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HEILIGE, NUR NICHT DEM...
Aus Nr. 03 - 2003

Fra Tommaso von Olera


Obwohl er noch nicht zur Ehre der Altäre erhoben wurde, ist die Erinnerung an diesen Mönch aus dem 16. Jahrhundert immer noch lebendig. Er konnte weder lesen noch schreiben, und doch erkannte das einfache Volk in ihm eine außergewöhnliche Demut und Güte, die Mächtigen jene Weisheit, die nur die Gnade eingibt. Seine gesammelten Werke gehörten zur Lieblingslektüre von Johannes XXIII.


von Giovanni Ricciardi


Heilige werden, wie man weiß, oft schon vor ihrer Heiligsprechung vom christlichen Volk verehrt. Nicht immer stehen sie in einem so universalen Ruf der Heiligkeit wie Padre Pio oder Papst Johannes XXIII., aber die Dynamik bleibt doch stets die gleiche, wenn auch sozusagen „in einem kleineren Rahmen.“ So darf es nicht überraschen, wenn ein einfacher, im 16. Jahrhundert geborener Mönch, im Tal von Bergamo noch heute verehrt und angerufen wird – obwohl er noch gar nicht heiliggesprochen ist. Die Rede ist von Fra Tommaso Acerbis von Olera, einer kleinen Ortschaft im Seriana-Tal.
ýOlera: eine Handvoll armseliger Häuschen in 523m Höhe, umgeben von Bergen und untermalt vom fröhlichen Geplätscher des hier entlangfließenden Flusses. Ein schmaler Weg über enge, steinerne Stufen führt mich mitten in die Ortschaft. Ich nähere mich zwei sichtlich fröstelnden, in dicke Schals gehüllten Frauen und frage sie, ob sie jemals von Fra Tommaso gehört hätten. ‚Oh, der selige Tommaso!‘, rufen sie fast freudig aus, und beginnen, mir von ihm zu erzählen, als wäre er ein alter Bekannter – und ich kann nichts anderes tun, als ihnen mit wachsender Begeisterung zuzuhören.“
Soweit die Notizen des Kapuzinerpaters Fernando von Riese, der 1962 nach Olera kam, um dort Material über Fra Tommaso zu sammeln. Ein Jahr später jährte sich sein 400. Geburtstag, und die Kapuziner trugen sich mit dem Gedanken, die Seligsprechung Fra Tommasos voranzutreiben. Pater Fernando konnte sich über die lebendige Erinnerung, die die Leute – noch 400 Jahre später! – hier an ihn bewahrt hatten, nur wundern.
„Ich hätte niemals gedacht, daß man sich in Olera noch an den Kapuzinerpater Fra Tommaso Acerbis erinnern würde. Diesen Mönch, der im Alter von 17 Jahren (man schrieb das Jahr 1580) seinen Heimatort verließ, um den Rest seines Lebens in Kapuziner-Klöstern zu verbringen, und der es so wunderbar verstanden hatte, das Klosterleben mit dem auf den Straßen Norditaliens und Tirols zu vereinen.“
An der Fassade des mittelalterlichen Gebäudes, in dem heute die Nachkommen des verarmten Adelsgeschlechts der Acerbis wohnen, ist noch das Familienwappen zu erkennen. Hier wurde gegen Ende des Jahres 1563 der spätere Fra Tommaso geboren. Damals, als sich auch das Konzil von Trient seinem Ende zuneigte und über Europa gerade der Sturm der Reformation hinwegfegte. Bergamo und das Seriana-Tal gehörten damals zum Territorium der Republik Venedig. Im Jahr 1580 klopfte der 17jährige Tommaso an das Tor des Kapuzinerklosters von Verona – seiner Kirchenprovinz –, um es dem heiligen Franziskus gleichzutun. Die Berufung Tommasos, der keinerlei Bildung besaß, war gereift, als er Schafe geweidet und in Armut mit seiner Familie gelebt hatte. Seine Schulbildung bestand lediglich in den drei, in Verona zugebrachten Noviziatsjahren, in denen ihn seine Oberen im Schreiben und Lesen unterrichtet hatten – ein Verstoß gegen die Regel des Franziskus, der es ausdrücklich untersagt hatte „diejenigen, die nicht der Schreibkunst mächtig sind, in dieser zu unterrichten.“
Und doch verfaßte gerade er, der Ungebildete, Traktate über Mystik und Askese, die viele Jahre nach seinem Tod gesammelt, und im Jahr 1682 unter dem Titel Fuoco d´amore (zu deutsch: Feuer der Liebe) veröffentlicht wurden. Ein Text, der in Kürze in einer kritischen Ausgabe herausgegeben werden wird. Und auch ein Buch, das ein anderer Bergamaske mit wahrer Begeisterung zu lesen pflegte: Angelo Roncalli.
