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GESCHICHTE
Aus Nr. 10 - 2004

Großdeutschland, ein esoterischer Traum


Interview mit Giorgio Galli über die okkultistischen Wurzeln des Nazismus, aus denen auch der Gedanke geboren worden war, daß der Lebensraum des Dritten Reichs bis an den Ural reichen müsse. Ein von den Historikern vernachlässigter Aspekt, der seit dem Fall der Berliner Mauer wieder im Gespräch ist.


von Paolo Mattei


Hier, ein Manifest der SS (Schutzstaffeln) mit der Runen-Stilisierung der Abkürzung. Die Runen-Symbole wurden von Guido von List, einem Esoteriker, ausgearbeitet.

Hier, ein Manifest der SS (Schutzstaffeln) mit der Runen-Stilisierung der Abkürzung. Die Runen-Symbole wurden von Guido von List, einem Esoteriker, ausgearbeitet.

Professor Giorgio Galli ist nicht der Meinung, in der Lage zu sein, die Esoterik sozusagen aus einer „Insiderperspektive“ beurteilen zu können. Aber er ist ein anerkannter Esoterik-Experte. Er selbst definiert sich als „Historiker und Politologe, der die Meinung vertritt, daß die esoterische Kultur mehr mit den Disziplinen verflochten ist, die er praktiziert, als bisher von Historiographie und Politwissenschaft erkannt wurde.“
Unter diesem Aspekt hat er auch die Geschichte des Dritten Reichs studiert. Das Ergebnis dieser Studien war das 1989 veröffentlichte: Hitler e il nazismo magico. Le componenti esoteriche del Reich millenario [Hitler und der magische Nazismus. Die esoterischen Komponenten des Tausendjährigen Reiches] Rizzoli-Verlag, Mailand. 1989, ein Jahr, das laut Galli aus verschiedenerlei Hinsicht mehr als bedeutungsvoll ist: es war das Jahr, in dem sich der 100. Jahrestag der Geburt Hitlers und der 200. Jahrestag der Französischen Revolution jährte. „Das Jahr 1989,“ erläutert er im Vorwort der zweiten Auflage seines Buches, „sollte wegen der Revolution im Osten in die Geschichte eingehen: genau ein Jahrhundert nach der Geburt des Führers fiel die Berliner Mauer und somit stand einem erneut vereinten Deutschland, Hegemonialmacht in Europa, nichts mehr im Wege.“
Fünfzehn Jahre – und viele andere Ereignisse – später, nach der Tragödie des 11. September 2001, die noch immer tobende Kriege ausgelöst hat, wirft die Geschichte der Gewalt und des Todes, deren Protagonisten Hitler und der Nazismus waren, noch immer beunruhigende Fragen auf. Und der mögliche okkultistische, magische, esoterische Hintergrund dieses Phänomens ist nach wie vor von großem Interesse. Das italienische Fernsehen hat sich im vergangenen Jahr eingehend mit diesem Thema beschäftigt, und insbesonders auch zwei Bücher: Marco Dolcetta, Nazionalsocialismo esoterico, Cooper Castelvecchi, Rom 2003; und Mel Gordon, Il mago di Hitler, Eric Jan Hanussen: un ebreo alla corte del Führer, Mondadori, Mailand 2002.
Wir wollten Giorgio Galli (Verfasser vieler Artikel, einige davon zum Thema Esoterik und Politik, wie La politica e i maghi [Die Politik und die Magier], Rizzoli, Mailand 1995; Politica ed esoterismo alle soglie del 2000 [Politik und Esoterik an der Schwelle des Jahres 2000], Rizzoli, Mailand 1992; Appunti sulla new age [Notizen zu New Age], Mailand 2003, worin er diese Bewegung analysiert und sich dabei auch von Papstdokumenten inspirieren läßt) einige Fragen stellen.

