Ein Bischof unter den moral bombs
Der Löwe von Münster, bzw. der „unerschrockenste Gegner des Nazismus“, wie ihn die New York Times 1942 definierte, beklagt die schrecklichen Bombenangriffe der Alliierten, die die deutschen Städte in ein Trümmerfeld verwandelten. Lesen Sie hier, was der Bischof von Münster in den Kriegsjahren an Pius XII. geschrieben hat.
von Stefania Falasca
Die von den Bomben der Alliierten zerstörte Stadt Münster
„‚Man hatte uns um 22 Uhr eines Samstag abend, mitten auf einer Party, Bescheid gegeben, uns bereit zu halten,‘ steht in dem Bericht von Major Ellis B. Scripture, US-Navigator des 95. Bombengeschwaders, zu lesen. ‚Der Befehl für den Luftangriff ging per Fernschreiber ein. Man teilte uns mit, daß unser Ziel der Eingang des Doms zu Münster sei. Ich war entsetzt – zum ersten Mal seit Kriegsanfang sollten Zivilisten bombardiert werden! Ich begab mich sofort zu Oberst Gerhart und sagte ihm, daß ich einen solchen Befehl unmöglich ausführen könnte. Er aber reagierte genau so, wie ich mir das von einem dienstbeflissenen Karriereoffizier erwarten mußte: ‚Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Herr Major,‘ wies er mich zurecht: ‚Wir haben Krieg! Haben Sie das verstanden?? K-R-I-E-G! Das ist eine Schlacht mit allen Mitteln, töten die Deutschen etwa nicht seit Jahren unschuldige Menschen in ganz Europa? Unsere Aufgabe ist es, sie in Stücke zu reißen. Und genau das werden wir auch tun! Ich bin der Leiter dieser Mission, und Sie sind mein Navigator, Sie werden also genau das tun, was ich Ihnen sage! Noch irgendwelche Fragen?‘ ‚Nein, Sir!‘ antwortete ich. Und damit war die Sache erledigt“1.
Die erste Sprengbombe traf ihr Ziel mit unglaublicher Präzision: das viereckige Gewölbe des Doms zu Münster. Der von stattlichen romanischen Türmen eingefaßte Ost-Eingang des Doms war wirklich auch nur schwer zu verfehlen. Die Überlebenden ergriffen panikartig die Flucht, suchten unter den Mauern der Türme Zuflucht, die – solide wie das Firmament – siebenhundert Jahre überdauert hatten. Doch schon die zweite Sprengbombe traf sie mit voller Wucht, brachte sie zum Einstürzen: ein Trümmerregen ergoß sich auf die schutzsuchenden Menschen. Und nach den Sprengbomben kamen die Brandbomben. Die getroffenen Gebäude fingen sofort Feuer. Die Altstadt glich einer einzigen Fackel. Dichte, gelb-schwarze Rauchschwaden stiegen kilometerhoch in den Himmel. Nur wenige Minuten hatten genügt, um die schöne, altehrwürdige Bischofsstadt Münster – im wahrsten Sinn des Wortes – in Schutt und Asche zu legen. Um 16 Uhr 30 erklärte Oberst Gerhart die „Operation Münster“ für abgeschlossen.
So endet die detaillierte Rekonstruktion jener Bombardierung. Zu verdanken haben wir sie dem Historiker Jörg Friedrich. Die Geschichte ist aus Geschichten gemacht, und um diese zu erzählen, fügte Friedrich in den Anmerkungen noch eine Randbemerkung an. Ein Detail, zu dem sich jeder Kommentar erübrigt. „Oberst Gerhart mußte allerdings zugeben, daß doch nicht alles nach Plan gelaufen war. Die Mission war nicht ganz zu Ende geführt worden. ‚Es ist uns ein Fehler unterlaufen,‘ heißt es in der Kommunikation: ‚Das 305. Bombengeschwader hat nicht Münster, sondern Enschede, in Holland, angepeilt. Da man es mit der deutschen Stadt verwechselte, wurde die gesamte Bombenladung über Enschede abgeworfen. Sorry. Tut uns leid!‘2.“
Bischof Clemens August von Galen auf dem Trümmerfeld, das einst der Domplatz war.