„Ich weiß noch zu gut, wie sehr sich Papst Johannes freute, als ihm ein Innsbrucker (Josef Mitterstiller) am 24. November 1959 das Buch Fuoco d´amore von Fra Tommaso aus Olera schenkte.“
So Msgr. Loris Capovilla, damaliger Sekretär von Papst Johannes XXIII.
„Der Papst war sicher, daß es sich bei dem Verfasser um einen alten Bekannten handelte, jenen Laienbruder, dessen Leben und Werke ihm so vertraut waren, und der in Südtirol überaus bekannt war. [...] Papst Johannes konnte von diesem Buch gar nicht genug bekommen: es lag immer griffbereit auf seinem Tisch, zusammen mit seinen Gebets- und Meditationsbüchern. Er las mir oft lange Passagen daraus vor, kommentierte sie, voll des Lobes für den von ihm verehrten, frommen Verfasser. [...] Er sagte, daß Fra Tommaso zweifellos vom Geist des Herrn geleitet worden war, als er diese so klaren, so sehr mit der rechten Lehre im Einklang stehenden Seiten niedergeschrieben hatte.“
Obwohl er in der in Verona verbrachten Noviziatszeit eifrig studierte, blieb sein Italienisch ein überaus einfaches, so manche grammatikalische Schwäche aufweisendes. Doch die von ihm verfassten Schriften weisen eine überraschende spirituelle Tiefe und lehrmäßige Exaktheit auf. Einer seiner Mitbrüder, Fra Ilarione aus Mantua, merkte dazu an:
„Oft konnte ich beobachten, wie er sich nach der Kommunion in seine Zelle zurückzog und Meditationen über das Leben und die Passion des Herrn schrieb; und wenn er mir seine spirituellen Werke dann später vorlas, gestand er mir [...], daß er selber nicht verstand, wie er diese zu Papier hatte bringen können.“
Sein ganzes Leben lang beschäftigte er sich mit einfachen Dingen, „sammelte Almosen, wusch das Geschirr ab, kümmerte sich um Küche und Schrebergarten,“ wie er selbst schrieb. Und ähnelte dabei so sehr jenem Fra Galdino aus Manzonis Brautleuten, der – ebenfalls hier in der Lombardei, zwischen Bergamo und Lecco –, an Lucias Tür klopft und das hübsche „Gleichnis“ vom „Wunder der Nüsse“ erzählt. Aber während Fra Galdino in Manzonis berühmtem Roman nur eine Nebenrolle spielt, sollte sich Fra Tommaso trotz seiner Rolle des einfachen suchenden Mönches zu einer der außerordentlichsten Persönlichkeiten seiner Epoche mausern.
Durch seinen definitiven Eintritt in den Kapuzinerorden im Jahr 1583 kam er nach Verona, wo er bis 1605 blieb. Danach machte er in verschiedenen Städten Venetiens Station: Vicenza, Padua, Rovereto – bis zum Jahr 1619. Wohin er auch kam stand er schon bald im Ruf, ein „Apostel ohne Stola“ zu sein. Er besuchte Kranke, wirkte als Vermittler bei so mancher Zwistigkeit, klopfte bei Reich und Arm an die Tür, um das Evangelium zu bringen: das Volk erkannte schon bald, welch große Demut und Güte er besaß, die Mächtigen dagegen sahen diese von der Gnade eingegebene Weisheit in einem Mann, der keine Bildung hatte und doch Rat zu geben, zu korrigieren, zu führen und Trost zu spenden verstand. Die Quelle dieser Weisheit war nichts anderes als der Blick, der stets auf das Kruzifix gerichtet war, wie es der reinsten franziskanischen Tradition entspricht. „Nie habe ich auch nur eine Silbe gelesen,“ schrieb er selbst einmal, „und doch bemüh´ ich mich, die Passionsgeschichte Christi zu lesen.“
Auch Erzherzog Leopold V. war zu Ohren gekommen, daß Fra Tommaso im Ruf der Heiligkeit stand: Er holte ihn 1619 nach Tirol, damit er dort ein Exempel statuieren und mit seinem Predigen dem lutherischen Einfluß in diesen Landen Einhalt gebieten konnte. Inýden 12 Jahren, die Fra Tommaso in Innsbruck zubrachte – genaugenommen bis zum Jahr seines Todes 1631 – wurde er der einflußreichste Berater des Erzherzogs und mehrfach sogar vom Kaiser selbst, Ferdinand II., empfangen. Darüber hinaus war er auch geistlicher Berater der Erzbischöfe von Trient und Salzburg, denen er dabei half, den besten Weg für die Umsetzung der Reformen des Konzils von Trient in ihren Diözesen zu finden. All das, ohne jemals seine täglichen Pflichten zu vernachlässigen, den Kontakt mit dem einfachen Tiroler Volk. Die Menschen nannten ihn damals den „Bruder von Tirol.“ Fra Tommaso sollte seine Heimat nie wiedersehen. Doch gerade dort, im Seriana-Tal, hat er seine Fürsprache am meisten spüren lassen – und das auch in jüngster Zeit.
