Depardieu und der Doctor Gratiae
„Ich bin glücklich. Wenn ich ihm vorher begegnet wäre, hätte ich mir Jahre beim Psychiater sparen können.“ So der französische Schauspieler über seine Begegnung mit Augustinus. Und dann liest er – was kaum jemand erwartet hätte – an einem eiskalten Sonntagmorgen im Februar aus den Confessiones vor. Chronik eines ganz besonderen Tages.
von Pina Baglioni
Gérard Depardieu liest in der Kathedrale Notre-Dame von Paris aus den Confessiones des Augustinus vor. Neben ihm, André Mandouze, der betagte Latinist, der dem großen Schauspieler dabei geholfen hat, den Bischof von Hippo zu verstehen.
Cyrano de Bergerac, Danton, Fouché, Jean Valjean, Held der Miserables von Victor Hugo, um nur einige der vielen Rollen zu nennen, die er in seinen mehr als 200 Filmen gespielt hat, sind Lichtjahre entfernt: an diesem regnerischen 9. Februar, einem Sonntag Nachmittag im Jahr der Gnade 2003, ist er nichts weiter als ein Mann von 55 Jahren. Ein Mann, dem das Leben alles und mehr gegeben hat, und der nun, in dieser reifen Jahreszeit seines Lebens einem unvorhergesehenen Umstand Rechnung tragen will, der im Heiligen Jahr 2000 in Rom seinen Anfang nahm: der „Begegnung“, wie er es selber nennt, mit Augustinus durch die Lektüre der Bekenntnisse. „Ich bin sehr glücklich. Wenn ich ihm vorher begegnet wäre, hätte ich mir Jahre beim Psychiater ersparen können,“ hat er zugegeben.
Ganz Paris spricht darüber und findet einfach keine Erklärung. Depardieu wollte die Lesung in Notre-Dame nicht an die große Glocke hängen: Agenten, Pressebüros und Journalisten wurden beiseite gelassen, Depardieu wollte keine Werbung. Die katholische Tageszeitung La Croix war die einzige, der er ein Interview gewährte. Das vom bischöflichen Fernsehsender KTO übertragen wurde.
So überrascht es in der Tat nicht sehr, daß sich im Innern der Kathedrale nur eine kleine, an einer Säule angebrachte Bekanntmachung findet: „Lesung aus den Confessiones von Augustinus. Gérard Depardieu und André Mandouze,“ steht dort zu lesen. Ja selbst die zum Schweigen angehaltenen Beamten im Informationsbüro der Kathedrale beharrten noch eine Stunde vor der Lesung darauf, nichts davon zu wissen.
Gleich kann es losgehen. Die Dunkelheit, in die Notre-Dame getaucht ist, wird nur von sieben flackernden Kerzen und einem riesigen Korb mit weißen Blumen unterbrochen, der auf den Stufen steht, die zu dem kleinen hochmodernen Altar führen. Die Kirche istýzum Bersten voll mit Menschen, die schweigend darauf warten, daß dieser beliebte Schauspieler, den der große Jean Gabin als seinen einzigen Erbe bezeichnet hat, einer der leidenschaftlichsten Autobiographien Stimme verleiht, die jemals geschrieben wurden. Draußen, vor der Kathedrale, warten Tausende von Menschen unter strömendem, eisigem Regen seit Stunden in der vergeblichen Hoffnung, eintreten zu können.
Und da kommt auch schon André Mandouze, der 87jährige Latinist und Religionshistoriker, der in Frankreich als einer der namhaftesten Augustinus-Exegeten gilt. Er setzt sich links neben Depardieu, dann erzählen die beiden fünfzig Minuten lang abwechselnd aus dem Leben und geistlichem Werdegang des Heiligen. In der Zwischenzeit versucht Pater Jean-Yves Riocreux, der Rektor von Notre-Dame, die Leute zum Gehen zu bewegen, die sich einfach auf die den Ehrengästen vorbehaltenen Sitze in der ersten Reihe gesetzt haben. Und da sind sie auch schon: Jacques Lang, ehemaliger sozialistischer Kultusminister, und Bernadette Chirac, die Frau des französischen Staatspräsidenten. Dann noch die Kinder Depardieus: Julie, Guillaume und Roxanne. Und seine derzeitige Lebensgefährtin, die bekannte französische Schauspielerin Carole Bouquet.