In Ihrem Artikel über den magischen Nazismus sprechen Sie von einer „esoterischen Brücke“ zwischen England und Deutschland, zwischen esoterischen und okkultistischen Theorien und Gesellschaften, die es in diesen beiden Nationen im 19. und 20. Jahrhundert gab. Eine Brücke, die auch bis zu den Begründern des Nazismus reichte. Worum handelt es sich dabei?
GIORGIO GALLI: An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert erwachten die esoterischen Traditionen sowohl in Deutschland als auch in England zu neuem Leben. Eine „esoterische Brücke“, die der Rosenkreuzer, zwischen den beiden Staaten geht nämlich bereits auf das 17. Jahrhundert zurück und bezieht sich auf die okkultistische Kultur, die dem für Deutschland katastrophalen Dreißigjährigen Krieg nichts Unbekanntes war. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konnten die esoterischen Gruppen in England und Deutschland neue Kraft schöpfen, knüpften einflußreiche Personen untereinander enge Beziehungen an, und diese Beziehungen auf der Grundlage einer „magischen“ Betrachtungsweise der Realität konnten über zwei Generationen erhalten werden. Auch an beunruhigenden Elementen fehlte es nicht. Wie der sogenannten „sexuellen Magie“, bzw. der Verleihung „besonderer“ Kräfte durch Sexualpraktiken: im Jahr 1888, dem Jahr nach der Gründung des Hermetic Order of the Golden Dawn [hermetischer Orden von der goldenen Morgenröte] hielt Jack the Ripper mit seinen Sexualverbrechen ganz London in Atem. Ein Fall, auf dem noch heute der Schleier des Geheimnisses liegt. Das „Wiederaufleben“ der esoterischen Kultur in Europa wurde von verschiedenen Persönlichkeiten geprägt: von der Begegnung zwischen dem französischen Okkultisten Eliphas Levi, biblisches Pseudonym Alphonse-Louis Constants, ehemaliger Seminarist und späterer Revolutionär im Paris des Jahres 1848, und Edward Bulwer-Lytton, der eine entscheidende Rolle bei der Umformung der Geheimgesellschaft vom Rosenkreuz in den hermetischen Orden Golden Dawn spielen sollte. Nach verschiedenen politischen und okkultistischen Aktivitäten schrieb Levi ein Buch, La razza ventura, in dem von der Form der Energie die Rede ist, dem „Vril“, nach dem eine Gesellschaft benannt werden sollte, die, zusammen mit der Aktivität des Gründers des geopolitischen Instituts Berlin, Klaus Haushofer, einen entscheidenden Beitrag zur Ausarbeitung von Nazi-Gedanken wie „Lebensraum“ und „Arier-Rasse“ leisten sollte.
Welchen kulturellen Hintergrund und welche Theorien hatten diese Gruppen gemeinsam?
GALLI: Zunächst einmal eine Vorstellung, nach der die Geschichte, die wir kennen, nur ein Teil der Menschheitsgeschichte ist. Nur einige élites von Eingeweihten kannten die „ganze“ Geschichte. Die alte Geschichte von reinen und unverdorbenen Zivilisationen. Dieses Wissen und diese Erfahrung, die man durch okkultistische Riten und Praktiken erlangen konnte, verlieh den Eingeweihten eine besondere Macht, die auch eine politische Rolle spielen mußten, um die Zukunft einer dekadenten Menschheit in die Hand nehmen zu können, damit sie die mit der Zeit verlorenen Gaben und Merkmale wiedererlangen konnte. Die Mitglieder dieser Gesellschaft hielten sich also für Hüter eines antiken Ur-Wissens, das sich oft in besonderen Riten zeigte. Eine interessante Randbemerkung: einige Anhänger dieser esoterischen Gruppen waren auch in den Geheimdiensten ihrer Länder tätig. Eine Schlüsselfigur in diesem Sinne war Theodor Reuss, vom okkulten Ordo templi orientis, Lehrmeister des Engländers Aleister Crowley. Crowley, ebenfalls Lehrmeister des Okkultismus und gleichzeitig im englischen Geheimdienst, wurde Ende des 19. Jahrhunderts Mitglied des Geheim­ordens Golden Dawn – einer „Abzweigung“ des Rosenkreuzerordens – und gründete dann eine englische Sektion des Ordo templi orientis. Der Geheimorden Golden Dawn war mit deutschen Vereinigungen verbunden, die wiederum an die Geheimlehre der Russin Elena Blavatskij – die 1875 in New York die theosophische Gesellschaft gegründet hatte – und die Anthroposophie von Rudolph Steiner anknüpften.
Hitler setzt die nationalsozialistische Partei wieder ein (die nach dem Putsch von 1923 verboten worden war), München 1925; der erste von links ist Alfred Rosenberg; der erste von rechts Heinrich Himmler, seit 1929 Chef der SS; auf ihn geht der Gedanke und die Organisation der Konzentrationslager zurück; unten, der Okkultist Aleister Crowley, Agent des englischen Geheimdienstes und Mitglied des Geheimordens Golden Dawn.