„Wie das von Tal zu Tal widerhallende Glockenecho wurde, über mehr als vier Jahrhunderte hinweg, von Generation zu Generation, unter den Bewohnern von Olera die Verehrung für ihren Landsmann weitergegeben,“ schrieb Pater Fernando von Riese. „Sie riefen ihn an in jeder Zeit von Jahr und Leben, und baten ihn im Gebet, jedes Übel von ihrer Stadt abzuwenden. Er war für sie wie ein Freund, der beste, ‚wie ein von Gott gesandter Engel‘, wie es in einer mittelalterlichen Quelle heißt.“
Pater Fernando von Riese war der erste Vizepostulator des Seligsprechungsprozesses und sammelte zahlreiche Zeugenberichte über die Fürsprache Fra Tommasos für seine Landsleute.
„Im September 1692 lag die 24jährige Renata Zanchi mit dem Kindbettfieber darnieder. Ihr Zustand war überaus kritisch. Die Ärzte hatten keine Hoffnung mehr. Die Kranke selbst hatte sich in ihr Schicksal gefügt, war davon überzeugt, ihre letzte Stunde hätte geschlagen. Ihre Verwandten ließen jedoch sofort zu Ehren von Fra Tommaso eine Messe lesen, und die junge Frau war alsbald vollkommen geheilt.“
So ein von dem damaligen Pfarrer von Olera, Don Franco Cavalieri, mündlich weitergegebener Zeugenbericht. In der Kirche sind neben dem Gemälde, der „realistischen Darstellung des großen Dieners Gottes, Fra Tommaso, Laie des Kapuzinerordens von Olera“, der vor der Muttergottes kniet, Votivherzen und -Tafeln zu sehen.
In seinem täglichen Bestreben, den katholischen Glauben zu verteidigen und gegen Calvinismus und Lutheranismus vorzugehen, am Hof wie bei den einfachen Leuten, gelang es Fra Tommaso, die Tiefen des Geheimnisses Mariens intuitiv zu erfassen, wie seine Schriften immer wieder beweisen. Darin findet sich übrigens ein deutlicher Vorausgriff auf die Formulierung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis. Und nicht nur in den Schriften.
Im Tiroler Volders, am Ufer des Inn, erhebt sich eine der Unbefleckten Empfängnis Mariens geweihte Kirche. Gewollt hatte sie Fra Tommaso, beenden konnte den Bau dreiundzwanzig Jahre nach seinem Tod Ippolito Guarinoni, Hofarzt in Innsbruck, geistlicher Sohn und enger Freund Fra Tommasos. Man schrieb das Jahr 1654, genau 200 Jahre vor der Proklamation des Dogmas durch Pius IX.
