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CHILE
Aus Nr. 10 - 2004

DIPLOMATIE. Interview mit dem chilenischen Außenminister Ignacio Walker.

Ein gerechtes Wachstum


„Wir sind weder Populisten noch Neoliberalisten.“ Der chilenische Außenminister spricht über die Realpolitik seines Landes und ein positives Wiedererwachen Lateinamerikas; erklärt, wie man sich in Sachen Irak von den USA distanzieren kann, ohne als Feind zu gelten; und erzählt von seiner ersten Reise nach Rom zum Papst.


von Roberto Rotondo


Für Ignacio Walker, neuer chilenischer Außenminister, war das alte Sprichwort „alle Wege führen nach Rom“ selten so aktuell wie jetzt. Der 48jährige Walker, Rechtsanwalt und Dozent für Politikphilosophie, schied Ende September, als er zum Botschafter beim italienischen Staat ernannt wurde, aus dem chilenischen Parlament aus. Aber er hatte kaum sein Beglaubigungsschreiben überreicht (am 1. Oktober), als er schon zum Außenminister seines Landes ernannt wurde – sein Vorgänger Solead Alvear hatte seine Kandidatur für die kommenden Präsidentschaftswahlen 2005 angekündigt. Und dann, nur eine Woche später, führte die erste offizielle Reise den frischgebackenen Minister schon wieder in die Ewige Stadt, wo verschiedene Begegnungen diesseits und jenseits des Tibers angesagt waren: in der Farnesina [Außenministerium] mit Minister Frattini und Vize Baccini; in Montecitorio mit dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Pier Ferdinando Casini; und schließlich im Vatikan, wo er am 6. und 7. Oktober – vor der Privataudienz bei Johannes Paul II. – zusammen mit dem Papst und Kardinal Angelo Sodano, Staatssekretär und ehemaliger apostolischer Nuntius in Chile, eine große Statue Theresias von den Anden einweihte, die in einer der Außennischen an der Rückwand der Petersbasilika untergebracht wurde. Die Heilige, eine Unbeschuhte Karmelitin, die in Santiago geboren worden war und 1920, im Alter von 20 Jahren, im Kloster an Typhus starb, wurde 1993 von Johannes Paul II. seliggesprochen und wird in Chile ganz besonders verehrt. „In einem von so viel Gewalt und Tod geprägten Moment ist die Gestalt dieser Heiligen ein herausragendes Vorbild: eine junge Frau, die dieselben Hoffnungen, dieselben Ängsten, ja sogar dieselben Träume hatte wie die jungen Menschen heute,“ sagte der Kardinal von Santiago, Errázuriz Ossa, nach der Einweihung und betonte, daß Theresia von den Anden die erste lateinamerikanische Heilige ist, der in der Petersbasilika eine Statue geweiht wurde.

Der sozialistische Präsident Ricardo Lagos überträgt Ignacio Walker das Amt des Außenministers (1. Oktober 2004).

Der sozialistische Präsident Ricardo Lagos überträgt Ignacio Walker das Amt des Außenministers (1. Oktober 2004).

