitterrand als autonome Persönlichkeit; und in der Tat wurden – besonders in Südfrankreich – Bürgermeister und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sic et simpliciter als „Mitterrandianer“ eingestuft. Bei den Beziehungen zu ihm kamen jedenfalls nie Parteiinteressen zum Tragen.
Der Gedanke an ein zweites Sieben-Jahres-Mandat von Präsident Mitterrand war sicher vielen Franzosen alles andere als unangenehm (mit Ausnahme potentieller „Nachfolger“ wie Michel Rocard natürlich) – und schon gar nicht uns Ausländern, die wir seine Offenheit und seinen Stil doch so sehr schätzen gelernt hatten.
In meiner Eigenschaft als Außenminister mußte ich Präsident Craxi einmal in den Elysée-Palast begleiten; auf unserer Tagesordnung stand eine Liste von polizeilich gesuchten Ex-Brigaden-Mitgliedern. Die Reaktion Mitterrands war wirklich außergewöhnlich: warum nach so vielen Jahren Staub aufwirbeln? Wo doch viele dieser „Subjekte“ inzwischen auf den rechten Weg zurückgefunden hatten und friedlich ihrer (rechtschaffenen, versteht sich!) Arbeit nachgingen! Er mußte zwar zugeben, nicht vollkommen lückenlos über den Verbleib der Betroffenen unterrichtet zu sein (einer war sogar beim Fernsehen untergekommen!), erklärte sich aber bereit, uns unverzüglich all jene„auszuliefern“, die ihr „Brigadendasein“ nicht wirklich endgültig und erwiesenermaßen an den Nagel gehängt hatten. Für mein: „In dem Fall behalten Sie sie mal besser!“ erntete ich von Craxi einen tadelnden Blick, Mitterrand aber konnte darüber nur schmunzeln und ging mit Nonchalance wieder zur Tagesordnung über.
Einmal waren Mißtöne allerdings doch nicht zu vermeiden. Mitterrand war gerade in Venedig zu Gast, als die Franzosen eine alliierte Militäraktion im Libanon starteten. Sie hatten einfach – ohne vorherige Absprache – mit Bombardierungen begonnen und damit die ganze Situation dramatisch verschlimmert (ich kann mich noch erinnern, daß dabei auch eine amerikanische Kaserne in die Luft gesprengt wurde). Als Außenminister mußte ich da natürlich protestieren – was ich vielleicht ein bißchen energischer tat als unbedingt notwendig gewesen wäre. Beeinflußt sicher auch von unseren unterschiedlichen Ansichten bezüglich der Beziehungen zu Syrien, mit denen wir Italiener nach wie vor keine Probleme hatten. Doch damit war die Sache für Mitterrand auch schon erledigt. Er beeilte sich, das Thema auf Venedig zu lenken und erzählte, daß er sich mit der Absicht trage – sollte sich eine günstige Gelegenheit ergeben – in Venedig eine Wohnung zu kaufen. Aber nicht nur Venedig hatte es ihm angetan – auch Arezzo und Viterbo. Und in Bologna war ihm sogar feierlich der Ehrendoktortitel verliehen worden.
In dem entscheidenden Halbjahr unter italienischem Vorsitz, am Vorabend der Konferenz von Maastricht, hatte sich Mrs. Thatcher – entschiedene Gegnerin der Konferenz – in den Palazzo Farnese (französische Botschaft in Rom) begeben, in dem Versuch, Mitterrand auf ihre Seite zu bringen. Das gelang ihr allerdings nicht, und letzten Endes mußte sie – allein auf weiter Flur – doch klein beigeben. In ihren Memoiren hat sie – was nicht der Wahrheit entspricht – geschrieben, daß wir Italiener die Tagesordnung geändert hätten. Nun ja... Und ein anderes Mal hatte sie dagegen einfach verlangt, daß alle nach ihrer Pfeife tanzten, was sich Mitterrand (und auch Kohl) jedoch entschieden verbaten.