Wer Depardieu kennt, kann bestätigen, daß sich die Beziehung zu seinem ältesten Sohn, dem Rebellen Guillaume, deutlich gebessert hat, seitdem er wieder zum Glauben fand. Guillaume, ebenfalls Schauspieler, hat 1991 mit seinem Vater Tous les matins du monde gedreht, einen Film von Alain Corneau. Und seit ein paar Tagen werden in Paris die letzten Details ihres jüngsten Projekts besprochen, das – bezeichnenderweise – Vater und Sohn heißen soll. Und doch kann es Guillaume auch diesmal nicht lassen: seinen Hut nimmt er demonstrativ während der gesamten Lesung nicht ab. Um 15 Uhr 45 erscheint der Kardinal von Paris, Jean-Marie Lustiger. Nachdem Lustiger die Familienangehörigen Depardieus begrüßt, den Schauspieler selbst herzlich umarmt hat, steigt er zum Altar empor, um dieses außergewöhnliche Ereignis vorzustellen: ein Ereignis im Rahmen der von ihm promovierten Kundgebung „Das Jahr Algeriens in Frankreich“. Er erinnert kurz daran, daß „die Gestalt des Augustinus für die universale Zivilisation überaus wichtig“ war. Schließlich erteilt er Depardieu das Wort.
Es ist genau 16 Uhr. „Groß bist du, Herr, und hoch zu preisen..,“ beginnt er mit kaum vernehmbarer Stimme. „Und dennoch preisen will dich der Mensch, ein kümmerlicher Abriß deiner Schöpfung. Du selber reizest an, daß Dich zu preisen Freude ist; denn geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in Dir.“ So beginnt das erste Buch der Confessiones.
Ñer gehofft hat, hier Theateratmosphäre vorzufinden, hat sich getäuscht: Depardieu würde sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen, so bewegt ist er. Vor nicht allzu langer Zeit hat er über die Lesung der Bekenntnisse folgendes gesagt: „Der Zustand der Gemeinschaft und des Gebets ist einer, der mir behagt; ich will mit halblauter Stimme lesen, voller Süße.“ Und in der Tat hat man hier, in Notre-Dame, den Eindruck, daß er es ist, der sich durch die Worte des Augustinus an den Herrn wendet. Dann läßt er, in dieser Art Zwiegespräch mit Mandouze, die Abreise des Heiligen aus seiner Geburtsstadt Tagaste wiederaufleben, die Studienzeit in Karthago, bis zu einem Aufenthalt in Mailand, der Begegnung mit Bischof Ambrosius, der ihn in der Osternacht, vom 24. auf den 25. April des Jahres 387, tauft. Dann noch die Beziehung zu seiner Mutter Monika und deren Tod in Tiber-Ostia, dem römischen Hafen, als sie sich gerade anschickt, zusammen mit ihrem Sohn nach Afrika zurückzukehren. Besonders bewegt ist Depardieu, als er die Stelle vorliest, wo Augustinus von der Ekstase berichtet, die ihn und seine Mutter ergriffen hat: „Da erhoben wir uns mit heißerer Inbrunst nach dem ‚wesenhaften Sein‘; und durchwanderten stufenweise die ganze Körperwelt, auch den Himmel [...]. Und höher stiegen wir auf im Betrachten, Bereden, Bewundern Deiner Werke.“
Knapp eine Stunde später ist alles vorbei. Ein langer, nicht enden wollender Applaus hebt an, Depardieu verneigt sich dankend, bleibt, wie am Anfang, wortlos. Von Leibwächtern eskortiert, strebt er schnellen Schrittes dem Hinterausgang der Kathedrale zu. Vergebens versucht die Menge, ihm zu folgen. Depardieu ist verschwunden.