Vielleicht war das der Grund, warum Johannes XXIII. die Schriften des Fra Tommaso so liebte, so sehr, daß er sie noch auf seinem Totenbett als geistliche Lektüre hören wollte. Msgr. Capovilla schrieb dazu:
„In den letzten Tagen seines Lebens, besonders, als er bettlägrig wurde – am 20. Mai 1963 – wollte Papst Johannes, daß wir – der Krankenpfleger Fra Federico Bellotti, die jungen Helfer Guido und Giampaolo Gusso und ich selbst – ihm abwechselnd aus der Imitazione di Cristo, dem Brevier und anderen frommen Schriften, aber auch lange Passagen aus dem Fuoco d´amore vorlasen. Jedem, der zu ihm kam, berichtete er, welche Wohltat diese Lektüre für ihn sei, angefangen bei seinem Beichtvater, Msgr. Cavagna, ja sogar den Ärzten, den Schwestern und dem Dienstpersonal.“
Die in Fuoco d´amore von Fra Tommaso gesammelten Traktate sind aus vielerlei Hinsicht interessant. Die sieben dem Herzen Jesu geweihten Kapitel beispielsweise, die die Offenbarungen Jesu an die hl. Margherita Maria Alacoque um dreißig Jahre vorwegnehmen. Offenbarungen, die in der westlichen Spiritualität der letzten Jahrhunderte eine bedeutende Rolle spielen sollten.
™ie langen Meditationen zum durchbohrten Herzen Jesu erinnern an das Werk eines anderen großen Bergamaskers: Caravaggios Gemälde zum ungläubigen Thomas (L´incredulità di Tommaso). Der ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammende Caravaggio war nicht nur ein Zeitgenosse Fra Tommasos – auch er pflegte sowohl in einfachsten als auch höchsten Kreisen zu verkehren.
Das war auch der Grund dafür, warum der Bischof von Bergamo, Roberto Amadei, im Jahr 2000 in einem offenen Brief an den Papst seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, Fra Tommaso – dessen „heldenhafte Tugenden“ im Jahr 1987 erklärt wurden – möge alsbald seliggesprochen werden. Im Moment ist das von wissenschaftlichen Daten untermauerte Ergebnis der Untersuchung einer Wunderheilung abzuwarten. Doch das Volk von Olera hat keinen Zweifel daran, daß seine Fürsprache nunmehr seit mehr als 400 Jahren das ihre tut.
„Wann immer wir Leute als Olera zu Fra Tommaso befragten,“ weiß Pater Fernando von Riese zu berichten, „sprachen sie voller Verehrung von ihm, war deutlich der Glaube an seinen Beistand zu erkennen. Und alle nannten ihn fast schon automatisch ‚den sel. Fra Tommaso‘. Ich war angenehm überrascht, welch lebendige Erinnerung man an ihn zu haben schien. Am folgenden Morgen – ich wollte gerade abreisen – kam der Pfarrer mit einer gewissen Frau Orsola Acerbis, geborene Schiavi, zu mir, die mir folgendes berichtete: ‚Seit 17 Jahren bete ich jeden Tag neun Ehre sei dem Vater zum sel. Tommaso. Der sel. Tommaso hat einem Sohn von mir das Leben gerettet. Er heißt Romano und ist jetzt 20 Jahre alt. Im Januar 1960 stellte sich bei ihm plötzlich eine halbseitige Lähmung ein: er konnte sein linkes Bein und seinen linken Arm nicht mehr bewegen. Als man ihn in Bergamo ins Krankenhaus brachte, ging ich sofort in unsere Kirche, kniete vor dem Altar nieder, über dem das Gemälde hängt, auf dem der sel. Tommaso vor der Jungfrau Maria kniet. Ich hob ein Hemd meines Sohnes hoch und flehte den Seligen an, mir seine Gnade zu erweisen. Dann ging auch ich ins Krankenhaus. Das gesegnete Hemd nahm ich mit. Nachdem ich es meinem Sohn angezogen hatte, sah ich, wie etwas Merkwürdiges mit ihm vor sich ging. Er konnte auf einmal die linke Hand bewegen, dann den Arm, und schließlich auch das Bein. Nach ein paar Tagen war er vollkommen geheilt und konnte nach Hause zurückkehren. Seither geht es ihm gut, er kann seiner Arbeit nachgehen, hat nie wieder Beschwerden gehabt.‘ Als Beweis für das, was sie mir da erzählt hatte, rief sie ihren Sohn und stellte ihn mir vor: einen hochgewachsenen jungen Mann mit gesunder Gesichtsfarbe. Und auch er berichtete mir, daß er jeden Tag zu seinem Wohltäter bete. Auf der Rückkehr in mein Kloster in Padua mußte ich daran denken, daß es der verehrungswürdige Fra Tommaso von Olera nicht nur verdient, als illustre Persönlichkeit einer fernen Zeit bekannt zu werden [...], sondern auch – und vor allem – geliebt und angerufen werden muß: wie man das eben mit einem Heiligen tut, bei dem man sicher sein kann, gehört und erhört zu werden.“








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