Herr Minister, Sie haben nun ein anderes Amt inne, aber Rom steht immer noch ganz oben auf Ihrer Tagesordnung...
IGNACIO WALKER: Das stimmt, und ich muß auch sagen, daß ich mich sowohl als Katholik als auch als Außenminister meiner Regierung sehr darüber gefreut habe, daß mich mein erster offizieller Besuch ausgerechnet nach Rom führte. Als Christdemokrat waren auch die Einweihung der Statue Theresias und die Begegnung mit dem Heiligen Vater für mich besonders bedeutungsvoll: es waren unvergeßliche Momente, die mir gezeigt haben, wie viel Sympathie und Aufmerksamkeit Johannes Paul II. Chile entgegenbringt. Das erinnert mich auch daran, daß sich am 29. Oktober dieses Jahres der 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Chile und Argentinien jährt, bei dem Johannes Paul II. eine besondere Rolle spielte. Aber das Wichtigste für meine Regierung, die aus einer weitreichenden Allianz zwischen sehr verschiedenen Kräften kultureller und politischer Inspiration besteht, ist, daß ich von meiner Reise mit der Bestätigung der optimalen Beziehungen zwischen Chile und Hl. Stuhl zurückkehre.
Sprechen wir über Chile: ein kleines Land – verglichen mit Argentinien und Brasilien – aber mit einer in vielerlei Hinsicht besseren wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Lage. Wohlmeinende definieren Ihr Land als „die Schweiz Latein­amerikas“, Kritischere als „Kamikaze des Neoliberalismus“. Besonders Letztere meinen, daß das neue Freihandelsabkommen mit den USA ein Zeichen für eine Unterwerfung unter das neoliberalistische Diktat der Amerikaner ist, und daß das auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen lateinamerikanischen Ländern beeinträchtigen könnte, die zum Mercosur gehören? Wie sehen Sie das?
WALKER: Das Freihandelsabkommen mit den USA, wie auch das, das wir mit der Europäischen Union unterzeichnet haben (wenn letzteres auch mehr ein partnership-, Kooperations-Abkommen ist), das mit Südkorea, diejenigen, welche wir mit Neuseeland, mit Singapur und vielleicht auch mit Indien und China unterzeichnen werden, sind Teil einer Strategie der Öffnung der chilenischen Wirtschaft nach außen, der Wirtschaft eines Landes mit 15 Millionen Einwohnern, ein „kleines Licht“, das von der Wirtschaftsintegration der Welt nur profitieren kann.
Aber all das bedeutet nicht, daß wir Sklaven des neoliberalen Wirtschaftsmodells sind. Auch in Asien gab es große Öffnungen nach außen, denken wir nur an China und Vietnam, aber das bedeutet nicht, daß sie Neoliberale sind. Die Wirtschaft öffnen, die Inflation kontrollieren, die öffentliche Verschuldung reduzieren, heißt nicht, daß man neoliberalistisch eingestellt, sondern seriös ist, eine realistische Regierung hat. Wenn wir diesen Weg verlassen, können wir nur zwischen der Rückkehr zum außer Rand und Band geratenen Liberalismus wählen, den wir unter Pinochet kennengelernt haben (mit den sogenannten Chicago boys, die ein Wirtschafts- und Finanzwachstum um jeden Preis anstrebten, ohne Regeln, ohne Menschlichkeit) –, oder dem „Neopopulismus“, eine Falle, in die wir auf unserem Kontinent schon des öfteren getappt sind, und was uns noch nie Erfolg beschert hat. Wir haben jetzt einen anderen Weg eingeschlagen, auf dem wir Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit miteinander in Einklang bringen wollen. Das Resultat all dessen, nach 14 Jahren „Probe-Regierung“ ist, daß wir das Wirtschaftsprodukt verdoppelt haben und die Zahl derer, die am Existenzminimum leben, von 40% auf 20% reduzieren konnten. Unsere Strategie hat mit dem liberalen Schema gebrochen, ohne jedoch die Mauer des Vorurteils gegen die allen Ländern der Welt gemeinsamen großen Globalisierungsprozesse zu errichten.
Der neue Außenminister Walker mit Johannes Paul II. am 7. Oktober im Vatikan.

Der neue Außenminister Walker mit Johannes Paul II. am 7. Oktober im Vatikan.