Ein Glaube, der von weither kommt
In Wahrheit war die Lesung der Confessiones in Notre-Dame nicht die erste. Depardieu hatte das – vor wenigen Freunden – schon in der Kirche von Saint-Sulpice getan, am 12. Januar. Genaugenommen bei der Beerdigung eines Freundes, des 77jährigen Regisseurs Maurice Pialat. Bei diesem Anlaß hatte der Schauspieler die Passage „Schmerz über den Tod eines Freundes“ aus dem vierten Buch gewählt, in dem Augustinus den Schmerz beschreibt, den er beim Tod eines geliebten Freundes empfunden hat. Unter der Regie Pialats hatte Depardieu 1985 den Film Police gedreht, für den er bei den Filmfestspielen in Venedig als bester Schauspieler ausgezeichnet worden war. Der Freund war sozusagen sein alter ego: so temperamentvoll, leidenschaftlich, sensibel und begierig Depardieu selbst jedem Aspekt des Lebens gegenüber ist, so verschlossen, gegen den Strom schwimmend dagegen war Pialat – ja selbst seine Art, Filme zu machen, fiel auf Unverständnis: für den Geschmack der Masse schlugen seine Filme allzu sehr auf den Magen. Die Freundschaft zwischen den beiden war während der Arbeiten zu Sous le soleil de Satan im Jahr 1987 besonders eng geworden. Jenem Film, der auf einem Roman von Georges Bernanos basierte und für den Depardieu in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden war. Die von ihm gespielte Figur des Reverend Donissant hatte bei dem französischen Schauspieler einen so tiefen Eindruck hinterlassen, daß er sogar begonnen hatte, sich mit dem Werk Bernanos’ zu befassen.
Die beiden Freunde hatten danach oft über Gott diskutiert, über den Ursprung des Bösen und andere Aspekte des Glaubens. Wie wankelmütig doch der Ruhm der Welt sein könne. Pialat sollte Depardieu diesbezüglich eine große Hilfe sein, als letzterer am 4. Februar 1991 – kurz vor der Oscar-Verleihung für seine Darstellung des Cyrano de Bergerac – Opfer einer wahren Hetzkampagne der amerikanischen Zeitschrift Time wurde. In einem von Richard Carliss gezeichneten Artikel standen angeblich von dem Schauspieler gemachte Äußerungen zu lesen: so hätte er sich im Alter von neun Jahren zum ersten Mal an einer Vergewaltigung beteiligt, andere wären gefolgt. Der erbarmungslosen Verleumdungskampagne war es zu verdanken, daß Depardieu bei der Oscar-Verleihung leer ausging. Einige Zeit später gelang es dem Journalisten Paul Chukrow, die Wahrheit ans Licht zu bringen: anhand der Aufzeichnung des Interviews konnte er beweisen, daß hier bei der Übersetzung vom Französischen ins Englische „Hand angelegt“ worden war. In Wahrheit hatte der Schauspieler nämlich nur gesagt, daß er Zeuge einer Vergewaltigung geworden sei, was ihn derart angewidert hätte, daß er den Wunsch verspürt hatte, seiner Heimatstadt Châteauroux auf immer den Rücken zu kehren.