Als die Sirenen Bombenalarm gaben, legte der Bischof gerade die Paramente an, um in die Kathedrale hinunterzugehen. Er schaffte es nicht, rechtzeitig in den Luftschutzkeller zu kommen, berichtet Kanoniker Alois Schröer: seine Residenz wurde von Sprengbomben getroffen und zerstört. Er hielt sich an der einzigen Mauer fest, die stehengeblieben war3. Und genau dort fand ihn sein Sekretär Heinrich Portmann: „Während die Flugzeuge noch die Stadt überflogen, sah ich den ehrenwerten Monsignore dort oben stehen, unter freiem Himmel, zwischen den rauchenden Trümmern... wie durch ein Wunder war er unversehrt geblieben. Unter großen Schwierigkeiten half ich ihm herunter [...]. Später, im Kolleg Ludgerianum, informierte ich ihn über die Todesopfer unter den Gläubigen... Vikar Emmerich und die 59 Clemensschwestern, deren Kloster von einer Brandbombe getroffen worden war, was sie alle das Leben gekostet hatte. Nachts bat er mich, ihn zum Dom zu begleiten. Und dort stand er dann, bewegungslos, vor diesem Trümmerfeld, das ein Raub der Flammen geworden war, und weinte lautlos“4.
War es nicht genau hier gewesen, in diesem Dom, wo der „Löwe von Münster“ seine unerschrockenen Anklagen gegen die schrecklichen Verbrechen der Nazis erhoben, es gewagt hatte, Hitler die Stirn zu bieten – wie niemand zuvor im Dritten Reich? So daß ihn – erst ein Jahr zuvor – sogar die New York Times wegen seines ungebrochenen Mutes, seiner Furchtlosigkeit, als „unerschrockensten Gegner des Nazionalsozialismus“5 bezeichnet hatte. Der vor Wut schäumende Hitler hatte zwar geschworen, mit ihm abzurechnen6, aber auch erkannt, daß er damit ganz Westfalen gegen sich aufgebracht hätte.Und hatte sich wohl oder übel damit abfinden müssen, daß die „Abrechnung“ bis Kriegsende warten mußte. Aber das gehört ja inzwischen alles der Vergangenheit an.
Das von den Bombardierungen des Jahres 1945 vollkommen dem Erdboden gleichgemachte Dresden.
Ein Schicksal, das Münster mit vielen anderen deutschen Städten teilte, in dieser „therapeutischen Versteifung“ auf den Feuertod, die zur gänzlichen Zerstörung des Landes führte“9. Münster gehörte jedoch nicht zu den von den alliierten Bomberstaffeln vorgezogenen Städten.Jenen also, an denen so ausgeklügelte Techniken wie „maximum use of fire“, mit Spezialeffekten à la „Feuersturm“ „ausprobiert“ wurden und die Deutschland in Ödland verwandelten: Städte wie Potsdam, Lübeck, Hamburg, Dresden... die „Lieblingskinder“ von Arthur Harris, „Kopf“ des moral bombings, der die verzeichneten „Vernichtungserfolge“ als „Operation Gomorra“ bezeichnete. Und doch: kaum hatte die Zahl der Opfer dieser Operationen eine vierstellige Größenordnung erreicht, hörte man in England – während die Militärköpfe die „Hamburgisierung“ Deutschlands planten – damit auf, diese Zahlen öffentlich bekannt zu geben. Die Engländer, die die feindlichen Luftangriffe auf London über sich ergehen hatten lassen müssen, wußten nur allzu gut, was die „gezielten Säuberungsaktionen durch die Bomber Commands10“ bedeuteten. Und als die Strategie der Flächenbombardierung intensiviert wurde, mußte der anglikanische Erzbischof von York, Cyril Forster Garbett, einschreiten und wieder einmal die Augustinus-Definition vom „gerechten Krieg“ ausgraben, um diesen ungeheuren Aufwand an menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen der öffentlichen Meinung gegenüber zu rechtfertigen. Ein anderer namhafter Vertreter der anglikanischen Kirche, der Bischof von Chichester, George Bell, wagte es jedoch, öffentlich eine andere Frage zu stellen: „Wer verkörpert das ‚kriegliebende Deutschland‘, und wer ist dagegen einfach nur Opfer des ‚gerechten Krieges‘, mit dem diesem Krieg ein Ende gesetzt werden soll?