Gibt es Zonen auf dem la­teinamerikanischen Kontinent, die Gefahr laufen, eine Finanzkrise zu erleben, wie Argentinien vor drei Jahren, oder Mexiko? Können die Spekulationen der außer Rand und Band geratenen Neoliberalismen der Neunzigerjahre noch einmal „zuschlagen“?
WALKER: Das Problem sind nicht die Neoliberalismen, das Problem ist nicht die Zustimmung Washingtons und es sind auch nicht die Diktate der Weltbank oder des internationalen Währungsfonds. Das Problem, das wir in Lateinamerika am eigenen Leib zu spüren bekommen haben, war das der Unbeständigkeit der Finanzmärkte, die einen schweren Konflikt und fürchterliche Krisen ausgelöst haben. Das trifft auf Mexiko zu, auf Argentinien, und auch auf Brasilien, wo Präsident Cardoso in acht Jahren mit vier Finanzkrisen zu kämpfen hatte. Heute fragen wir uns alle, wie die Globalisierung regierbarer gemacht werden kann; man darf aber nicht vergessen, daß Globalisierung kein Synonym für Neoliberalismus ist, das sind zwei verschiedene Dinge. Die Globalisierung ist ein sehr komplexes Problem, das angemessene politische Institutionen verlangt. Die Achillesferse der Globalisierung ist gerade diese Schwäche ihrer Institutionen, und wir müssen in der Lage sein, sie zu stärken, ohne uns in noglobal-Slogans zu flüchten. Aber – um wieder auf Ihre Frage zurückzukommen –: die argentinische Wirtschaft kann heute ein Wachstum von 8% pro Jahr verzeichnen, wenn es auch noch den Rückfall der dunklen Jahre aufholen muß, in denen es 15% jährlich verloren hatte. Und dann darf man auch nicht vergessen, daß das Land dabei ist, politische Stabilität zu erreichen. Mexiko hat, mit dem Wechsel von Präsident Ernesto Zedillo zu Präsident Vicente Fox, einen entscheidenden Übergang zur Demokratie erlebt – nach siebzig Jahren unangefochtener Herrschaft der PRI [Partido Revolucionario Institucional]. Es gibt also durchaus beruhigende Signale. Ein anderes Beispiel ist Brasilien, das zum ersten Mal über ein sehr solides Parteisystem verfügt. Kurzum: trotz der enormen Probleme, die wir dabei haben, uns in die internationale Wirtschaft zu integrieren, gibt es einen Handlungsspielraum für die Politik, und es stimmt nicht, daß wir dazu verurteilt sind, einem steifen, von außen aufgezwungenen Schema zu folgen.
Lateinamerika scheint politisch linksgerichtet zu sein. In Chile regiert ein Sozialdemokrat, in Argentinien ein Sozialist, in Brasilien ein Gewerkschaftler, in Venezuela eine populistische Linke, von Kuba ganz zu schweigen. Was denken Sie darüber?
WALKER: Ich halte das für einen sehr komplexen Prozess. Es ist nicht unbedingt ein Abdriften nach links, und vor allem handelt es sich nicht um die Linke, die uns bekannt ist, die von der kubanischen Revolution beeinflusste. Es gab da im lateinamerikanischen linken Flügel einen sozialistischen Erneuerungsprozess. Als christliche Demokraten sind wir Alliierte der Sozialisten und der demokratischen Sozialisten, und haben eine weitreichende Koalition ins Leben gerufen, die wir als Linksmitte bezeichnen können, eine Harmonisierung versöhnter Kräfte, die einstmals praktisch Feinde waren. Das ist auch dank einer gewissen Veränderung der Linken möglich geworden.
Ich bin also der Meinung, daß die alten Links-Rechts-Schemata, die von Kapitalismus und Sozialismus, nicht mehr dazu geeignet sind, eine so komplexe Realität wie die Lateinamerikas zu erklären, die sehr heterogen ist. Außerdem ist das Thema der Drift des Kontinents in Richtung linker Flügel nur so gespickt mit Gemeinplätzen. Brasilien verfolgt beispielsweise seit 10 Jahren ein interessantes Modell, das ich aber nicht eigentlich als „linksgerichtet“ bezeichnen würde. Zuerst Cardoso, und heute Lula, haben eine pluralistische Regierung ins Leben gerufen, mit einem Parteiensystem, das vielen Erfahrungen und verschiedenen Kulturen gerecht wird. Sie sagen, daß die Regierung Lulas eine Linksregierung ist, aber die ersten, die sagen, daß sie das nicht ist und sich bei Lula darüber beklagen, sind gerade die radikalsten unter den Militanten der Arbeiterpartei.
Das Freihandelsabkommen mit den USA hat vor ein paar Monaten nicht verhindert, daß sich Chile in Sachen Krieg im Irak auf die Seite der UNO stellte. Hat das die Beziehungen zu den USA beeinträchtigt?
WALKER: Unsere Abstimmung zum Krieg im Irak war eine Frage des Prinzips. Präsident Lagos sagte, als er über Bush sprach, daß Chile nicht zu einem Eingreifen bereit war, das vielleicht nicht multilateral war und auch nicht von den Vereinten Nationen gutgeheißen wurde, wie das dagegen bei der Befreiung Kuwaits ein paar Jahre zuvor der Fall gewesen war. Es ging also gegen das Konzept des Präventivkrieges und des unilateralen Vorgehens, und wir haben diese Haltung eingenommen, als die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen gerade im Gange waren. Die Prinzipien haben also über die Interessen gesiegt, aber in der Überzeugung, daß dieses Wirtschaftsabkommen letztendlich doch noch unterzeichnet werden würde. Das Abkommen ist heute in Kraft. Und trotz der Uneinigkeit in einer gewiß nicht unbedeutenden Frage sind die Beziehungen zu den USA heute gut.
Von links, der chilenische Präsident Ricardo Lagos, der brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva, 
und der argentinische, Nestor Kirchner.

Von links, der chilenische Präsident Ricardo Lagos, der brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva, und der argentinische, Nestor Kirchner.