Gewiß, Depardieus Jugend war alles andere als ein Zuckerlecken: im Alter von 13 Jahren ging er von der Schule ab, am Katechismus nahm er schon vor der Erstkommunion nicht mehr teil. Besser gesagt: man wollte ihn nicht mehr dabei haben, weil er ständig den Unterricht störte. „Ich war begierig darauf, das Leben in vollen Zügen auszukosten. Hatte den brennenden Wunsch, alles kennenzulernen, alles zu verstehen,“ erzählt Depardieu. In den Fünfzigerjahren, damals, als die Kinder der Armen nicht mit denen der Reichen spielen durften, konnte er am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ausgegrenzt zu sein. Sein Vater, ein Klempner, war Analphabet und hatte sechs Kinder großzuziehen. „Ich war wie wild wachsendes Kraut, doch stets von dem Wunsch beseelt, Gutes zu tun. Ich war nicht praktizierender Katholik, hatte stets die Präsenz des Geheimnisses in mir. Ohne es anzuerkennen, ja, ohne es zu wissen, hatte ich den Glauben. Wenn Glauben bedeutet, alles leben, sehen, erfassen zu wollen.“
Die Beziehung zu seinen Eltern war keine gute: zuviele Verbote, zuviele Einschränkungen. So riß er schließlich von zuhause aus, verließ seine Heimat Châteauroux im Alter von nur 13 Jahren – auch wegen der ständigen Zwistigkeiten mit den amerikanischen Soldaten des dortigen NATO-Stützpunktes. In Paris wollte er sein Glück versuchen. Er zog bei drei Freunden ein, die sich im Gegensatz zu ihm eifrig hinter die Bücher klemmten. Der junge Depardieu dagegen hatte damit nicht viel am Hut, auch wenn er selbst später zugeben sollte, daß gerade zwei Bücher, die einzigen, die er gelesen hatte, in jener Zeit sein einziger Leitfaden waren: Le chant du monde von Jean Giono und die Erzählungen eines russischen Pilgers, die ein unbekannter russischer Mönch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben hat. Zu letzterem weiß er zu berichten: „Es war im wesentlichen ein Gebetsbuch. Ein Buch, das mir in dieser schwierigen Zeit das Leben gerettet hat. Mit 13 Jahren hatte ich aufgrund einer pathologischen Hyperemotivität die Fähigkeit verloren, mich auszudrücken, meine Gedanken in Worte zu fassen. In gewisser Hinsicht ein wahres Glück. Und so, um der Angst Herr zu werden, flüchtete ich mich in die Worte dieser Gebete. Die das auszudrücken vermochten, was ich fühlte, aber nicht in die richtigen Worte zu kleiden verstand. Wie oft befand ich mich nachts allein auf der Straße, um Autostopp zu machen, und die Geräusche der Tiere und der Natur um mich herum jagten mir Angst ein! Ich hatte Angst vor Überraschungen, davor, überrascht zu werden. Man hat immer Angst, überrascht zu werden. Und so wiederholte ich im Stillen ein Stoßgebet aus den Erzählungen eines russischen Pilgers, in dem es hieß: ‚Herr Jesus, erbarme dich meiner!‘. Und als ich diese Worte so einsog, verschwand meine Angst. Ich hatte den Glauben, ohne es zu wissen. Auch heute, wenn mich wieder einmal Sorgen und Zweifel übermannen, wiederhole ich dieses Stoßgebet.“ Er erzählt, daß er auch später, als er begann, mehr zu lesen, dabei immer einem einzigen Kriterium folgte: „Ich suchte die Worte des Glaubens. Ich war immer in Erwartungshaltung, suchte nach dem, was hinter den Worten steckt, dem, was ich das Sein nenne. Danach suchte ich, wenn ich Baudelaire las, Rimbaud und Michaux.“
Doch das alles ist nicht genug. Die Jahre verstreichen, doch eines bleibt trotz all dem Ruhm, Erfolg, den vielen Frauen, zahllosen Filmen: er verspürt immer noch dieselben Fragen, dieselbe Unruhe, Angst, Suche nach etwas in sich. Hilfe suchte er in der Analyse, geht 20 Jahre lang zum Psychiater. Dieser ist „ein Mann voller Energie, wie André Mandouze. Ich weiß nicht, ob er gläubig ist, aber wir haben uns oft stundenlang über die dem Spirituellem gewidmete Aufmerksamkeit unterhalten. Und für mich, als Schauspieler, kam das erhabenste Beispiel aus der griechischen Tragödie.“ Therapie und griechische Tragödie sollten ihm also die Hilfe geben, die ihm offensichtlich von anderen Seiten vorenthalten wurde. Doch dann, im Mai 2000, kommt er mit einem dritten Buch in Berührung, das ihm eine unersetzliche Hilfe sein soll: die Confessiones von Augustinus.
Alles beginnt in Rom
Ende April des Jahres 2000. Auf dem Weg zum Filmfestival von Cannes macht Gérard Depardieu in Rom Station. Um die letzten Szenen des Films von Ettore Scola, Concorrenza sleale, zu drehen, aber auch, um an dem Konzert zum 1. Mai teilzunehmen, das anläßlich des Heiligen Jahres der Künstler im Vatikan gegeben wird.