Hitler setzt die nationalsozialistische Partei wieder ein (die nach dem Putsch von 1923 verboten worden war), München 1925; der erste von links ist Alfred Rosenberg; der erste von rechts Heinrich Himmler, seit 1929 Chef der SS; auf ihn geht der Gedanke und die Organisation der Konzentrationslager zurück; unten, der Okkultist Aleister Crowley, Agent des englischen Geheimdienstes und Mitglied des Geheimordens Golden Dawn.

Wie kam Hitler mit dem esoterischen Gedankengut in Kontakt? Wer waren seine Mentoren?
GALLI: Der Anfang ist wohl in der Zeitschrift Ostara zu suchen, die Hitler in den Wiener Jahren eifrig las. Die Zeitschrift – die ihren Namen einer germanischen Frühlingsgöttin verdankt und daher eine Verbindung zu der nordischen Tradition und zu den alten heidnischen Gottheiten herstellte, die vor der Verbreitung des Christentums auf deutschem Boden bekannt waren – war 1905 von einem ehemaligen Mönch gegründet worden, Jörg Lanz von Liebenfels, der sich auf Schloß Werfenstein niederließ, wo er – wohl mit der finanziellen Unterstützung einiger Industrieller – begann, eine Organisation zu leiten, die sich auf die Theorie der Überlegenheit der arischen Rasse gründete. Ein anderer Bezugspunkt für die esoterische „Bildung“ des zukünftigen Führers ist Rudolf von Sebottendorff, ein Experte in Sachen Kabbala, alchemistischer und Rosenkreuzer-Texte, der okkultistischen Praktiken der Derwische, und Förderer, 1918 in München, der Thule-Gesellschaft, einer auf den Germanenorden zurückgehenden Vereinigung (der Germanenorden war eine im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstandene Gesellschaft, die stark von antisemitischen und rassistischen Elementen geprägt war). Im Bannkreis der Thule-Gesellschaft bewegten sich also Hitler, Rudolf Heß, Karl Haushofer und Hans Frank, zukünftiger Generalgouverneur in Polen. Eine Vereinigung, in der die okkultistische Kultur und die geheimen Lehren dominierten, die in den vorausgegangenen Jahrzehnten gereift waren. Die Thule-Gesellschaft – mytisches Atlantis, Vaterland der Hyperborer – prägte also diese Gruppe von Intellektuellen und bildete den Ausgangspunkt für den Nazismus. Von Sebottendorff sollte 1933 übrigens ein Buch veröffentlichen, Bevor Hitler kam, in dem er in dem Wunsch, die Debatte um die esoterischen Wurzeln der Esoterik wieder anzuheizen, berichtet, der okkultistische Lehrmeister des Führers gewesen zu sein. Aber diese Gruppe von Intellektuellen, die damals an der Macht war, hatte bereits seit geraumer Zeit beschlossen, daß es besser wäre, es nicht an die große Glocke zu hängen, daß ihre Bezugspunkte esoterische und okkultistische Elemente waren, sondern vielmehr die politische Organisation herauszustellen. Außerdem war Hitler im Erscheinungsjahr des Buches von Von Sebottendorff bereits Reichskanzler. Und daher wurde es auch prompt „geächtet“ und kurzentschlossen aus dem Buchhandel genommen.
Welche grundlegenden Merkmale hatte die esoterische Gruppe, an die sich Hitler anlehnte?
GALLI: Hier muß man vorausschicken, daß eine der Schwierigkeiten, die sich bei Studien in diesem Bereich stellen, die Tatsache ist, daß sich die offizielle Historiographie, die akademische, kaum mit diesen Dingen beschäftigt. Die Arbeit im Bereich der esoterischen Kultur wird oft wenig bedeutenden Gelehrten oder extravaganten Persönlichkeiten überlassen, die selten mehr als oberflächliche Studien zustandebringen. Die Tatsache, daß sich die offizielle Historiographie nicht in dieser Richtung engagiert, macht den Zugang zu zuverlässigen Dokumenten schwierig. Ich bin davon überzeugt, daß man hier sehr viel mehr finden könnte. Aber um wieder auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich habe auf Zivilisationen und Wissensgut angespielt, das auf uralte Zeiten zurückgeht – Atlantis ist hier der wichtigste Bezugspunkt –; auf diese kulturelle Komponente also, die sich auf Phantasiegeschichte gründet, auf Phantasiegeographie, auf Phantasiekosmogonie und auf die okkulten Gesetze, die sie leiten sollten. Hitler war der Meinung, daß die Motive für sein politisches Handeln in jener fernen Zeit zu suchen waren, in einer magischen Weisheit, die es wiederzuerlangen galt, und in der das Instrument für eine glorreiche Zukunft lag. Die Gruppe von Intellektuellen der Thule-Gesellschaft, die in den Zwanzigerjahren die Umwandlung der okkultistischen Sekte in politische Massen-Partei beschloß, war von diesen Dingen fest überzeugt. Weshalb es auch zwei Dynamiken gab: die tiefe Überzeugung der Eingeweihten, die in diesen Gruppen wirkten, und, gleichzeitig, einen gewissen Einfluß, den diese in gewissen historischen Momenten auf die politischen Bewegungen ausübten. Hitler, Himmler, Heß, Rosenberg, Frank: sie hielten sich für die Erben eines antiken Wissens, das es ihnen ermöglichen sollte, Erbauer einer neuen Zivilisation zu sein. Man muß sagen, daß auch ein überaus geschätzter, „traditioneller“ Historiker einige dieser esoterischen Elemente herausgestellt hat: George Mosse, der in seinem Buch Cultural Origins of the Third Reich in dem Esoteriker Guido von List und seiner Runen-Symbolik einen der Bezugspunkte Hitlers ausmachte. Von den von Von List studierten Runen stammte die Abkürzung SS für die Schutzstaffeln, die Himmler dazu benutzen sollte, seine im Bereich der okkultistischen Kultur ausgearbeiteten Projekte umzusetzen.
Oben, Adolf Hitler mit Rudolf Heß auf einem Foto von 1939; unten, englische Soldaten beseitigen die Reste des Flugzeuges, mit dem Heß 1941 nach Großbritannien geflogen war, um vor der deutschen Invasion ein Abkommen zu erreichen.