Darüber, François Mitterrand mit Johannes Paul II. auf dem Flughafen Tarbes im August 1983; unten, die Mitglieder des Europarats bei der Sondersitzung 
in Rom zur Vorbereitung der beiden zwischenstaatlichen Konferenzen (Oktober 1990) zur Wirtschafts- und Währungsunion, und zu den Aspekten der politischen Union

Darüber, François Mitterrand mit Johannes Paul II. auf dem Flughafen Tarbes im August 1983; unten, die Mitglieder des Europarats bei der Sondersitzung in Rom zur Vorbereitung der beiden zwischenstaatlichen Konferenzen (Oktober 1990) zur Wirtschafts- und Währungsunion, und zu den Aspekten der politischen Union

Bei einem privaten Abendessen mit Mitterrand in Paris, bei einem wirklich ungezwungenen Gespräch, erlaubte ich mir einmal festzuhalten, daß ich ihn bei einer Wahldebatte mit Präsident Giscard d’Estaing im Fernsehen gesehen und seine Dialektik wirklich mehr als beeindruckend gefunden hatte. Die einzige Antwort, die er Giscard gab, der ihn fünf Minuten lang mit Zahlen und Diagrammen bombardiert hatte, waren nur wenige lapidare Worte gewesen. Mitterrand erklärte mir, daß er sieben Jahre zuvor Opfer der Verschlagenheit des damaligen Finanzministers Giscard (in Frankreich ein sehr maßgebliches Amt) geworden war. Und das, obwohl er sich monatelang vorbereitet, unermüdlich über Statistiken, Paragraphen und Parlamentsakten gebrütet hatte: Über die Notwendigkeit, Mietgrenzen festzusetzen, wußte er gut Bescheid; über die im Argen liegenden Auslandsschulden, usw. Doch als er gerade dabei war, diese präzisen Daten anzuführen, schüttelte der andere nur den Kopf, erklärte sie für unrichtig und das – als wäre das nicht schon genug – sogar anhand von Listen, die er vor sich liegen hatte. Mitterrand, nun ganz und gar aus dem Konzept gebracht, hatte keine schlagfertige Antwort parat, schnitt bei dem „Duell“ dementsprechend schlecht ab und mußte nach der Fernsehsendung auch noch erkennen, daß die „Listen“ Giscards nichts anderes waren als ein leeres Blatt Papier. Giscard hatte nur so getan, als würde er die Zahlen kontrollieren – ein gekonnter Bluff! Das war Mitterrand eine Lehre – sieben Jahre später sollte ihm das nicht mehr passieren. Und wirklich: Als Giscard auf das große Wachstum Frankreichs in den vergangenen Jahren zu sprechen kam, gab Mitterrand dieses Mal die schlagfertige Antwort: „Vor sieben Jahren hatten wir auch die Hälfte der Arbeitslosen, die wir heute haben“. Und auf Giscards Behauptung, Frankreich sei gestraft, weil es weder über Energiequellen noch Rohstoffe verfüge, konnte er nur entgegnen: „Es gibt ein Land, das weder Energiequellen noch Rohstoffe hat und trotzdem blendend funktioniert: Japan. Dort hat man nämlich eine gute Regierung.“
Die Erinnerung an diesen Revanche-Schlagabtausch war etwas, das der Präsident sichtlich genoß. Und bei dieser Gelegenheit erklärte er mir auch gleich das „ABC“ eines Fernsehauftritts: es gilt, äußerst knapp zu sein, in absolut unmißverständlichen Sätzen zu sprechen, schwierige Verben zu vermeiden – wie Selbstbestimmung beispielsweise, oder aber auch solche, die mehrere Bedeutungen haben können, wie Investitionen.
Fast schon eine richtige Unterrichtsstunde!
Im August 1980 traf Mitterrand in Straßburg Enrico Berlinguer. In einem la Repubblica gewährten Interview sagte er: „Gemeinsam können wir die europäische Linke aufbauen.“ Ein Plan, der jedoch nie in die Tat umgesetzt wurde, und das auch schon wegen der verständlichen Reaktion einiger italienischer Sozialistenführer, die so etwas gar nicht gerne gesehen hätten.