Der Kardinal von Paris, Jean-Marie Lustiger, begrüßt den Schauspieler. Die Lesung aus den Confessiones fand im Rahmen der Kundgebung „Das Jahr Algeriens in Frankreich“ statt.
Dann sagt Depardieu etwas sehr Wichtiges: „Und dann bin ich schon jetzt vom Leben des Augustinus fasziniert, auch wenn ich es noch gar nicht kenne.“ Und hier scheint sich der Kreis zu schließen: der Päpstliche Rat für die Kultur trägt sich nämlich bereits seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, eine Fernsehserie über den Bischof von Hippo zu drehen. Sogar der Regisseur steht schon fest: der Algerier und Muslim Rachid Benhadj. Und der Drehbuchautor: kein Geringerer als Kardinal Poupard selbst. Auch an die Produktion ist schon gedacht: Lux Vide von Ettore Barnabei. Und wenn Augustinus das Gesicht und das Charisma eines Gérard Depardieu haben könnte – umso besser! Kardinal Poupard fragt den großen Schauspieler also kurzerhand, ob er bereit wäre, den Augustinus zu spielen.
Depardieus Neugier ist geweckt. Er verspricht dem Kardinal, darüber nachzudenken. Er verläßt den Vatikan, und als er mit seiner Lebensgefährtin Carole Bouquet durch die Straßen Roms spaziert, hält diese kurzerhand bei einem Buchladen inne und kauft ihm eine französische Version der Confessiones. Die, die er dann mit nach Cannes nimmt. „Seit ich dieses Buch in die Hände bekommen habe, konnte ich mich einfach nicht mehr davon losreissen. Ich lese jeden Tag darin. Augustinus beeindruckt mich, weil er Gott duzt,“ soll er wenige Zeit später sagen.
In Algerien, auf den Spuren
des Augustinus
Der September des Jahres 2001 steht ganz im Zeichen der schrecklichen Attentate in New York. Depardieu läuft Gefahr, im mare magnum der Schriften des Augustinus zu ertrinken, kann einfach nicht mehr davon lassen. Da erfährt er, daß in Algerien, dem Geburtsland des Heiligen, gerade eine internationale Studientagung zu Augustinus angelaufen ist, die von dem algerischen Präsidenten und großen Bewunderer des Bischofs von Hippo, Abdelaziz Bouteflika, organisiert wurde. Er überlegt nicht lange und reist kurzerhand nach Algerien. Er bewundert den Mut Bouteflikas, die namhaftesten Experten nach Algerien einzuladen, um über eine so herausragende christliche Persönlichkeit wie Augustinus zu sprechen – und das in einem Moment deutlicher Verschärfung der religiösen Integralismen.
Bei dieser Reise hat er auch Gelegenheit, einen Freund des algerischen Präsidenten kennenzulernen, André Mandouze, der als einer der besten Augustinus-Kenner gilt. Zwischen dem Schauspieler und dem betagten Latinisten, der seit fünfzig Jahren darum kämpft, daß die Schriften des Doctor Gratiae in den französischen Kirchen gelesen werden, entsteht sofort eine freundschaftliche Beziehung. Die gemeinsame Leidenschaft für den Kirchenvater ermöglicht Depardieu eine größere Vertrautheit mit dessen Schriften. Die beiden ergänzen sich perfekt: dank Mandouzes Hilfe schafft es Depardieu, der schon in jungen Jahren die Schule verlassen hat, etwas ans Tageslicht kommen zu lassen, was in ihm schlummerte, dem er aber keinen Namen geben konnte: den Glauben. „Augustinus ist das ‚warum‘. Wenn man sich mit den Confessiones beschäftigt, erkennt man, daß es sich um ein durch und durch modernes Werk handelt. Eines, das abseits steht von der ganzen Konfusion, von der unsere Zeit geprägt ist. Es ist der Beweis dafür, daß Worte den Glauben nicht erklären: der Glaube ist ein Zustand, etwas Lebendiges. Wie der des Augustinus, der – wie man das mit einem