“11. Und vor einem House of Lords in Aufruhr erklärte Bell: „Die Alliierten dürfen sich nicht zu Gottheiten aufschwingen, die den Feind vom Himmel aus in Rauch und Flammen aufgehen lassen. Ein Gott kann alle Plagen schicken, die er will, weil er keinem Gesetz unterworfen ist, ja, selbst das Gesetz repräsentiert. Das auf unserem Banner geschriebene Schlüsselwort heißt Recht. Wir, die wir zusammen mit unseren Alliierten die Befreier Europas sind, müssen unsere Kraft in den Dienst des Rechtes stellen. Und das Recht ist gegen die Bombardierung der Feindesstädte, vor allem gegen Flächenbombardierungen!“. „Und daher fordere ich,“ schloß er, „daß von der Regierung die Rechtfertigung ihrer Politik der derzeit erfolgenden Bombardierungen von Feindesstädten verlangt wird, vor allem der Aktionen gegen Zivilisten, Nicht-Kämpfende sowie nicht-militärische und nicht-industrielle Ziele“12. Das war am 11. Februar 1943. Ein Jahr später, am 9. Februar 1944, zog Bell im House of Lords erneut unerbittlich gegen eine Praxis ins Feld, die sich als wahres Desaster erwiesen hatte: „Die eingesetzten Mittel und das erreichte Ziel müssen im rechten Verhältnis zueinander stehen. Eine ganze Stadt auszulöschen, hat damit gewiß nichts mehr zu tun. Die Frage der Bombardierungen ohne Maß und Ziel ist von entscheidender Bedeutung für Politik und Handeln der Regierung! Die Nazi-Mörder und das deutsche Volk, dem von ersteren alles Mögliche angetan wurde, auf eine Stufe zu stellen, bedeutet, der Barbarei Tor und Tür zu öffnen“13. Dieselben weitblickenden und mutigen Feststellungen also, die, auf der anderen Seite, im vom moral bombing verwüsteten Deutschland, schon Bischof von Galen getroffen hatte!
Hier oben, General Arthur Harris; unten, George Bell, der anglikanische Bischof von Chichester.
Am 20. August 1945 hatte von Galen an Papst Pacelli geschrieben: „Müssen doch sogar die von den Besatzungsmächten dirigierten neuen deutschen Zeitungen immer wieder Äußerungen veröffentlichen, die dem gesamten deutschen Volke, auch jenen, die den Irrlehren des Nationalsozialismus niemals gehuldigt und nach Vermögen ihnen Widerstand geleistet haben, eine Kollektivschuld und Verantwortung für alle Verbrechen der früheren Machthaber andichten wollen.“ Und voller Bitterkeit hatte er danach festgestellt: „Es scheint, daß diese Gesinnung die Grundlage für die [...] rücksichtslose Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Heimat und Besitz [...] ist.“ Und weiter: „Wahrhaft erschreckend ist es, wie der im Rassekult des Nationalismus kulminierende übertriebene Nationalsozialismus jetzt auch bei den Siegern derartig herrschend geworden ist, daß man in Potsdam beschlossen hat, die gesamte deutsche Bevölkerung aus den an Polen und die Tschechoslowakei fallenden Gebieten auszuweisen und in die jetzt schon überbevölkerten deutschen Westgebiete zusammenzudrängen“17.