Oben, Adolf Hitler mit Rudolf Heß auf einem Foto von 1939; unten, englische Soldaten beseitigen die Reste des Flugzeuges, mit dem Heß 1941 nach Großbritannien geflogen war, um vor der deutschen Invasion ein Abkommen zu erreichen.

Hitler wird oft als ein ungebildeter Mann ohne Qualitäten beschrieben. Wie konnte er sich in der esoterischen Gruppe, der er angehörte, behaupten?
GALLI: Ihn als ungebildet zu beschreiben, ist eine weit verbreitete Tendenz, die man auch in der Arbeit von Joachim Fest findet, Biograph des Führers, der auch bei dem jüngsten Film über den Führer, Der Untergang, als Berater fungierte. Fest hat eine ausgezeichnete Hitler-Biographie geschrieben, neigt aber dazu, ihn als eine Art „Wirtshausphilosophen“, zu beschreiben, als jemanden, der außer antisemitischen Propaganda-Schriften nicht viel gelesen hat. Und das entspricht nicht der Wahrheit. Hitler las Nietzsche und Schopenhauer, und in der Gruppe um Rosenberg, Heß, Himmler und Frank konnte er sich behaupten, weil er zwei Eigenschaften besaß, die auch von der esoterischen Kultur herrühren konnten. Er war ein hervorragender Redner und ein geschickter Organisator. Erstere Eigenschaft hatte er vielleicht von dem Magier Hanussen geerbt, diese Fähigkeit, seine Zuhörer fast schon zu hypnotisieren. Wir wissen mit Sicherheit, daß sich Hitler von Hanussen Sprech­unterricht geben ließ. Aber er hat von diesem Magier noch mehr gelernt. Hanussen war eine Persönlichkeit mit hypnotischen Fähigkeiten, und das Buch von Mel Gordon läßt diese Geschichte recht gut wieder aufleben. In Mein Kampf schlägt Hitler – neben einer esoterischen Ideologie – auch präzise Organisationsprogramme vor. Die den Gedanken entstehen lassen, von einem guten Politiker ausgearbeitet worden zu sein. Himmler, der Bürokrat des Massenmords, hatte ähnliche Organisationstalente, aber beileibe keine Kommunikationsfähigkeiten. Dasselbe galt für Heß. Rosenberg konnte nur gut schreiben... In dieser Gruppe, die sich um die esoterische Kultur gebildet hatte, besaß also niemand außer Hitler diese beiden Eigenschaften.
In Mein Kampf werden die Ziele dargelegt, die sich Hitler setzt: die Schaffung eines „Lebensraums im Osten“, ein Welt-„Kondominium“ mit England...
GALLI: Ja, dabei handelt es sich um eine esoterische Strategie, in der sich Okkultismus und Geopolitik verflechten. Die Theorie vom „Lebensraum“ wurden von Haushofer ausgearbeitet. Auf der Grundlage mystischer und spiritueller Betrachtungen, die in der deutschen Nation das Zentrum der Welt ausmachten, aber auch angelehnt an andere Theoretiker der Geopolitik – wie den Engländer Halford John Mackinder, für den „das Herz der Welt“ Osteuropa und das europäische Russland war –, war Haushofer davon überzeugt, daß für den Bau der arischen Zivilisation ein großer Raum notwendig