Freund tut – dem Herrn sogar zürnt,“ meint Depardieu. Und wagt dann folgende Überlegung: „Meiner Meinung nach funktioniert da etwas in der katholischen Kirche nicht. Meiner Meinung nach entfernt sie die Leute vom Katholizismus. Nehmen wir die Liturgie: zuviele unnötige Worte, zuviel Lärm, zuviel Konfusion – das ist dem Gebet, dem Sammeln, der Meditation alles andere als zuträglich. Es stört mich, bereitet mir Unbehagen. Als würden nicht schon das Jahrhundert, die Massenmedien genug dazu beitragen, uns von der Kirche zu entfernen. Ich habe darüber schon vor Jahren mit einem Priester gesprochen, aber auch der konnte mir keine Antwort geben. Mit Augustinus verhält es sich ganz anders: mit ihm macht man die Erfahrung von etwas Lebendigem, er spricht zu uns, spricht wirklich zu uns.“
Und gerade hier in Algerien erwacht in ihm auch der Wunsch, Kirchen, Synagogen, Moscheen zu besuchen, sogar in der Wüste. Ohne die Werbetrommel zu rühren, ohne Geld und Aufsehen. Einfach nur um Einlaß bittend, ohne irgendetwas umzustülpen, zu stören, um im Kerzenschein aus den so geliebten Confessiones zu lesen. Wo sich die Leute versammeln können, um „sich die Frage zu stellen, den eigenen Glauben aufzufrischen, das Herz zu öffnen. Dort, wohin die Leute nicht kommen, um zu sehen, wie gut ich vortragen kann, sondern um zu ‚lauschen‘. Hinter den Worten steckt die Formulierung, und hinter der Formulierung ist der Ort, woher die Worte kommen: von einem Mann, der das Leben ausgekostet, der gezweifelt, sich befreit hat, der aus der Dunkelheit in das Licht des Absoluten tritt, und das in einer vollkommen unentgeltlichen, normalen Art und Weise. Augustinus ist einer, der lebt.“ Hier also hat die Lesung am 9. Februar in Notre-Dame in Paris ihren Ausgang genommen.
Das verworfene Filmprojekt
In der Zwischenzeit ist der Plan, einen Film über Augustinus zu drehen, verworfen worden. „Nachdem ich die Confessiones gelesen habe, habe ich abgelehnt. Man kann keinen Film über ihn machen: das würde die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen auf das Anekdotische lenken. Wir müssen in die Confessiones eintreten, den in uns widerhallenden Worten lauschen, in eine andere Wahrheit eintreten. Schauspielern ist mein Metier, ich kann Obelix sein oder Napoleon, ich habe das hundertmal getan. Augustinus aber könnte ich nie spielen, denn in der Begegnung mit ihm habe ich die Antwort auf ein größeres Bedürfnis gefunden. Er ist mein Glaube, meine Lebensquelle, die Wahrheit. Aus ihm ziehe ich die Kraft, die mich aufrecht hält, die Freude. Denn auch als ich das, was ich fühlte, was ich suchte, noch nicht in Worte kleiden konnte, war es doch schon da. Einen Film über Augustinus hätte nur ein Pier Paolo Pasolini machen können: einer, der anhand von Bildern das Wort vermittelt hätte.“
Wer ihn fragt, ob er nach seiner Begegnung mit Augustinus einen anderen Maßstab bei der Auswahl seiner Filme anlegen würde, antwortet er mit nein. „Auch Augustinus hat in seinem Leben verschiedene Phasen durchgemacht. Er lebt in Gemeinschaft mit dem Herrn, aber auch mit den anderen. Er weiß sehr wohl zwischen dem zu unterscheiden, was monströs ist und dem, das es nicht ist. Ich war vor kurzem in einem Gefängniskrankenhaus voll mit Verbrechern, Mördern, ja sogar Kindesmördern. Im Leben darf es keine Zensur geben: nicht in dem Sinne, daß man alles erlebt haben muß. Aber in dem, daß man keine Angst haben darf, die Realität so zu akzeptieren, wie sie ist, ohne auch nur irgendetwas auszulassen.“