In seinem Brief vom 25. September 1945 beschrieb er Papst Pacelli erneut den schrecklichen Zustand der besetzten Gebiete und bat ihn, „dem gedemütigten und niedergetretenen deutschen Volke zu Hilfe zu kommen, sei es durch direkte Unterstützung, sei es durch Vorstellungen bei den Siegermächten“18.
Am 6. Januar 1946 schrieb Bischof von Galen den letzten Brief an Pius XII. – bevor er nach Rom reiste, wo er das Kardinalsbirett erhielt. An jenem Tag wollte er in den Trümmern des Marienheiligtums von Telgte das Dreikönigsfest feiern. Seine Homilie schloß er mit folgenden Worten: „Unter dem Nazismus habe ich folgendes öffentlich gesagt – und das Hitler 1939, als keine Macht eingreifen wollte, um seinem Expansionstreben Einhalt zu gebieten, auch geschrieben: Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Staates; wenn die Gerechtigkeit nicht wieder hergestellt wird, wird unser Volk von innen her verwesen. Und heute muß ich sagen: wenn unter den Völkern das Recht nicht respektiert wird, wird es niemals Frieden und Harmonie zwischen den Völkern geben“19.
Anmerkungen
1 Vgl. Bomben auf Münster, herausgegeben vom Stadtmuseum Münster, Münster, 1983, S.44.
2 Jörg Friedrich, La Germania bombardata, la popolazione tedesca sotto gli attacchi alleati 1940-1945, Mailand 2004, S. 200.
3 Positio super virtutibus beatificationis et canonizationis servi Dei Clementis Augustini von Galen, Bd. II, Documenta, S. 341.
4 Ebd, Bd. I, Summarium, S. 625.
5 New York Times, 8. Juni 1942, vgl. 30Tage Nr. 7-8, SS. 44-53.
6 Vgl. Joachim Kuropka, Clemens August Graf von Galen. Neue Forschungen zum Leben und Wirken des Bischofs von Münster, Münster 1992, in Positio, op. cit., Bd. II, Documenta, S. 1099.
7 Positio, cit., Bd. I, Summarium, S. 209.
8 Sir Charles Webster und Noble Frankland, Strategic AIR Offensive Against Germany, 1939-1945, London 1961, Bd. 5, p. 135.
9 „Eine Kostprobe nicht enden wollenden, intensiven und lang andauernden Feuers, wie es bis heute noch kein Land über sich ergehen lassen mußte“, wie Churchill erklärte, vgl. Dokumente deutscher Kriegsschäden, Evakuierte, Kriegsgeschädigte, Wahrungsgeschädigte. Die geschichtliche und rechtliche Entwicklung, herausgegeben vom Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge, Kriegsgeschädigte, Bonn 1962, Beilage Nr. 2, S. 105. „Eine Agonie, die ohne Erbarmen auferlegt und in extremis fortgeführt wurde, selbst als längst alle, auch der Führer, wußten, daß der Krieg verloren war“, vgl: Joachim Fest, La disfatta, gli ultimi giorni di Hitler e la fine del Terzo Reich, Mailand 2003, S.12.
10 Stephen A. Garrett, Ethics and Airpower in World War II. The British Bombing of German Cities, New York 1997, S. 89-90.
11 Ebd., S. 99.
12 Ebd., S. 111.
13 Ebd., S. 113.
14 Positio, op. cit. Bd. I, Summarium, SS. 429-430.
15 Ebd., SS. 47-48.
16 Ebd., S. 386.
17 Brief von Clemens August von Galen an Pius XII., siehe S.62.
18 Vgl. Peter Löffler, Bischof Clemens August Graf von Galen, Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Band II, Matthias-Grünwald-Verlag, Mainz 1988, S. 1228.
19 Vgl. Positio, cit. Bd. II, Documenta, S. 623.