war, der bis zum Ural reichte. Der „Lebensraum“ der neuen arischen Zivilisation also. Deutschland war die Basis dieser geo­politischen Einteilung, Auftakt zur Schaffung einer neuen Zivilisation und eines neuen Menschen, der die verlorenen antiken Tugenden wiedererlangt. Die Juden, die einen entgegengesetzten Welthegemonie-Traum haben, mußten ausgegrenzt, und dann beseitigt werden. Der „Drang nach Osten“ ist also auf dieses Projekt esoterischer Natur zurückzuführen.
Unter den Führungskräften des Dritten Reichs befanden sich aber doch auch Männer, die nicht dem Kulturkreis Hitlers und seiner Kumpane angehörten....
GALLI: Das stimmt, aber auch sie waren vom Okkultismus beeinflußt: Goebbels hatte beispielsweise ein Faible für Nostradamus... Und schließlich hießen Göring und Goebbels das Programm Hitlers auch deshalb gut, weil sie von dem esoterischen Gedankengut beeinflußt waren.
Kommen wir zum Mai 1941: Heß fliegt nach Schottland. Auch dahinter steckt ein esoterischer Traum...
GALLI: Das Programm des Kondominiums mit England auf der Grundlage der Lebensraumtheorie als Voraussetzung für den Bau einer neuen Menschheit wurde nie aufgegeben, auch bei Kriegsausbruch nicht, als offensichtlich wurde, daß man nicht auf die erhoffte Neutralität Großbritanniens zählen konnte. Die „Brücke“ war noch nicht solide genug. Und schließlich kann man auch die Episode des Stops der deutschen Panzer in Dunkerque 1940, was Engländern und Franzosen die Flucht ermöglichte, unter dieser Perspektive sehen: den Versuch, ein Abkommen mit den esoterischen „Kollegen“ auf der Insel zu erreichen. Am 10. Mai 1941 flog Heß nach Schottland, um diese „Kollegen“ davon zu überzeugen, daß es besser wäre, im Moment des Einmarsches in Rußland nicht einzugreifen. Er wollte sich wohl mit den Erben der Golden ­Dawn treffen, die Kontakte zum Königshaus unterhielten und mit denen man reden konnte. Es steht außer Zweifel, daß Heß Herzog Hamilton treffen wollte, einen Vertrauensmann des Königs von England und Nazifreund, der zu Heß und den Führungskräften des Reiches Kontakte hatte. Der Beschluß, diese Reise anzutreten, war wahrscheinlich von den esoterischen Nazispitzen getroffen worden und es ist anzunehmen, daß Hitler davon wußte. Die Operation war von einer großangelegten Verschleierungsaktion begleitet. Doch Heß und die Nazis machten sich umsonst Illusionen: die „Brücke“ existierte zwar, war aber nicht solide genug, um eine Art Abkommen zwischen Deutschland und England in Sachen „Drang nach Osten“ tragen zu können. Im Mai 1941 hatten sich auch die englischen Aristokraten davon überzeugt, Deutschland den Krieg ansagen zu müssen.
Hans Frank, im Dritten Reich Generalgouverneur in Polen, gehörte zur Gruppe um die Thule-Gesellschaft, jene Intellektuellen, die den Nazismus begründet haben.