In Bosnien und Haiti ist Chile dagegen an der Seite der Militärkräfte einiger Länder der Europäischen Union sehr wohl präsent. Welche Bedeutung hat diese Präsenz bei Friedensmissionen und internationalen Sicherheitsoperationen?
WALKER: Sie zeigt, daß Chile Friedensoperationen, wenn sie in einem multilateralen Rahmen erfolgen, sehr ernst nimmt. Wir sind heute in Haiti mit einem Kontingent von 400 Soldaten präsent und sind dabei, eine Strategie dahingehend auszuarbeiten, wie man zur Entwicklung dieses geplagten Landes beitragen kann. Wir haben uns auch für Friedensoperationen in anderen Ländern engagiert, beispielsweise in Zypern und Pakistan. Kurzum: wir glauben an Sicherheitspolitik und Friedensoperationen, wenn sie innerhalb der Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurden.
Welche politischen und wirtschaftlichen Perspektiven haben sich aus dem Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ergeben? Wie sieht man, jenseits des Atlantik, die EU? Würden Sie sich dieser oft zu hörenden Definition der EU anschließen: Wirtschaftsgigant und politischer Zwerg?
WALKER: Für uns hat das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, das ein Abkommen politischer Assozierung ist, des Freihandels und der Zusammenarbeit, eine grundlegende strategische Bedeutung. Für uns ist die EU kein politischer Zwerg. Im Gegenteil: ich glaube, daß die Europäische Union eine wirtschaftliche und, zur selben Zeit, auch eine politische Macht ist. In dieser Epoche scheint es nur das militärische Gewicht der USA zu geben, die als einzige Supermacht betrachtet werden. Aber das stimmt nicht. Die Europäische Union ist dabei, sich zu konsolidieren, und der Umstand, daß sie sich von 15 auf 25 Länder ausgeweitet hat, zeigt den Wunsch nach Entwicklung. So wie auch der Umstand, daß sie sich mit einer Verfassung „ausrüstet“, nicht nur eine kulturelle Frage ist, sondern zeigt, daß Europa stärker wird und auf die politischen und wirtschaftlichen Probleme der Welt Einfluß nehmen kann. Auch der Horizont der Probleme wird für die europäischen Politiker weiter, und einige alte Schemata sind inzwischen ganz einfach überholt. Es ist kein Zufall, daß über den UNO-Sicherheitsrat eine große Debatte im Gange ist, und darüber, wie man das Vetorecht ausräumen kann, das ein Überbleibsel des Kalten Krieges ist. Der Großteil meiner Begegnung mit Minister Frattini war gerade diesem Thema gewidmet.
Letzte Frage: in Santiago wird im Mai eine Versammlung auf Ministerebene jener Länder stattfinden, die der „Gruppe für die Entwicklung der Demokratie, der Menschenrechte und der Gemeinschaft der Demokratien“ angehören. Wir leben in einer Welt, wo Demokratie und Menschenrechte Konzepte sind, die oft zu anderen Zwecken instrumentalisiert werden. Welchen Beitrag kann das Treffen in Santiago zu Frieden und Verständnis leisten?
WALKER: Das demokratische politische System verdankt seine Legitimität der Fähigkeit, die Menschenrechte in der besten Weise zu garantieren und zu respektieren. Das war die Lektion, die Chile gelernt hat. Wir haben die Demokratie aufgrund dessen wiederaufgewertet, was wir in Sachen Menschenrechte erlebt haben. Wenn wir von Menschenrechten sprechen, tritt die ethische Grundlage der Demokratie auf den Plan. Die Versammlung von Warschau im Jahr 2000, der Aktionsplan von Seoul des Jahres 2002 und jetzt die bevorstehende Versammlung der Gemeinschaft der Demokratien in Santiago im Mai 2005, stellen einen Versuch dar, sich nicht nur für die Demokratie zu engagieren, sondern auch die Horizonte zu erweitern. Wenn wir beispielsweise sehen, daß Indien, die größte Demokratie der Welt, gerade einen komplexen Wahlprozess abgeschlossen hat; daß Indonesien, das 25 Jahre lang eine unerbittliche Diktatur über sich ergehen lassen mußte, im Verhältnis dazu, was die Realität des Landes ist, einen wirklich bemerkenswerten demokratischen Prozess erleben konnte; wenn wir an die Wahl von Präsident Lula in Brasilien denken, wo er vor zwei Jahren mit 62% der Stimmen den Sieg davontragen konnte, so sind das überaus tröstliche Signale. Mit dieser Initiative der Gemeinschaft der Demokratien wollen wir dazu beitragen, daß die Demokratie nicht nur ein politisches Regime ist, das sich im Moment der Wahl oder in den gewählten Institutionen zeigt, sondern in der bürgerlichen Gesellschaft spürbar wird; etwas, das jede Form von Vereinigung aufwertet, es allen, Männern und Frauen, ermöglicht, am Leben ihres Landes wirklich aktiv teilzunehmen.