Und schließlich kann man über die Konversationen mit Mitterrand ­– auch außerhalb eines formalen Rahmens – nur sagen, daß sie überaus interessant waren. Die Frage Palästina lag ihm stets sehr am Herzen: in ihr sah er die Ursache aller Probleme. Und dann pflegte er auch unvorhergesehene Fragen zu stellen, wie beispielsweise der, ob wir, nach dem Polen, nicht zusehen würden, wieder einen italienischen Papst zu bekommen. An unserem politischen System gefiel ihm eines ganz besonders: der Status des Senators auf Lebenszeit für ehemalige Staatspräsidenten.
Sehr schön hat Mitterrand den großen Schriftsteller Jean Guitton definiert: „Ein sozialistischer König mit einem regen Interesse an Gott.“ Nach dem Tod von François Mitterrand hat es in Frankreich unerfreuliche Polemiken um seine Person gegeben. Ich möchte mich hier nicht in französische Belange einmischen und kann nur sagen, daß ich, als Italiener und als Europäer, jedenfalls nach wie vor eine positive Erinnerung an ihn habe.
Was seine Beziehung zu den Amerikanern angeht, war er vom Snobismus eines De Gaulle weit entfernt, als Reagan aber im Oktober 1985 die Einladungen für ein Treffen zur Vorbereitung auf den ersten Gipfel mit Gorbatschow ausschickte, war er nicht mit von der Partie. Er war der Meinung, daß die Washingtoner Regierung zu sehr den Ton angeben wollte und Europa zu wenig Bedeutung beimesse, und er glaubte auch, daß die Amerikaner den demokratischen Sozialismus nicht verstünden. In meinem Tagebuch (Eintragung vom 1. Mai 1985) steht folgendes zu lesen: „Wenn ihr den Bürgern sagt, nicht auf den Boden zu spucken, ist das dann schon Sozialismus? Wenn ihr euer ‚Geschäft‘ nicht auf der Straße verrichten dürft, ist das vielleicht eine Norm, die der Marktwirtschaft widerspricht? Wenn ihr den Linksverkehr vorschreibt, ist das dann schon erdrückende Kontrolle von oben?“.
Noch eine interessante Bemerkung am Rande. In dem Tagebuch von Jacques Attali sind alle Begegnungen von Präsident Mitterrand mit ausländischen Gästen peinlich genau festgehalten. Und dort habe ich auch die Erklärung für eine überaus kuriose Begrüßung gefunden, mit der man mich auf der Pferderennbahn von Long­champ schmunzelnd bedacht hatte, als man mir dafür dankte, Präsident Mitterrand mitgebracht zu haben. Ich hatte mein bilaterales Treffen in Paris mit dem „Journée de l’Arc de Triomphe“ zusammenfallen lassen – und so kam es, daß wir abschließend zu dem Rennen gegangen waren. Was ich allerdings nicht wissen konnte war, daß Mitterrand Pferderennen verabscheute und nur aus Höflichkeit mitgekommen war.
Später habe ich dann auch erfahren, daß eine von ihm gemachte Kritik an den Pferdewetten derart starke Proteste ausgelöst hatte, daß die sozialistische Partei alle Hände damit zu tun hatte, die Wogen wieder zu glätten. Pferdewetten sind in Frankreich so beliebt, daß eine Kritik daran unweigerlich bedeutet, dem Volk auf den Schlips zu treten.
Sehr schön hat Mitterrand den großen Schriftsteller Jean Guitton definiert: „Ein sozialistischer König mit einem regen Interesse an Gott.“ Nach dem Tod von François Mitterrand hat es in Frankreich unerfreuliche Polemiken um seine Person gegeben. Ich möchte mich hier nicht in französische Belange einmischen und kann nur sagen, daß ich, als Italiener und als Europäer, jedenfalls nach wie vor eine positive Erinnerung an ihn habe.


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