Hans Frank, im Dritten Reich Generalgouverneur in Polen, gehörte zur Gruppe um die Thule-Gesellschaft, jene Intellektuellen, die den Nazismus begründet haben.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Hitler bis zum Schluß versucht, ein Abkommen mit England zustande zu bringen.
GALLI: Ja, nach dem Sieg über Rußland verlegte Hitler die Panzerdivisionen von der Ost- an die Westfront, anstatt die russische Gegenoffensive aufzuhalten. Die Taktik war stets dieselbe: „England zum Frieden zu zwingen“, wie er selbst gesagt haben soll. Er glaubte bis zum Schluß, daß diese esoterische Brücke wieder aufgebaut werden könne.
Wie ist es möglich, daß man es mit Hilfe esoterischen Gedankengutes zu einer so großen Macht bringen konnte, wie sie Hitler und die Seinen in Deutschland hatten?
GALLI: Ich habe es immer vermeiden wollen, die Esoterik als einzige Interpretationsmöglichkeit anzubieten. Wenn es – wie bereits gesagt – zwar sicher ein wichtiger und ein wenig vernachlässigter Aspekt ist. Die Gründe dafür, warum sich Hitler durchsetzen konnte, sind ja bereits ausreichend studiert worden, und ich will das auch gar nicht in Frage stellen: die Demütigung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, die Frustrationen, die diese Niederlage und der Versailler Friedensvertrag mit sich gebracht hatten, die Wirtschaftskrise des Jahres 1929, die 6 Millionen Arbeitslosen, die Weimarer Politik, die keine Lösung für diese Probleme parat hatte. Das waren die Hauptgründe dafür, daß Hitler an die Macht kommen konnte. Hitler schaffte es schon vor der Aufrüstung, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, mit großangelegten öffentlichen Arbeiten, für die er den Ratschlägen des Finanziers und Politikers Hjalmar Schacht folgte. Und schließlich präsentierte Hitler in Mein Kampf ein politisches Projekt mit normalen Aspekten, wie eben dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
Der Bischof von Münster, August von Galen, der während der Nazi-Zeit von der New York Times als „unerbittlichster Gegner des antichristlichen nationalsozialistischen Programms“ dargestellt wurde, sprach von einer „religiösen Täuschung“...
GALLI: In einem gewissen Sinne war es das auch. Schließlich hat auch Pius XI. mit der Enzyklika Mit brennender Sorge seine große Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Er sprach von einem Neuheidentum. In Wahrheit kann man von etwas sprechen, das ein bißchen mehr als Neuheidentum war. Alle Nazi-Zeremonien weisen ein religiöses Modell auf: die Lichter, der Führer, der wie eine magische Erscheinung anmutete. Sie alle haben den Charakter einer magischen Liturgie.
Selbst Churchill, der große Gegner der esoterischen Programme des Führers, soll die Gesellschaft von Okkultisten nicht verschmäht haben...
GALLI: In meinem Buch La politica e i maghi [deren italienische Neuauflage bald beim Lindau-Verlag erscheinen wird, Anm.d.Red.] wird erklärt, daß selbst Churchill auf Seher vertraute. Churchill war ein eingefleischter Konservativer und ein eingefleischter Antikommunist. Wir dürfen nicht vergessen, daß er für Mussolinis Zeitschrift Popolo d’Italia schrieb. Laut seiner Weltanschauung waren nur die englischsprachigen Völker zur Demokratie fähig. Für alle anderen Völker war jede Regime-Form gut genug. Seiner Meinung nach deckte sich die Geschichte der westlichen Welt mit der Geschichte der englischsprachigen Völker. Hitler hätte ihm also durchaus gefallen können – und gewissen konservativen Kreisen der englischsprachigen Völker gefiel er auch. Ich glaube jedoch, daß Churchill zu einigen englischen esoterischen Gesellschaften Kontakte hatte, durch die er Informationen über die „Gegen-Initiation des Führers“ erhalten hatte.
Karl Haushofer, Gründer des geopolitischen Instituts Berlin und Begründer der Nazi-Theorie vom „Lebensraum.“

Karl Haushofer, Gründer des geopolitischen Instituts Berlin und Begründer der Nazi-Theorie vom „Lebensraum.“

Was heißt das?
GALLI: In der esoterischen Kultur gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen „Initiation“ und „Gegen-Initiation.“ Die Initiation – die freimaurerische, versteht sich – wäre positiv. Die Gegen-Initiation dagegen hat etwas Diabolisches: Churchill, der erfahren hatte, daß Hitler ein „Gegen-Initierter“ war und über den „esoterisch-diabolischen“ back­ground Hitlers unterrichtet worden war, fürchtete, daß hinter den Zielen, über die man vielleicht hätte verhandeln können – freie Hand für Deutschland in Europa und im Osten gegen die Garantie der Kontinuität des britischen Reiches – in Wahrheit Ziele steckten, über die man nicht verhandeln konnte: das Imperium des Bösen. Hitler wollte nicht nur ein Imperium geopolitischer Art. Er wollte ein Imperium, das ihm die Herrschaft über die Gewissen garantierte, gegründet auf Werte, die auch der antikommunistische Konservative Churchill als negativ und inakzeptabel betrachtete. Es ist jedoch eine Tatsache, daß sich die Prophezeiung Hitlers über das Ende des britischen Reiches im Großen und Ganzen bewahrheitet hat. Hitler prophezeite, daß Churchill das britische Reich zerstört und den USA das Herrschaftszepter überreicht hätte.
Eine letzte Frage, Herr Professor. René Girard hat kürzlich in einem Interview gesagt, daß „die Verachtung der Nazis für das christliche Mitgefühl den Opfern gegenüber noch nicht aus der Geschichte verschwunden ist.“ Der französische Professor hat auch bekräftigt, zu fürchten, daß „in Zukunft jemand den Versuch unternehmen könnte, das Prinzip in einer politically korrekteren Form neu zu formulieren und ihm womöglich noch einen christlichen Anstrich verleiht.“ Wie sehen Sie das?
GALLI: Girard ist ein bedeutender Gelehrter, sehr belesen und mit großem Durchblick. Ich halte einen Nazismus „mit christlichem Anstrich“ durchaus für möglich, auch, weil der Nazismus mit seinen spezifischen Merkmalen nicht wiederholbar ist. Und ich glaube nicht, daß die repräsentative Demokratie von autoritären Bewegungen wie denen der Zwanziger- und Dreißigerjahre ins Wanken gebracht werden kann. Es besteht jedoch die Gefahr, daß in den westlichen Demokratien die Demokratie-Formen ohne die Substanz aufrechterhalten werden. Die Parteien werden nicht mehr verboten, die bürgerlichen Freiheiten werden in gewissem Maß garantiert sein, doch es könnte gleichzeitig die Gefahr bestehen, daß von der Demokratie nur die Formeln übrigbleiben, und nicht die Substanz. Es könnte eine als Demokratie „verkaufte“ Nicht-Demokratie geben. Die Intuition Girards ist also plausibel: wie sich eine Antidemokratie mit scheinbar demokratischen Modalitäten präsentieren kann, kann auch ein Antichristentum, das für die Opfer nur Verachtung übrig hat wie der Nazismus, „operieren“, wenn es sich den Anstrich christlicher Formen gibt. Ich möchte mich nicht zu weit in ein Gebiet vorwagen, das ich nicht kenne, aber ich weiß, daß es Publikationen gibt – die eine immer größere Verbreitung finden –, in denen Tendenzen zum Ausdruck gebracht werden, die man meiner Meinung nach als „apokalyptischen Integralismus“ bezeichnen kann. Diese Tendenzen könnten eine Gefahr der Art bergen, wie sie Girard anspricht. Einige isolierte Merkmale, die bei der Verbreitung des Nazismus zum Tragen kamen, könnten in diesem Kontext wieder auftauchen.


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